Martina Conte – «Wer integritätsverletzendes Verhalten erlebt, sollte sich frühzeitig zur Wehr zu setzen.»

Arbeitsrecht

Dr. iur. Martina Conte ist seit April 2023 Geschäftsführerin der IntegrityPlus AG. Sie ist spezialisiert auf das Thema Schutz der persönlichen und betrieblichen Integrität am Arbeitsplatz. Nach dem Studium der Rechtswissenschaften an der Universität Zürich (UZH) promovierte sie zu einem strafprozessualen Thema und arbeitete während 2 Jahren für die Staatsanwaltschaft des Kantons Zürich. Dort erwarb sie vertiefte Kenntnisse in der Planung und Durchführung von Untersuchungen. Seit 2022 leitet Martina Conte interne Untersuchungen im Bereich Integritätsverletzungen und erarbeitete für die IntegrityPlus AG ab 2023 insbesondere das Angebot der externen Meldestellen.

Wo liegen im Moment Ihre Berührungspunkte mit dem Arbeitsrecht?

Als Geschäftsführerin der IntegrityPlus AG bin ich einerseits in diverse Beratungsmandate mit arbeitsrechtlichem Bezug involviert: Unternehmen und öffentlich-rechtliche Institutionen erhalten bei uns Unterstützung zur Entwicklung oder Optimierung ihrer präventiven Massnahmen und können sich zudem bei konkret auftretenden Meldungen über Verletzungen der persönlichen Integrität von Mitarbeitenden (d.h. Fällen von Mobbing, sexueller Belästigung, Diskriminierung oder Gewalt) oder weiteren Missständen an unsere Beraterinnen und Berater wenden. Andererseits führen wir für unsere Kunden bei entsprechenden Meldungen Untersuchungen durch und Schulen die Mitarbeitenden aller Hierarchiestufen zum Thema Schutz der persönlichen Integrität, zu den bestehenden Prozessen sowie ihren Rechten und Pflichten. Hierbei stellen sich regelmässig Fragen zur Fürsorgepflicht des Arbeitsgebers, d.h. die Pflicht, die notwendigen und angemessenen Massnahmen zum Schutz der persönlichen Integrität und Gesundheit der Mitarbeitenden zu ergreifen und im Bedarfsfall zu intervenieren. Zudem kommt es im Zusammenhang mit Meldungen betreffend Integritätsverletzungen des Öfteren zu Krankschreibungen, oder es stehen arbeitsrechtliche Sanktionen und Personalentscheide zur Diskussion, was ebenfalls rechtliche Fragen aufwirft.

Der Fokus von IntegrityPlus liegt dabei primär auf der Möglichkeit von deeskalierenden Massnahmen und auf präventiven Vorkehrungen. Der Kunde soll das nötige Werkzeug erhalten, um Verletzungen der persönlichen Integrität vorzubeugen oder aber rechtzeitig die notwendigen Massnahmen zu ergreifen, um seine Pflichten einzuhalten sowie finanzielle Einbussen und eine Schädigung der Reputation des Unternehmens zu verhindern.

Wann sind Sie das erste Mal mit dem Arbeitsrecht in Kontakt gekommen?

Während meines Studiums an der UZH und anschliessend vor allem im Kontext der Untersuchungsführung und Beratung bei Integritätsverletzungen.

Was sind Ihre alltäglichen Herausforderungen?

Das wäre wohl die Sensibilisierung unserer Kunden für den Gesamtkontext und für mehr Weitsicht: Fälle, in denen die persönliche Integrität einzelner Mitarbeitender tangiert oder verletzt worden ist (d.h. Fälle von Mobbing, sexueller Belästigung, Diskriminierung oder Gewalt) können für ein Unternehmen im schlimmsten Fall finanzielle Einbussen durch Entschädigungszahlungen und hohe Fluktuation, aber auch das Risiko eines Reputationsschadens bedeuten. Viele Kunden sind mit der Thematik schlicht überfordert und kommen erst zu uns, wenn ein Problem so offensichtlich geworden ist, dass es nicht mehr ignoriert werden kann, z.B. wenn die hohe Fluktuation oder diverse Krankschreibungen den operativen Bereich beeinträchtigen und Kosten verursachen oder wenn gar eine arbeitsrechtliche Klage droht. Hier stellt sich uns die Herausforderung, gegenüber dem Kunden die Wichtigkeit von präventiven Strukturen und der Sensibilisierung der Mitarbeitenden hervorzuheben und nicht lediglich das entstandene Feuer zu löschen.

Gibt es eine berichtenswerte Episode aus Ihrer Tätigkeit im Bereich Arbeitsrecht? Was macht diese so besonders?

Es fällt mir schwer, eine einzelne Episode hervorzuheben. Interessant bei unserer täglichen Arbeit ist aber insbesondere der Einblick in die Strukturen unterschiedlicher Unternehmen und öffentlicher Institutionen. Wie ein Unternehmen aufgestellt ist, ob es seine präventiven Aufgaben und Schutzpflichten erfüllt, hängt zudem stark vom Wissensstand, der Erfahrung und dem Willen der Unternehmensführung ab. Hinsichtlich des Schutzes der persönlichen Integrität am Arbeitsplatz und des betrieblichen Gesundheitsmanagements allgemein hat in den letzten Jahrzehnten ein Umdenken stattgefunden. Auch ist das Medieninteresse und die Aufmerksamkeit in der Gesellschaft gegenüber solchen Vorwürfen stark gestiegen, so dass es sich ein Arbeitgeber nicht mehr leisten kann, solche Vorwürfe kleinzureden und unter den Teppich zu wischen. Es ist somit eine enorme Dynamik erkennbar. Insgesamt dient diese Entwicklung der Mitarbeitendenzufriedenheit, was sich wiederum positiv auf die wirtschaftliche Ebene auswirkt.

Was sind Ihrer Meinung nach die grössten Stärken und Schwächen im Schweizer Arbeitsrecht/Arbeitsmarkt?

Aufgrund meines Fokus auf Integritätsthemen und Missstände am Arbeitsplatz ist es mir nicht möglich, das Schweizer Arbeitsrecht gesamthaft zu beurteilen. Eine Schwachstelle ist aus meiner Sicht aber die fehlende Whistleblowing-Gesetzgebung. Der Gesetzgeber hat es im Gegensatz zur EU verpasst, einerseits Hinweisgeber bei berechtigten Missstandsmeldungen zu schützen und andererseits verbindliche Vorgaben zu internen und externen Verfahren in solchen Situationen zu statuieren. So wird es der Arbeitgeberschaft überlassen, ob und wie damit umgegangen wird. Dies führt zu einem Zustand grosser Unsicherheit sowohl auf Arbeitnehmer- als auch auf Arbeitgeberseite.

Welches wäre Ihr wichtigster Tipp an Arbeitnehmer, welches an Arbeitgeber?

Den Arbeitnehmenden rate ich, sich bewusst über die beim jeweiligen Arbeitgeber existierenden Meldewege und Prozesse zu erkundigen. Wer integritätsverletzendes Verhalten oder andere Missstände erlebt, sollte sich frühzeitig zur Wehr zu setzen und die Situation z.B. ansprechen oder im Bedarfsfall eine vertrauliche Beratung in Anspruch zu nehmen.

Arbeitgebern rate ich, sich Gedanken darüber zu machen, ob zum Schutz der persönlichen Integrität sowie auch hinsichtlich weiterer Missstände die notwendigen und angebrachten präventiven Massnahmen ergriffen worden sind, ob diese allenfalls überarbeitet werden müssten und ob den interventionspflichtigen Führungskräften und HR-Personen, aber auch den übrigen Mitarbeitenden die internen und externen Meldewege, ihre Rechte und Pflichten sowie allenfalls existierende Prozesse bekannt sind. Falls diese Fragen nicht bejaht werden können oder Zweifel bestehen, wäre es sinnvoll, das Thema nicht aufzuschieben, sondern entsprechende Schritte einzuleiten.

Martina Aepli | legalis brief ArbR 17.01.2024