Gudrun Österreicher – «Trotz vermehrtem Fokus auf Work-Life-Balance nehmen Belastungssituationen eher zu.»

Arbeitsrecht

Gudrun Österreicher schloss 1998 ihr Studium an der Universität Zürich ab und erwarb ein Jahr später die Zulassung zur Rechtsanwältin. Seit 2007 ist sie zudem Fachanwältin SAV Arbeitsrecht. Ihre Fachgebiete sind das Arbeits- und öffentliche Personalrecht, die Prozessführung sowie das Ausländerrecht. Durch ihre Tätigkeit in verschiedenen Zürcher Kanzleien verfügt sie über fundierte und langjährige Erfahrung in der Beratung und Vertretung von Unternehmen und öffentlich-rechtlichen Arbeitgebern sowie Privatpersonen in allen Aspekten des Arbeitsrechts inkl. grenzüberschreitenden Fragen (Arbeitsbewilligungen und Entsendungen).

Wo liegen im Moment Ihre Berührungspunkte mit dem Arbeitsrecht?

Ich arbeite ausschliesslich im Arbeitsrecht bzw. im öffentlichen Personalrecht.  Im Moment bereite ich ein Referat zu Goldenen Fallschirmen im öffentlichen Personalrecht vor.

Wann sind Sie das erste Mal mit dem Arbeitsrecht in Kontakt gekommen?

Nicht an der Universität, sondern erst danach, während meiner Tätigkeit am Bezirksgericht Zofingen, wo ich auch am Arbeitsgericht tätig war. Wir haben dort auch unentgeltliche Rechtsauskunft gegeben, und eine der ersten Beratungen betraf eine alleinstehende Taxifahrerin, die im 3. Monat schwanger war und beschwerdebedingt liegen musste. Sie wollte gleich nach der Geburt wieder arbeiten, um Geld zu verdienen – was nicht erlaubt war (und immer noch ist). Die Mutterschaftsversicherung gab es aber damals noch nicht, d.h. es war eine sehr schwierige Situation für sie.

Was sind Ihre alltäglichen Herausforderungen?

Sowohl im privaten als auch im öffentlichen Personalrecht stehen momentan (und seit Corona vermehrt) Themen rund um Erkrankungen oder Schwierigkeiten vor, während und nach einer Beendigung des Arbeitsverhältnisses im Vordergrund.

Gibt es eine berichtenswerte Episode aus Ihrer Tätigkeit im Bereich Arbeitsrecht? Was macht diese so besonders?

Da gibt es mehrere! Ich möchte gerne zwei erwähnen: Die erste betraf einen Fall im Jahr 2010, wo es gelungen war, eine provisorische Wiedereinstellung einer Arbeitnehmerin gestützt auf das Gleichstellungsgesetz zu erreichen. Besonders war dies aus zwei Gründen: Zum einen, weil es das Gleichstellungsgesetz bis zu diesem Zeitpunkt noch nicht lange gab und mir kein anderes Präjudiz bekannt war. Zum anderen, weil es mir gezeigt hat, dass dieses – durchaus wichtige Rechtsinstitut – je nachdem zu einem unheimlichen Druckmittel gegenüber Arbeitgebern wird.

Der zweite Fall betraf einen älteren Arbeitnehmer, der aus einer totalen Überforderung heraus sehr wichtige Akten unbearbeitet in einem Sack hat verschwinden lassen. Statt ihn fristlos zu entlassen, hat die Arbeitgeberin mit ihm eine sozialverträgliche, gute Lösung bis zur nahen Pensionierung gefunden.

Was sind Ihrer Meinung nach die grössten Stärken und Schwächen im Schweizer Arbeitsrecht/Arbeitsmarkt?

Eine der Stärken ist m.E. die Kündigungsfreiheit, sie trägt nicht unwesentlich dazu bei, dass die Arbeitslosenquote in der Schweiz niedriger ist als im Ausland.

Zu den Schwächen gehören m.E. die Vorschriften im Gesundheitsschutz – zum Beispiel zur Arbeitszeiterfassung. Sie sind komplex, und ihre Einhaltung ist auch bei sehr gutem Willen nicht immer einfach zu bewerkstelligen, gerade für Nicht-Juristen. Hier wären «anwenderfreundlichere» Vorgaben wünschenswert.

Welches wäre Ihr wichtigster Tipp an Arbeitnehmer, welches an Arbeitgeber?

An Arbeitgeber gerne zwei Tipps: Dokumentieren Sie mehr, auch eine E-Mail oder ein SMS reichen manchmal aus, um Besprochenes oder eine Rüge festzuhalten. Und nehmen Sie sich nicht nur für Anstellungen, sondern auch für Trennungen genügend Zeit.

An Arbeitnehmende: Stärken Sie Ihre Resilienz. Lassen Sie sich nicht alles gefallen, bedenken Sie aber, dass nicht jedes unanständige Verhalten auch ein rechtswidriges oder justiziables Verhalten ist.

Wie hat sich das Arbeitsrecht / der Arbeitsmarkt in den vergangenen Jahren Ihrer Meinung nach verändert?

Arbeitnehmende haben in den letzten Jahren mehr Unterstützung durch Verbände, Rechtsschutzversicherungen etc. erfahren und einen gewissen Erfahrungsrückstand gegenüber Arbeitgeberinnen aufgeholt. Eine weitere Veränderung, die ich feststelle ist, dass trotz vermehrtem Fokus auf «well-being», Work-Life-Balance, «diversity and inclusion», mobilem Arbeiten etc. Konflikte und Belastungssituationen eher zunehmen. Dies mag unter anderem auf eine erschwerte Abgrenzung zwischen Berufs- und Privatleben zurückzuführen sein.

Welches ist Ihrer Meinung nach die grösste Herausforderung im Schweizer Arbeitsrecht/Arbeitsmarkt in den kommenden 10 Jahren?

Die fortschreitende Digitalisierung und Automatisierung (einschliesslich des Einsatzes von KI) wird zu einem Strukturwandel des Arbeitsmarktes führen. Eine der Herausforderungen wird dabei sein, die Mitarbeitenden durch den sinnvollen Einsatz dieser Technologien tatsächlich zu entlasten.

Flora Stanischewski | legalis brief ArbR 20.12.2023