Catherine Berger – «Die Führung eines Prozesses mit ungewissem Ausgang benötigt zu viel Ressourcen.»

Familienrecht, Mediation

Nach ihrem Anwaltspatent 1991 durchlief Catherine Berger verschiedene Stationen am Gericht als Gerichtschreiberin am Arbeitsgericht und Bezirksgericht Aarau, Versicherungsgericht und am Obergericht des Kantons Aargau sowie als Ersatzrichterin am Obergericht des Kantons Aargau mit Einsatz am Versicherungsgericht und an der ersten Zivilkammer. Seit 2001 ist sie als selbständige Anwältin in der Kanzlei Berger Rohrer in Rheinfelden tätig, seit 2011 mit der Zusatzqualifikation «Fachanwältin SAV Familienrecht». 2003 hat sie die Ausbildung zur Mediatorin SAV abgeschlossen, 2015 einen CAS in Prozessführung - Civil Litigation gemacht.

Welche Verbindung haben Sie zum Familienrecht?

Ich bin Rechtsanwältin, in diesem Beruf tätig seit dem Jahr 2000, seit 2011 mit der Spezialausbildung «Fachanwältin SAV Familienrecht». Zusätzlich bin ich als Mediatorin tätig und begleite Personen auch auf diese Weise bei familienrechtlichen Konflikten.

Was sind Ihre alltäglichen Herausforderungen?

Fachlich: die umfangreiche Rechtsprechung zum Familienrecht im Auge zu behalten.

Im Umgang mit der Klientschaft: ihre Erwartungen zu klären, insbesondere ihre persönlichen Gerechtigkeitsvorstellungen mit der Rechtsprechung abzugleichen, unrealistische Erwartungen möglichst früh aufzudecken und dies zu thematisieren. Als Rechtsanwältin bin ich oft auch als Mediatorin tätig: In dieser Rolle ist es sehr wichtig, die Allparteilichkeit zu wahren. Auch in diesem Setting sind realistische von unrealistischen Erwartungen zu trennen. Insbesondere im Bereich Kindsrecht gibt es oft unjustiziable Themen. In diesen Fällen geht es darum, Parteien auf andere Disziplinen hinzuweisen (z.B. Beizug von Psychologinnen oder Psychiatern, Seelsorgerinnen/Seelsorgern, Ärztinnen und Ärzten).

Gibt es Anekdoten aus Ihrer Tätigkeit?

Ja, sehr viele – erzählen werde ich keine – Anwaltsgeheimnis…

Wenn Sie die Möglichkeit hätten, etwas am Familienrecht ändern zu können, was wäre das?

Ich würde das Unterhaltsrecht – Kindes- und Ehegattenunterhalt – standardisieren. Die jetzige Regelung ist zu unklar, die Rechtsprechung übernimmt hier Gesetzgebungsaufgaben; der Ausgang in vielen Fällen ist relativ ungewiss – das läuft darauf hinaus, dass sich in der Sache die finanzstärkere Partei in der Regel durchsetzt. Die Führung eines Prozesses mit ungewissem Ausgang benötigt zu viel Ressourcen, d.h. zu viel Zeit, Geld und Energie für die Parteien.

Mit Standardisierung meine ich eine Art Tabelle, basierend auf möglichst wenigen Kriterien wie bsp. Einkommen beider Parteien, Alter der Parteien, Alter der Kinder und Dauer der Ehe/Beziehung.

Welches wäre Ihr wichtigster Tipp in familienrechtlichen Verfahren?

Eine Partei sollte mit dem «richtigen Mindset» ins Verfahren: Ein Gericht nimmt die Emotionen der Parteien in der Regel nicht auf – sie sind im Verfahren absolut nicht relevant; für die Parteien stehen die Emotionen hingegen an erster Stelle. Für die Parteien gilt es, die sachliche Ebene von der emotionalen Ebene vollkommen zu trennen – was sehr schwer ist und in der Regel ohne persönliches Coaching nicht möglich.
Aus diesem Grund erachte ich es für äusserst wichtig, dass die Parteien in einem ersten Schritt fundiert prüfen sollten, ob es zwischen ihnen eine einvernehmliche Ebene gibt, auf deren Basis eine gemeinsame Lösung gefunden werden kann. Wenn klar ist, dass dies nicht geht – braucht es eine gute Anwältin, welche das Prozess- und Familienrecht gut kennt.

Wie hat sich das Familienrecht in den vergangenen Jahren Ihrer Meinung nach verändert?

Die Vielfalt der gelebten Familienmodelle ist grösser und diverser geworden. Entsprechend wurden rechtliche Anpassungen gemacht: Heute ist gemeinsame elterliche Sorge Standard; früher wurde die elterliche Sorge nur einem Elternteil zugeteilt (und noch viel früher sprach man von «elterlicher Gewalt»). Seit einigen Jahren werden auch die BVG-Guthaben, welche während der Ehe erworben wurden je hälftig geteilt - dies gab es im Jahr 2000 noch nicht. Seit wenigen Jahren können auch BVG Alters-Renten geteilt werden. Das Vorsorgerecht ist also ins Zentrum des Familienrechts gerückt, was höchst sinnvoll ist.
Weiter wurde das Vormundschaftsrecht von Kindes- und Erwachsenenschutzrecht abgelöst.
Die Ehe für alle gilt seit gut einem Jahr, das ist ein grosser Fortschritt.

Welches sind Ihrer Meinung nach die grössten Stärken und Schwächen im Schweizer Familienrecht?

Schwäche: Das Recht basiert auf der Annahme, dass die Rollen zwischen Mann und Frau «gleichwertig» verteilt sind - das trifft nicht zu: Mann und Frau sind wohl gleichberechtigt, doch ist es immer noch so, dass die Care-Arbeit mehrheitlich von den Frauen erledigt wird. Selbstverständlich gibt es Männer, die anders sind und gleichwertig Care-Arbeit übernehmen, das ist aber nicht die Regel. Das führt dazu, dass Väter die Care-Arbeit in der Regel unterschätzen, wenn sie im Prozess darauf bestehen, die Hälfte der Kinderbetreuung zu übernehmen. Auf der anderen Seite fällt es Müttern schwerer, die Väter an der Kinderbetreuung teilhaben zu lassen.
Weiter Schwäche: Die Prozesse dauern in der Regel zu lange; familiäre Konflikte sind die schlimmsten Konflikte, weil sie sich im engen privaten Umfeld ereignen.

Stärke: Das Recht ist relativ ausdifferenziert, allerdings nicht im Unterhaltsrecht (vgl. oben)
Dennoch greift die Regelung von «Patchworkfamilien-Situationen» nicht immer, dies ist ein weiterer Grund für die von mir postulierte Standardisierung des Unterhaltsrechts

Weitere Stärken:

  • Vorsorgerecht – Teilung der BVG-Guthaben, die während der Ehe erworben wurden
  • AHV-Splitting bei Scheidung
  • Anrechnung von Erziehungsgutschriften in der AHV für die Erziehung von Kindern

Welches ist Ihrer Meinung nach die grösste Herausforderung im Schweizer Familienrecht in den kommenden 10 Jahren?

Die Familien- und Rollenmodelle nehmen exponentiell zu; die Vielfalt ist riesig; es gibt auch immer mehr «Patchworksituationen». Auf der anderen Seite führt die aktuell bestehende Differenzierung des Familienrechts zu längeren Prozessdauern; eine Erweiterung des «Gesetzesgeflechtes» könnte zu einem Kollaps unseres prozessualen Systems führen. Es braucht andere Konfliktlösungssysteme. Das Recht hätte dabei «nur» die Aufgabe, den Rahmen einer rechtlichen Regelung zu bieten (welcher z.B. die Grundrechte aller Beteiligten garantiert). Im Übrigen müsste der Konflikt eines Familiensystems nach den Regeln gelöst werden, welche dem konkreten System entsprechen. Dieser Ansatz müsste selbstverständlich noch verfeinert werden.

Rosa Renftle | legalis brief FamR 11.07.2023