Sara Licci – «Noch vor 15 Jahren wurden arbeitsrechtliche Fragen oft durch Angehörige anderer Disziplinen gelöst.»
Arbeitsrecht
Dr. iur. Sara Licci ist Juristin im Kompetenzzentrum Arbeit im Amt für Arbeit des Kantons Zürich (ehemals AWA) und Inhaberin der Kanzlei Licci Rechtsanwältin in Zürich. Davor dozierte sie während zehn Jahren an der ZHAW in den Bereichen Arbeitsrecht und internationales Arbeitsrecht an der Schnittstelle zu Sozialversicherungs- und Migrationsrecht sowie Daten- und Diskriminierungsschutz. Die genannten Schwerpunkte sind die Folge ihrer vorgängigen Tätigkeit in einem grösseren Beratungsunternehmen, in dem sie vor allem auch internationale Mandate betreute. Die Begeisterung fürs Publizieren und für Forschungsprojekte bleiben, wie sich an ihrem 2022 in Co-Herausgeberschaft erschienen, über 1000 Seiten starken Werk zu Compliance im Unternehmen zeigt. Dr. iur. Sara Licci tritt als Referentin an Fachtagungen auf. Im Frühlingssemester 2024 wird sie die Vorlesung Arbeitsrecht an der juristischen Fakultät Basel abhalten.
1. Wo liegen im Moment Ihre Berührungspunkte mit dem Arbeitsrecht?
Als Juristin im Amt für Arbeit stellen sich täglich Fragen mit Arbeitsmarktbezug. Dabei komme ich auch mit den Strategien des SECO in Berührung, beispielsweise mit der Strategie öffentliche Arbeitsvermittlung (öAV) 2030. Die Fälle in meiner beratenden Tätigkeit als Anwältin führen mir immer wieder die weitreichenden Schnittstellen des Arbeitsrechts zu anderen Rechtsgebieten vor Augen.
2. Wann sind Sie das erste Mal mit dem Arbeitsrecht in Kontakt gekommen?
Während meines Studiums gelangte ein verzweifelter ehemaliger Schulfreund an mich, weil er wusste, dass ich die Arbeitsrechtsvorlesung besuchte. Er hatte beim Auftragen und Zuschneiden der Werbefolie auf einem Firmenauto der Kundschaft das Auto zerkratzt, und sein Chef wollte den Schaden vollständig auf ihn abwälzen. Meine damaligen Abklärungen schritten noch langsam voran, aber wir konnten einen Erfolg verzeichnen. Damit und insbesondere während des sehr spannenden Auditorats am Arbeitsgericht Zürich kam es zur Begeisterung fürs Arbeitsrecht.
3. Was sind Ihrer Meinung nach die grössten Stärken und Schwächen im Schweizer Arbeitsrecht/Arbeitsmarkt?
Wie die zahlreichen Streiks in unseren Nachbarländern zeigen, sorgt die starke Sozialpartnerschaft in der Schweiz für Stabilität. Diese gilt es aufrechtzuerhalten.
4. Welches wäre Ihr wichtigster Tipp an Arbeitnehmer, welches an Arbeitgeber?
Arbeitnehmenden empfehle ich vor Antritt eines Arbeitsverhältnisses, nicht nur den Arbeitsvertrag selbst, sondern die dazugehörenden Mitarbeiterhandbücher und sonstigen Richtlinien, wie z.B. Ethic-Codes, gründlich zu lesen. Damit werden die Rechte und Pflichten sowie das erwartete Verhalten klarer. Offene Fragen lassen sich gleich am Anfang klären oder vermeintliche Widersprüche in den unterschiedlichen Regelwerken ansprechen. Vor definitiven Entscheidungen bezüglich der Möglichkeiten zu einem flexiblen Altersrücktritt empfehle ich, sich von den zuständigen Stellen beraten zu lassen. Arbeitnehmenden aus dem Ausland ist näherzubringen, dass das schweizerische Arbeitsrecht vom Grundsatz der Vertragsfreiheit geprägt ist und trotz gewisser Einflüsse erhebliche Unterschiede zum europäischen Arbeitsrecht bestehen.
Arbeitgebenden empfehle ich, in ihren Leitungsentscheiden die arbeitsrechtliche Perspektive frühzeitig einzubeziehen, um von der Anbahnung bis zur Beendigung des Arbeitsverhältnisses koordiniert vorzugehen. Überhastete Entscheidungen führen oft zu langwieriger, unergiebiger Nachbereitung. Nicht zu unterschätzen ist dieser Punkt in den Fällen der zwingend vorgesehenen innerbetrieblichen Mitwirkung oder beim Einsatz von neuen Technologien. Zwei Tipps mit Blick auf jüngste Bundesgerichtsentscheide: Richtlinien zur Nutzung von Sozialen Medien durch Mitarbeitende erlassen und Konflikte unter Mitarbeitenden frühzeitig lösungsorientiert angehen! Arbeitgebenden mit Auslandbezug ist näherzubringen, dass trotz allenfalls internationalem Charakter des Arbeitsvertrags gewisse unabdingbare Standards des schweizerischen Arbeitsrechts gelten.
5. Wie hat sich das Arbeitsrecht / der Arbeitsmarkt in den vergangenen Jahren Ihrer Meinung nach verändert?
Noch vor 15 Jahren wurden die arbeits- und sozialversicherungsrechtlichen Fragen bei Neuansiedlung oder Umstrukturierung von Unternehmen durch Anwälte und Anwältinnen anderer Disziplinen gelöst. An die unentgeltliche Rechtsberatung am Arbeitsgericht gelangten fast ausschliesslich unqualifizierte Arbeitnehmende mit den wiederkehrenden zwei bis drei Fragen. Zwischenzeitlich treiben Arbeitnehmende aller Hierarchiestufen arbeitsrechtliche Fragen um, und Arbeitgebende suchen nach spezialisierter Auskunft, weil die Vielschichtigkeit des Rechtsgebiets erkannt wurde.
6. Welches ist Ihrer Meinung nach die grösste Herausforderung im Schweizer Arbeitsrecht/Arbeitsmarkt in den kommenden 10 Jahren?
Der anhaltende Strukturwandel verändert die Branchen- und Berufsstruktur. Auf die damit einhergehende noch stärkere Flexibilisierung von Arbeitsformen und -modellen sowie die damit zusammenhängenden Fragen rund um Sozialversicherungen, Daten- und Gesundheitsschutz in der Arbeitswelt wird das Arbeitsrecht Antworten finden müssen. Auch wird die Durchlässigkeit der Berufe den Aufbau von Kompetenzen und das lebenslange Lernen beeinflussen.
Christine Bassanello | legalis brief ArbR 05.03.2024