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VORGESTELLT

Georges Chanson – «Das Schweizer Arbeitsrecht ist den Regelungen in Nachbarländern vorzuziehen.»

Arbeitsrecht

Georges Chanson hat in Zürich studiert, am Bezirksgericht Horgen gearbeitet und ist seit 1982 als Rechtsanwalt tätig, seit 1985 selbstständig. Er hat die Ausbildung für Fachanwältinnen und Fachanwälte SAV Arbeitsrecht jahrelang massgebend mitgeprägt und führt diesen Titel selber seit 2007. Als Arbeitsrechtler betreut er Unternehmen, Führungskräfte und Arbeitnehmende, coacht Anwältinnen und Anwälte bei deren Mandats- und Prozessführung und engagiert sich bei Schulungen und Weiterbildungen in seinem Fachgebiet. Er ist vorwiegend beratend, aber auch noch als Prozessanwalt tätig. Überdies publiziert er heute vermehrt zu arbeitsrechtlichen und «handwerklichen» Themen. In seiner Einzelpraxis (www.arbeitsrechtler.ch) arbeitet er altersbedingt mit reduziertem Pensum. Georges Chanson lebt in Zürich und in Bonfol/JU in der Ajoie.

Wo liegen im Moment Ihre Berührungspunkte mit dem Arbeitsrecht?

Neben meinen ausschliesslich im Arbeitsrecht betreuten Mandanten vermittle ich in diesen Tagen «handwerkliche» Themen mit arbeitsrechtlichem Bezug im sog. Fachanwaltskurs, was entsprechende Zeit zur Vorbereitung benötigt. Einerseits ist es ein Gruppen-Workshop über Rechtsbegehren und Klagen, anderseits betrifft es Wissen und Können zu arbeitsvertraglichen Formulierungen. Regelmässig und mehr als früher beschäftigen mich auch Publikationen, darunter die Nachrichten, die ich für die Fachgruppe Arbeitsrecht im Zürcher Anwaltsverband redigiere.

Wann sind Sie das erste Mal mit dem Arbeitsrecht in Kontakt gekommen?

Nach Erwerb des Anwaltspatents wurde ich Mitarbeiter in einer Kanzlei, die einen aus Italien stammenden Unternehmer mit verschiedenen Geschäften als Klienten hatte, der vielleicht etwas cholerisch war und immer wieder Geschäftsführer fristlos entliess. Meine Aufgabe war dann, vor Arbeitsgericht noch das Beste herauszuholen. Dabei kam mir entgegen, dass es damals noch keine Pönale nach Art. 337c Abs. 3 OR gab und diese Arbeitnehmenden im Markt meist rasch wieder eine Stelle finden konnten, was ihre Ansprüche entsprechend reduzierte.

Was sind Ihre alltäglichen Herausforderungen?

Ich übernehme nach wie vor neue Fälle, wenn sie mir passend erscheinen und wenn kein langwieriges Prozessverfahren in Aussicht steht. Im Vergleich zu früher mindern diese beiden altersbedingten Beschränkungen natürlich die alltäglichen Herausforderungen. Dennoch braucht es mein volles Interesse und Engagement für die Sache meiner Klientinnen und Klienten. Meine seit der Pandemie viel mobilere Arbeitsweise stellt gelegentlich eine Herausforderung beim persönlichen Kontakt dar, weil eine Besprechung vor Ort unter Umständen rascher zum Ziel führen könnte als Videokonferenzen oder Telefongespräche. Damit geht einher, dass von Mandantinnen und Mandanten praktisch keine Dokumente mehr auf dem Postweg kommen, sondern bei elektronischer Kommunikation zu kanalisieren sind, wenn man sich nicht durch eine Summe von Mails samt Anhängen und endlosen Wiederholungen durcharbeiten will. Dazu verwende ich einen eigenen Webserver, auf dem Dateien einzeln auf einfache Weise und unter Wahrung der Vertraulichkeit ausgetauscht und abgelegt werden können.

Gibt es eine berichtenswerte Episode aus Ihrer Tätigkeit im Bereich Arbeitsrecht? Was macht diese so besonders?

Episoden in meinem schon langen Anwaltsleben gibt es natürlich viele. In guter Erinnerung bleiben die Fälle, wo indirekt oder direkt Lob von der Gegenpartei kam oder diese in anderer Sache sogar zu meiner Klientin wurde.

Das Arbeitsrecht spielt sich im Alltag von Menschen jeder Art ab und ist entsprechend handfest und lebensnah. Es regelt sich trotz allen Gesetzen und Vorschriften oft nach dem gesunden Menschenverstand. Es erlaubt auch kreative Argumentationen und Lösungen, gerade weil sich die Rechtsstandpunkte nicht selten diametral gegenüberstehen, da auch die Interessen auf Seiten der Arbeitnehmenden und Arbeitgebenden gegensätzlich sind. All dies macht die Tätigkeit im Arbeitsrecht besonders. Dabei hilft zweifellos eine gesunde Neugierde und auch ein positives Menschenbild.

Was sind Ihrer Meinung nach die grössten Stärken und Schwächen im Schweizer Arbeitsrecht/Arbeitsmarkt?

Aus meiner liberalen Sicht ist das nicht ausgesprochen arbeitnehmerfreundliche Schweizer Arbeitsrecht den vom Arbeitnehmerschutz geprägten Regelungen in Nachbarländern vorzuziehen, obwohl zum Beispiel unser Kündigungsschutz vom Parlament bewusst nicht besonders griffig erlassen wurde. Es verhindert weitgehend, dass Personen über lange Zeit beschäftigt werden müssen, obwohl sie keine adäquate Gegenleistung erbringen. Dennoch werden Missbräuche auf Arbeitgeberseite auch bei uns korrigiert, manchmal einfach mit einer gewissen zeitlichen Verzögerung.

Welches wäre Ihr wichtigster Tipp an Arbeitnehmer, welches an Arbeitgeber?

Wenn man sich der eigenen Rolle im konkreten Arbeitsvertrag bewusst ist, sei es als arbeitnehmende oder arbeitgebende Person, sich aber gleichzeitig auch in die Situation des Gegenpols versetzen kann und will, lässt sich mancher Konflikt einvernehmlich lösen.

Wie hat sich das Arbeitsrecht / der Arbeitsmarkt in den vergangenen Jahren Ihrer Meinung nach verändert?

Beim Arbeitsrecht und dessen Schnittstellen fällt mir auf, dass neue Regelungen nicht mehr generell wie z.B. die wichtigen Gründe nach Art. 337 OR umschrieben sind, sondern viel kasuistischer, detaillierter und ausführlicher, was nicht in jedem Fall mehr Klarheit schafft. Ein gutes Beispiel dazu ist der neue Art. 34a ArGV 2, den ich in meinem zeitgleich erschienenen Leitartikel (Georges Chanson, Neuerungen beim Arbeitnehmendenschutz – Eine Tour d'Horizon, legalis brief ArbR 17.10.2024) vorstelle. Veränderungen des Arbeitsmarkts zu beurteilen, ist schwierig, weil dort auch temporäre Schwankungen zu spüren sind. Neue Technologien und Arbeitsformen bringen aber sicher wesentliche Veränderungen mit sich. Bemerkenswert scheint mir in diesem Zusammenhang, dass die mit der Pandemie ausgelöste Homeoffice-Welle nun zurückzuschwappen scheint, weil gewisse Unternehmen, wie vor Kurzem Sulzer, den Umfang von Homeoffice wieder reduzieren möchten. Das ist schon deshalb nicht unproblematisch, weil es vermehrt Arbeitnehmende mit Familienpflichten gibt, deren Betreuungssituation oft mit einem gewissen Homeoffice-Pensum zusammenhängt.

Welches ist Ihrer Meinung nach die grösste Herausforderung im Schweizer Arbeitsrecht/Arbeitsmarkt in den kommenden 10 Jahren?

Wer sich, wie ich, nebst den bisherigen Erfahrungen an den geltenden Verhältnissen orientiert, kann zu den Veränderungen in den nächsten 10 Jahren kaum eine gute Prognose machen, weil es zu viele Unbekannten gibt. Das scheint mir ein Kaffeesatz-Lesen. Was passieren wird, hängt nicht nur von technischen Gegebenheiten wie beispielsweise der künstlichen Intelligenz ab, sondern auch sehr stark von der jeweiligen wirtschaftlichen Situation und der Entwicklung der Gesellschaft, aber auch von dem, was bezüglich Umwelt sowie lokaler und globaler Politik geschieht. Wichtig ist deshalb, dass alle «Player» im Arbeitsrecht bereit sind, auf künftige Veränderungen einzugehen und sich ihnen anzupassen.

Flora Stanischewski | legalis brief ArbR 17.10.2024