Johannes Vontobel – «Wer sich gerecht behandelt fühlt, ist viel eher bereit, ein unerwünschtes Urteil zu akzeptieren.»
Arbeitsrecht

Johannes Vontobel ist seit 2022 Präsident am Zivilgericht Basel-Stadt und damit unter anderem Vorsitzender des kantonalen Arbeitsgerichts. Davor war er über zehn Jahre Anwalt und Partner in einer privat- und wirtschaftsrechtlich ausgerichteten Anwaltskanzlei in Basel. Sein Fokus lag dabei insbesondere auf der Prozessführung und dem Konfliktmanagement. Bereits während seiner Anwaltszeit war er als Ersatzrichter am Zivilgericht Basel-Stadt tätig. In fachlicher Hinsicht prägend waren nach dem Erwerb des Basler Anwaltspatents auch die beiden anschliessenden Assistenzjahre am Lehrstuhl für Zivil- und Zivilprozessrecht von Prof. Dr. Thomas Sutter-Somm an der Universität Basel.
Wo liegen im Moment Ihre Berührungspunkte mit dem Arbeitsrecht?
Als Gerichtspräsident am Zivilgericht führe ich den Vorsitz des paritätisch zusammengesetzten Arbeitsgerichts des Kantons Basel-Stadt, das Streitigkeiten bis zu einem Streitwert von CHF 30'000 entscheidet. Mit arbeitsrechtlichen Fällen von höherem Streitwert bin ich auch in der Funktion des Schlichters oder als Vorsitzender bzw. Statthalter des Dreiergerichts sowie der (Fünfer-)Kammer befasst.
Wann sind Sie das erste Mal mit dem Arbeitsrecht in Kontakt gekommen?
Theoretisch in den Vorlesungen von Prof. Jean-Fritz Stöckli an der Universität Basel. Praktisch wiederum am Zivilgericht Basel-Stadt, damals aber noch im Rahmen meines ersten Volontariats als Protokollführer im Vorverfahren des Gewerblichen Schiedsgerichts, das unter der alten baselstädtischen Zivilprozessordnung als Arbeitsgericht fungierte. Um Missverständnissen vorzubeugen: Ich war in der Folge nicht nahtlos am Zivilgericht. Zwischenzeitlich praktizierte ich über zehn Jahre als Anwalt und kenne daher das Arbeitsrecht auch als Berater sowie das Arbeitsgericht von der anderen Seite der Schranke.
Was sind Ihre alltäglichen Herausforderungen?
Wenn ich über die alltäglichen Herausforderungen am Arbeitsgericht Basel-Stadt berichte, ist zunächst die hiesige Besonderheit hervorzuheben, dass die Schlichtungen und das Instruktionsverfahren, d.h. die vorbereitende Prozessleitung bis zur eigentlichen Verhandlung, wesentlich durch spezialisierte Gerichtsschreiberinnen und Gerichtsschreiber geprägt werden, welche die Verfahrensleitung über weite Strecken eigenständig wahrnehmen. Diese ausgezeichnete Arbeit ist im Gerichtsalltag eine grosse Entlastung für die Präsidien. Kompetent und effizient geführte Schlichtungsverfahren und Instruktionsphasen zeichnen ein gutes Arbeitsgericht mindestens ebenso aus wie letztlich das «richtige» Urteil. Denn nur wer in der Schlichtungsverhandlung oder während der Instruktion gehört und auch verstanden worden ist, wird sich gerecht behandelt fühlen. Und wer sich gerecht behandelt fühlt, ist viel eher bereit, einer vergleichsweisen Erledigung zuzustimmen oder ein unerwünschtes Urteil zähneknirschend zu akzeptieren. Von den Gerichtspersonen wird dabei nicht nur fundiertes Fachwissen und Effizienz erwartet, sondern auch viel Empathie. All diesen Ansprüchen gerecht zu werden, fordert uns am Arbeitsgericht täglich heraus.
Gibt es eine berichtenswerte Episode aus Ihrer Tätigkeit im Bereich Arbeitsrecht? Was macht diese so besonders?
Arbeitsrechtliche Streitigkeiten werden aufgrund von Zukunftsängsten, erlebten Kränkungen und Enttäuschungen sehr emotional geführt. Umso schöner und für uns Gerichtspersonen befriedigender ist es, wenn es gelingt, zwischen sehr verstrittenen Parteien eine vollständige Aussöhnung herbeizuführen. Dies ist etwa dann der Fall, wenn sich die Parteien über monetäre Streitpunkte einigen konnten und anschliessend gar zugestehen können, über längere Zeit gut und erfolgreich zusammengearbeitet zu haben. Gar nicht so selten fällt dann ganz zum Schluss das Arbeitszeugnis sogar besser aus, als es eingeklagt worden ist.
Was sind Ihrer Meinung nach die grössten Stärken und Schwächen im Schweizer Arbeitsrecht/Arbeitsmarkt?
Die grösste Stärke des Schweizer Arbeitsmarktes ist die relativ liberale Ausgestaltung des Kündigungsschutzes in Kombination mit den guten Sozialversicherungen. Insbesondere bei den rechtlichen und strukturellen Bedingungen sowie der Förderung der Vereinbarkeit von Beruf/Karriere und Familie sehe ich in der Schweiz Handlungsbedarf.
Welches wäre Ihr wichtigster Tipp an Arbeitnehmer, welches an Arbeitgeber?
Wer als Arbeitnehmende oder als Arbeitgebende am Arbeitsort Enttäuschung oder Kränkung erlebt, sollte – wenn immer möglich – die 24-Stunden-Regel einhalten: erst eine Nacht darüber schlafen und dann entscheiden, ob und gegebenenfalls wie zu reagieren ist.
Wie hat sich das Arbeitsrecht / der Arbeitsmarkt in den vergangenen Jahren Ihrer Meinung nach verändert?
Neben der Digitalisierung am Arbeitsplatz und der Zunahme von Homeoffice ist auch ein Trend zu vermehrt projektbezogenen und befristeten Arbeitsverhältnissen auszumachen.
Welches ist Ihrer Meinung nach die grösste Herausforderung im Schweizer Arbeitsrecht/Arbeitsmarkt in den kommenden 10 Jahren?
Die Digitalisierung und insbesondere die Nutzung der Chancen und ein adäquater Umgang mit den Risiken, die die künstliche Intelligenz mit sich bringt, werden den Arbeitsmarkt hinsichtlich des Arbeitsrechts, aber auch im Bereich des Datenschutzes weiter fordern. Eine Herausforderung für das Arbeitsrecht (Kündigungsschutz und tiefer Lohn) und das Sozialversicherungsrecht (BVG) dürfte wohl auch in Zukunft der Umgang mit wiederkehrenden kürzeren Arbeitsverhältnissen sein. Ein Missbrauchspotential besteht dabei insbesondere in Branchen, in denen es üblich ist, nach dem Hochschulabschluss über mehrere Jahre Praktika an verschiedenen Orten zu absolvieren.
Christine Bassanello | legalis brief ArbR 22.05.2025