Guy Bodenmann und Kimberly Geisnæs – «Das Kindeswohl sollte bei familienrechtlichen Verfahren eine zentrale Rolle einnehmen.»
Familienrecht

Prof. Dr. Guy Bodenmann und Kimberly Geisnæs, M.Sc., sind Psycholog:innen an der Universität Zürich.
Welche Verbindung haben Sie zum Familienrecht?
Guy Bodenmann: Als Paar- und Familienforscher habe ich keine direkte Verbindung zum Familienrecht, jedoch gibt es durch meine Forschung wie auch therapeutische Tätigkeit immer wieder Schnittpunkte mit dem Familienrecht, beispielsweise durch die Arbeit mit den psychischen und sozialen Folgen von Scheidungen. Bei elterlichen Konfliktsituationen, wie etwa Scheidungen, sind Kinder besonders vulnerabel. Um langfristige negative Konsequenzen für Kinder möglichst zu minimieren, können Erkenntnisse aus der Psychologie auch in einem familienrechtlichen Kontext Anwendung finden und von Nutzen sein.
Was sind alltägliche Herausforderungen im Zusammenhang mit einer Scheidung?
Kimberly Geisnæs: Trennungssituationen oder Scheidungen gehen meist mit ausserordentlichen psychischen Belastungen für alle Familienmitglieder einher. Die Bedürfnisse der Kinder rücken dabei meistens in den Hintergrund, da die Eltern häufig mit ihren eigenen Verletzungen und dem Rechtsstreit beschäftigt sind. Ca. 35-40 % aller Scheidungspaare, die in Beratung kommen, können als hochstrittig eingestuft werden.
Guy Bodenmann: Dies ist besonders problematisch, da hochstrittige Eltern meist nicht mehr adäquat auf die Bedürfnisse ihrer Kinder reagieren, wodurch das Risiko für kindliche Auffälligkeiten steigt. Auch ist die Wahrscheinlichkeit der Parentifizierung oder das Auftreten von Loyalitätskonflikten bei Kindern von hochstrittigen Eltern höher. Bei der Parentifizierung kommt es zu einer nicht-kindgerechten Verantwortungsübernahme von elterlichen Aufgaben und Funktionen. Bei Loyalitätskonflikten wird den Kindern das Gefühl vermittelt, dass sie sich für einen Elternteil entscheiden müssen. Meist geschieht dies unbewusst durch abfällige Bemerkungen über den Ex-Partner/die Ex-Partnerin oder bewusst durch emotionale Manipulation.
Kimberly Geisnæs: Sowohl die Parentifizierung wie auch Loyalitätskonflikte können die psychische Entwicklung von Kindern beeinträchtigen, weshalb das Kindeswohl bei familienrechtlichen Verfahren eine zentrale Rolle einnehmen sollte.
Wenn Sie die Möglichkeit hätten, etwas am Familienrecht ändern zu können, was wäre das?
Kimberly Geisnæs: Oft liegt der Fokus während eines Rechtsstreits auf den juristischen Interessen der Eltern, während den psychischen Auswirkungen auf die Kinder meist keine grosse Beachtung geschenkt wird. Es wäre daher sinnvoll, Erkenntnisse aus der Familienpsychologie in familienrechtliche Entscheidungen einzubeziehen, um das grösstmögliche Wohlbefinden aller Familienmitglieder zu erreichen.
Welches wäre Ihr wichtigster Tipp in familienrechtlichen Verfahren?
Guy Bodenmann: Kinder sollten in familienrechtlichen Verfahren nie als Mittel eingesetzt werden. Aus der Forschung weiss man, dass Kinder aus Scheidungsfamilien langfristig besser angepasst sind, wenn ihre Eltern gemeinsam ein konstruktives Co-Parenting (erziehungsmässig an einem Strang ziehen) führen. Im Zentrum sollte stets das Kindeswohl stehen, weshalb es von den Eltern eine emotionale Distanzierung von den eigenen Verletzungen und persönlichen Kränkungen erfordert. Hoch konfliktreiche Scheidungen können ein konstruktives Co-Parenting beeinträchtigen, weshalb Anwältinnen und Anwälte insbesondere in dieser Hinsicht aktiv unterstützen könnten, indem sie nicht nur auf juristische Maximalforderungen setzen, sondern auf eine faire und kooperative Lösung hinarbeiten. Auch könnte es sinnvoll sein, insbesondere bei hochstrittigen Eltern, die Inanspruchnahme von verpflichtenden psychologischen Beratungsangeboten oder Mediationen einzuführen.
Wie hat sich das Familienrecht in den vergangenen Jahren Ihrer Meinung nach verändert?
Kimberly Geisnæs: Eine bedeutende Veränderung des Schweizer Familienrechts ist sicherlich, dass seit 2016 die gemeinsame elterliche Sorge als Regelfall gilt. Dies kann als eine rechtliche Annäherung an die Erkenntnisse der psychologischen Forschung angesehen werden, die zeigt, dass Kinder von stabilen und kontinuierlichen Beziehungen zu beiden Elternteilen profitieren. Es gibt jedoch auch Daten, die zeigen, dass insbesondere der Kontakt von Vätern zu ihren Kindern nach einer Scheidung oft stark reduziert ist. Hier stellt sich die Frage, ob die rechtlichen Regelungen ausreichend sind, oder ob es strukturelle Hürden gibt, die eine gleichberechtigte Elternschaft (z.B. gleiche Betreuungszeit) erschweren.
Welches ist Ihrer Meinung nach die grösste Herausforderung im Schweizer Familienrecht in den kommenden 10 Jahren?
Guy Bodenmann: Die Zunahme von familienrechtlichen Verfahren deutet darauf hin, dass bestehende Herangehensweisen der Konfliktlösung nicht erfolgreich sind. Die grösste Herausforderung wird daher sein, insbesondere mit hoch konfliktreichen Scheidungen einen angemessenen Umgang zu finden, um die psychischen Langzeitfolgen für Kinder möglichst gering zu halten.
Kimberly Geisnæs: Die Frage wird sein, wie sich das Familienrecht weiterentwickeln kann, um destruktive Scheidungen frühzeitig abzufedern – sei es durch verstärkte Mediation, verpflichtende psychologische Beratungsangebote oder neue Sanktionsmassnahmen für Eltern, die ihre Kinder aus Eigeninteresse in den Konflikt hineinziehen.
Quellen
Guy Bodenmann, Klinische Paar- und Familienpsychologie, 2. Aufl., Bern 2016, Kapitel 5.
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Heinz Kindler/Sabeth Eppinger, Beratung hilft! Ein Leitfaden für Fachkräfte, die Eltern zu Trennung und Scheidung beraten München 2022.
Claus Koch, Trennungskinder. Wie Eltern und ihre Kinder nach Trennung und Scheidung wieder glücklich werden, Patmos 2022.
Volker Schmidt, Gemeinsames Sorgerecht, 2017.
Liselotte Staub, Trennung mit Kindern – was nun? Ratgeber für betroffene Eltern, Bern 2018.
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Simon Furler | legalis brief FamR 29.04.2025