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Melda Semi – «Das Arbeitszeugnis ist ein Relikt der Vergangenheit.»

Arbeitsrecht

Melda Semi ist Rechtsanwältin und seit über fünf Jahren im Arbeitsrecht und Vertragsrecht tätig. Seit Januar 2023 ist sie Partnerin in der Advokatur West in Zürich. Im Jahre 2022 erwarb sie den LL.M. im Bereich internationales Wirtschaftsrecht an der Universität Zürich,  in dessen Rahmen sie den CAS in International Business Transactions und Technologietransfer absolvierte. Sie vertritt Arbeitnehmende und Arbeitgebende in allen rechtlichen Belangen und ist prozessierend sowie beratend tätig. Zudem ist sie Autorin bei IusNet im Arbeits- und Sozialversicherungsrecht.

Wo liegen im Moment Ihre Berührungspunkte mit dem Arbeitsrecht?

Zurzeit beschäftigen mich zahlreiche Fälle, bei denen es im Wesentlichen um Kündigungen, Arbeitszeugnisberichtigungen oder Lohnforderungen geht.

Wann sind Sie das erste Mal mit dem Arbeitsrecht in Kontakt gekommen?

Zum ersten Mal kam ich während des Gymnasiums mit dem Arbeitsrecht in Berührung, als mein Vater einen schweren Unfall bei der Arbeit in der Fabrik erlitt. Er wurde unfallbedingt teilweise arbeitsunfähig. Es folgte ein Haftpflichtprozess, und währenddessen wurde ihm trotz seiner jahrelangen Treue, seiner harten Arbeit und seines fortgeschrittenen Alters nach Ablauf der Sperrfrist von seiner Arbeitgeberin gekündigt, da diese keine Möglichkeit sah, ihn mit einem verletzten Bein weiterzubeschäftigen. Da meine Eltern die deutsche Sprache nicht gut beherrschen, habe ich die Übersetzungsarbeiten gemacht und sie unterstützt. Dadurch bin ich mit dem Arbeitsrecht konfrontiert worden.

Später hatte ich Arbeitsrecht im Studium als Wahlfach. Im Praktikum war ich mehrheitlich im Arbeitsrecht tätig und entwickelte bereits damals ein grosses Interesse an diesem Fachgebiet. Nach der Anwaltsprüfung war für mich klar, dass ich mich auf das Arbeitsrecht spezialisiere.

Was sind Ihre alltäglichen Herausforderungen?

Im Arbeitsrecht gibt es zahlreiche Herausforderungen, so etwa die ständige Anpassung an die sich wandelnde Rechtsprechung, was eine kontinuierliche Weiterbildung erfordert.

Psychologische Aspekte spielen ebenfalls eine grosse Rolle: Konflikte am Arbeitsplatz, Mobbing oder Stress können zu rechtlichen Auseinandersetzungen führen. Als Anwältin ist daher nicht nur juristisches Wissen, sondern auch ein Verständnis für zwischenmenschliche Dynamiken gefragt, um effektiv zu vermitteln und tragfähige Lösungen zu finden.

Eine weitere Herausforderung liegt darin, der Klientschaft aufzuzeigen, dass Recht haben und Recht bekommen nicht immer dasselbe ist. So empfindet eine Arbeitnehmende eine Kündigung als missbräuchlich und mag dabei sogar Recht haben. Nichtsdestotrotz kann es schwierig sein, dieses Recht auch durchzusetzen, hängt doch das Ergebnis mitunter von der Beweislage ab. In solchen Fällen ist es oft besser, einen Vergleich zu finden, als zu prozessieren. Wie wir wissen, verursachen Gerichtsverfahren hohe Kosten und können langwierig sein, und meistens drängt das Gericht die Parteien bei der Verhandlung dann doch zu einem Vergleich.

Gibt es eine berichtenswerte Episode aus Ihrer Tätigkeit im Bereich Arbeitsrecht? Was macht diese so besonders?

Ja, wenn die Klientschaft mit dem Ausgang äusserst zufrieden ist und dies auch bekundet. Eine berichtenswerte Episode war die Kündigung einer Arbeitnehmenden aufgrund ihrer Transgendereigenschaft. In diesem Fall teilte der Richter die Ansicht, dass eine Diskriminierung vorliegen musste, was für meine Klientin eine grosse Genugtuung war. So konnte sie einen Strich unter diese belastende und langwierige Angelegenheit setzen.

Was sind Ihrer Meinung nach die grössten Stärken und Schwächen im Schweizer Arbeitsrecht/Arbeitsmarkt?

Aus Sicht der Arbeitgebenden ist die liberale Ausgestaltung des Schweizer Arbeitsrechts als Stärke zu werten, insbesondere die individuelle Vertragsfreiheit. Diese ermöglicht es, Arbeitsverträge den spezifischen Bedürfnissen wie z.B. Arbeit auf Abruf, Teilzeitarbeit oder Personalverleih anzupassen.

Aus Sicht der Arbeitnehmenden ist das Prinzip der Kündigungsfreiheit als Schwäche zu qualifizieren. So ist der Kündigungsschutz in unseren Nachbarländern höher angesiedelt.

Weitere Schwächen des Schweizer Arbeitsrechts liegen darin, dass einige Bestimmungen ein Relikt der Vergangenheit sind und in der modernen Arbeitswelt ihren Nutzen weitgehend verloren haben, namentlich das Arbeitszeugnis. Arbeitszeugnisstreitigkeiten sorgen immer wieder für rote Köpfe, zumal davon das wirtschaftliche Fortkommen der Arbeitnehmenden abhängt. In der Schweiz steht bei Arbeitszeugnissen die Wahrheit vor dem Wohlwollen, was sie von den deutschen Arbeitszeugnissen unterscheidet. Arbeitszeugnisse in der Schweiz müssen die Leistungen und das Verhalten der Arbeitnehmenden ungeschönt und objektiv wiedergeben, auch wenn dies negative Aspekte umfasst. Dahingegen dominiert in Deutschland das Prinzip des Wohlwollens. In der Schweiz wird der Streit darüber geführt, was die Wahrheit ist, und diese liegt meistens irgendwo in der Mitte der jeweiligen Wahrnehmungen.

In Zeiten, in denen Fähigkeiten und Kompetenzen durch praktische Erfahrungen, Projekte und Weiterbildungen nachgewiesen werden können, sind schriftliche Bewertungen von früheren Arbeitgebenden oft unzureichend und subjektiv. In einer dynamischen Arbeitsumgebung, in der Flexibilität und Innovation gefragt sind, sollten andere Formen der Leistungsbewertung und -darstellung in den Vordergrund treten.

Auch die langen Arbeitszeiten resp. die Fünftagewoche stammen aus einer Zeit, in der es noch keine Digitalisierung gab. Zahlreiche Studien belegen ausserdem, dass kürzere Arbeitszeiten eine Effizienzsteigerung zur Folge haben und zugleich die Zufriedenheit der Mitarbeitenden fördern.

Ebenfalls als Schwäche des Arbeitsmarktes betrachte ich die nach wie vor vorkommende Diskriminierung der Geschlechter und die fehlende Inklusion im Arbeitsmarkt. Einen wichtigen Beitrag könnte das «Blind Recruitment» leisten. Diese Praxis gewinnt gerade weltweit – insbesondere in den USA, Kanada und Australien – immer mehr an Popularität. Demnach wird der Bewerbungsprozess fairer gestaltet, indem persönliche Informationen, die zu Voreingenommenheit führen könnten, weggelassen werden. Dies kann die Nennung von Namen, Geschlecht, Alter oder anderen persönlichen Identifikatoren umfassen. Die Idee dahinter ist, dass Arbeitgebende sich auf die Qualifikationen und Fähigkeiten der Bewerbenden konzentrieren, anstatt sich von unbewussten Vorurteilen leiten zu lassen.

Welches wäre Ihr wichtigster Tipp an Arbeitnehmer, welches an Arbeitgeber?

Die Kommunikation zwischen Arbeitgebenden und Arbeitnehmenden ist entscheidend, um Probleme frühzeitig anzusprechen und zu lösen. Offene und transparente Gespräche fördern das Vertrauen und ermöglichen es, Missverständnisse und Konflikte schnell aus der Welt zu schaffen. Regelmässige Feedbackgespräche und eine konstruktive Gesprächskultur tragen dazu bei, die Bedürfnisse und Erwartungen beider Seiten besser zu verstehen. Eine gute Kommunikation steigert nicht nur die Zufriedenheit der Mitarbeitenden, sondern kann auch die Produktivität und das Arbeitsklima verbessern.

Wie hat sich das Arbeitsrecht / der Arbeitsmarkt in den vergangenen Jahren Ihrer Meinung nach verändert?

Das Arbeitsrecht hat in den letzten Jahren mehr Flexibilisierung erfahren. So hat insbesondere die COVID-19-Pandemie die Akzeptanz von Remote-Arbeit beschleunigt. Der Fokus auf Diversität und Inklusion hat – wenn auch eher auf dem Papier – zugenommen. Es gab Anpassungen in den gesetzlichen Rahmenbedingungen, die den Schutz von Arbeitnehmerinnen- und Arbeitnehmerrechten stärken, insbesondere im Hinblick auf Elternzeit, Teilzeitarbeit und Kündigungsschutz.

Neben Veränderungen in der Art und Weise, wie wir arbeiten, hat der technologische Fortschritt auch rechtliche Herausforderungen mit sich gebracht, vor allem in Bezug auf Datenschutz und den Umgang mit neuen Arbeitsformen.

Welches ist Ihrer Meinung nach die grösste Herausforderung im Schweizer Arbeitsrecht/Arbeitsmarkt in den kommenden 10 Jahren?

Die Anpassung an die fortschreitende Digitalisierung und den technologischen Wandel. Die Digitalisierung verändert nicht nur unsere Arbeitsweise, wie das Beispiel Gig- und Plattformarbeit (Uber, Deliveroo) zeigt. Diese neuen Modelle werfen rechtliche Fragen hinsichtlich Arbeitnehmerrechte, Sozialversicherung und Arbeitsbedingungen auf.

Automatisierte Systeme und künstliche Intelligenz können in einigen Branchen dazu führen, dass der Bedarf an menschlichen Arbeitskräften verringert wird. Gleichzeitig kann die Digitalisierung neue Arbeitsplätze schaffen, indem sie neue Branchen und Dienstleistungen ermöglicht, die vorher nicht existierten. Mit der zunehmenden Nutzung digitaler Geräte am Arbeitsplatz steigen zudem die Anforderungen an den Datenschutz und die Sicherheit von Mitarbeiterdaten.

Ein weiterer wichtiger Aspekt wird die Förderung von Diversität und Inklusion sein, um allen Arbeitnehmenden gerecht zu werden und Diskriminierung abzubauen.

Marco Kamber | legalis brief ArbR 26.08.2024