Astrid Lienhart – «Ich verstehe mich in erster Linie als Konfliktlöserin.»

Arbeitsrecht

Astrid Lienhart ist Rechtsanwältin und Fachanwältin SAV Arbeitsrecht bei Rechtskraft Advokatur in Zürich. Sie arbeitet ausserdem seit mehreren Jahren als Head Legal bei Verity AG, einer international tätigen Deep-Tech-Unternehmung.

Wo liegen im Moment Ihre Berührungspunkte mit dem Arbeitsrecht?

Überall. Anwältin macht man nicht als Beruf, man «ist» es. Wie eine Ärztin oder ein Arzt auch. Egal, wohin ich komme, wenn die Leute hören, was «ich bin», kommen die Fragen. Vor allem zum Arbeitsrecht, das betrifft ja fast alle. Spass beiseite: Ich arbeite im Rahmen meiner Anwaltstätigkeit viel auf dem Gebiet des Arbeitsrechts.

Wann sind Sie das erste Mal mit dem Arbeitsrecht in Kontakt gekommen?

Das war bereits im Studium. Ich habe eine Arbeit in Arbeitsrecht zum Thema der Abgeltung von Ferienansprüchen in Geld geschrieben, übrigens bei Prof. Thomas Geiser, der heute auch immer noch aktiv ist.

Was sind Ihre alltäglichen Herausforderungen zum einen in der anwaltlichen Praxis und zum anderen als Head Legal in einem Start-up?

In der anwaltlichen Praxis ist es wohl vor allem das «expectation management». Insbesondere Arbeitnehmende, welche eine Kündigung erhalten haben, sind anfangs oft sehr aufgebracht und wollen «so viel wie möglich» rausschlagen. Kürzlich hatte ich tatsächlich eine Person am Telefon, welche einen siebenstelligen Betrag als Ziel vor Augen hatte. Diesen Personen klar zu machen, dass solche Vorstellungen im Schweizer Arbeitsrecht keine Grundlage haben, finde ich manchmal nicht einfach. Denn viele sind so überzeugt von ihren Vorstellungen, dass sie einen Anwalt für schlecht halten, wenn er ihre Meinung nicht teilt.

Im Start-up mache ich nur Arbeitsrecht, wenn es bei einer Trennungssituation mehr als die alltäglichen Probleme gibt. Sonst bin ich dort vor allem an der Verhandlungsfront im Einsatz, indem ich alle Verträge sowohl mit unserer internationalen Kundschaft als auch mit den Zulieferern redigiere bzw. aushandle. Dort ist immer alles auf den allerallerletzten Drücker, also wenn unsere Leute schon fast im Flieger sitzen, dass wir uns auf die stets umkämpften Haftungsmechanismen einigen. Verhandlungstechnisch ist es v.a. mit den Amerikanern extrem spannend, und ich profitiere auch für die hiesigen Verhandlungen viel davon.

Gibt es eine berichtenswerte Episode aus Ihrer Tätigkeit im Bereich Arbeitsrecht? Was macht diese so besonders?

Woran man vielleicht nicht in erster Linie denkt, wenn es um Arbeitsrecht geht, ist, dass man oft Menschen in einer Krise begleitet. Und diese Krisen haben viel mehr Aspekte als nur monetäre. Viele Klientinnen und Klienten waren vor Ausbruch des Konflikts während Monaten oder sogar Jahren sehr belastenden Umständen ausgesetzt, in welchen sie sich gedemütigt und nicht ernst genommen fühlten. Wenn der Konflikt dann ausbricht, gehen die Emotionen sehr hoch. Bei solchen Klienten ist es manchmal ein Ziel, dass sie sich endlich nicht mehr so ausgesetzt und ohnmächtig fühlen. Berichtenswert in diesem Zusammenhang ist vielleicht eine Sitzung, an die ich kürzlich eine Klientin begleitet habe. Sachlich oder rechtlich war der Outcome dieser Sitzung gleich null, aber wir haben sie sehr gut vorbereitet und dann mit Methoden aus der Verhandlungstechnik gemeinsam so gelenkt, dass wir der Gegenpartei die Oberhand entziehen konnten. Es hat zwar gekracht, dass die Wände gewackelt haben, aber meine Klientin ist danach gefühlt zum ersten Mal in einer Position der Stärke rausgelaufen. Wir hatten es geschafft, die Vorzeichen umzukehren. Der Effekt war so durchschlagen, dass die Arbeitgeberin sich danach urplötzlich an alle Spielregeln gehalten hat. Meine Klientin wurde nie mehr unangemessen behandelt. Dieser Moment war für sie ein Gamechanger, der weit über diese Situation hinaus nachhaltige Wirkungen hat.

Was sind Ihrer Meinung nach die grössten Stärken und Schwächen im Schweizer Arbeitsrecht/Arbeitsmarkt?

Die grösste Stärke finde ich das liberale Kündigungsrecht. Die grösste Schwäche ist die Sperrfristenregelung (Stichworte: pro Krankheit eine volle Sperrfrist, keine maximale Sperrfrist pro Zeitperiode, z.B. Jahr), welche von Arbeitnehmenden zunehmend schamlos ausgenutzt wird. Arbeitgeberinnen haben diesen Spielchen wenig entgegenzusetzen, und Gegenbeweise zu führen ist fast unmöglich angesichts von Ärzten, die Patienten mit der Frage «Wie lange soll ich Sie krankschreiben?» begegnen, statt selber gestützt auf medizinische Fakten zu beurteilen, wie lange die Person aus medizinischen Gründen nicht arbeiten kann.

Was wäre Ihr wichtigster Tipp an Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer sowie an Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber?

An Arbeitnehmende: Behaltet das grosse Bild im Auge. Wer sich monatelang krankschreiben lässt, bloss um die Beendigung eines Arbeitsvertrages zu verhindern, sieht sich später möglicherweise mit einem Bumerang konfrontiert. Geschickte Interviewer finden das heraus, und so kann eine solche Episode das Finden einer neuen Anstellung sehr erschweren. Dazu kommt eine persönliche Komponente: Wer sich krankschreiben lässt, schwächt sich selber, sein energetisches Gefüge, seine Ausstrahlung – man denkt sich mehr oder weniger bewusst krank und schwach. Das ist aber keine Grundlage für ein glückliches und erfolgreiches Leben, im Gegenteil. Auch hier wieder ein Bumerang. Ich plädiere deshalb für  «Staub abklopfen, Krone richten, weitergehen» – und bitte durchaus auch für den einen oder anderen selbstkritischen Blick. Vielleicht haben ja doch nicht alle Unrecht mit ihrer Kritik? 

An Arbeitgeberinnen: Kommt bitte früh genug zum Anwalt und «wurschtelt» nicht selber solange herum, bis alles verfahren ist. Wir können helfen und zwar am besten, wenn wir von Anfang an im Boot sind, d.h wenn die Verträge aufgesetzt werden oder wenn sich ein Konflikt abzeichnet. Ich verstehe mich nicht in erster Linie als  «Rechtsperson», sondern als Konfliktlöserin. Ich kann auf sehr vielen Ebenen zur Lösung von Konflikten beitragen, die weit über Vertragsredaktion oder Gerichtsverfahren hinausgehen.  

Wie hat sich das Arbeitsrecht / der Arbeitsmarkt in den vergangenen Jahren Ihrer Meinung nach verändert?

Der Markt ist viel fordernder geworden, Arbeitnehmende kennen ihre Rechte heute sehr genau und fordern sie ein. Das hat zu einem Professionalisierungsschub geführt, den ich grundsätzlich begrüsse. Solange dabei das Augenmass gewahrt bleibt und Fairplay von beiden Seiten gelebt wird, ist dagegen nichts einzuwenden. Falls nicht, führt die Entwicklung aber zu einer unangenehmen und dauerhaften Verhärtung des Marktes und der Zusammenarbeit. Das wäre dann schade. Das sprichwörtliche Kind mit dem Bade ausgeschüttet.

Welche ist Ihrer Meinung nach die grösste Herausforderung im Schweizer Arbeitsrecht/Arbeitsmarkt in den kommenden 10 Jahren?

Zum einen ist da die Umstellung von einem Arbeitgebermarkt auf einen Arbeitnehmermarkt, der viele Veränderungen nach sich ziehen wird. Auf Arbeitgeberinnen kommen ganz neue (und sehr wertvolle!) Fragen zu («Wie bin ich eine Arbeitgeberin, bei der man arbeiten will? Was ist mein Verhältnis zu Führung, zu Autoriät etc.?» Davon kann die gesamte Firma profitieren). Zum anderen muss man unbedingt die im europäischen Umfeld fast einzigartigen Qualitäten des Schweizer Arbeitsrechts bewahren (vor allem die Kündigungsfreiheit), die für den Wirtschaftsstandort (und damit für unser aller Wohlstand, notabene) von ausschlaggebender Wichtigkeit sind. Doch genau diese tragende Säule wird von vielen Seiten untergraben.

Marco Kamber | legalis brief ArbR 17.10.2023