Isabella Schibli – «Im Familienrecht gibt es nach einem strittigen Gerichtsverfahren keine Gewinner.»
Ehe, Eheschutz, Familienrecht, Kindesverhältnis, Kindsvertretung, Scheidungsverfahren, Verfahrensbeistandschaft
Isabella Schibli schloss ihr Studium mit einem zweisprachigen Master of Law an den Universitäten Basel und Genf ab. Bevor sie 2019 das Anwaltspatent erwarb, absolvierte sie Rechtspraktika in der Advokatur, an diversen Gerichten in den Kantonen BL und BS sowie beim Flüchtlingshochkommissariat der Vereinten Nationen in Washington D.C. Seit 2020 arbeitet sie als Rechtsanwältin und Kindesvertreterin in der Advokatur; zunächst war sie in einer mittelgrossen Kanzlei im Aargau tätig, aktuell ist sie bei WALDMANN PETITPIERRE Rechtsanwälte & Notare in Basel. Ihre bevorzugten Rechtsgebiete sind das Familien-, Straf- und Kindesschutzrecht. Sie absolvierte im Jahr 2023/2024 den CAS Kindesvertretung/Verfahrensbeistandschaft und ist unter anderem ein aktives Mitglied des Vereins Kinderanwaltschaft Schweiz.
Welche Verbindung haben Sie zum Familienrecht?
Während des Studiums war die Verbindung zwischen mir und dem Familienrecht keine freiwillige. Damals schwor ich mir sogar, niemals in diesem Rechtsgebiet tätig zu werden und erst recht nicht als Parteivertreterin. Doch es kam anders. In den Rechtspraktika packte das Familienrecht mein Interesse und meine Begeisterung so sehr, dass ich mittlerweile seit mehr als vier Jahren als Anwältin sowie als Kindesvertreterin im Familienrecht tätig bin.
Was sind Ihre alltäglichen Herausforderungen?
In keinem anderen Rechtsgebiet prallen so viele verschiedene Emotionen auf unser Rechtssystem. Insbesondere bei frischen Trennungen ist die Rechtsvertretung oft die erste Anlaufstelle für die Klientschaft. Je nach Hintergrund, Herkunft und psychischem Gesundheitszustand der Person geht es dann im ersten Moment oft nicht nur um das Rechtliche, sondern darum, der Klientschaft beim «Wiederaufbau» des Lebens zu helfen und sie auch auf Unterstützungsangebote von Dritten, Behörden, der Polizei oder Ärzten hinzuweisen. Menschen, die sich in vulnerablen Situationen befinden, aufzufangen, bedingt auf der Seite der Rechtsvertretung viel Geduld, Verständnis und insbesondere ein gesundes Gleichgewicht zwischen Empathie und Distanz. Dies gilt gleichermassen für die Besprechung mit der Klientschaft und für hitzige Verhandlungen vor Gericht.
Gibt es Anekdoten aus Ihrer Tätigkeit?
Ich war einmal in einem Verfahren involviert, wo nicht nur die Obhutszuteilung und die Unterhaltsfrage höchst strittig waren, sondern auch keine Einigung über die Zuteilung zweier 450 Liter grossen «ehelichen» Aquarien abzuzeichnen war. Das Gericht teilte dann jedem Ehegatten «ein 450-Liter-Aquarium inklusive der darin enthaltenen Fische und der darin enthaltenen Pflanzen» zu. Eine Vollstreckung des Urteils war («leider») nicht nötig.
Wenn Sie die Möglichkeit hätten, etwas am Familienrecht ändern zu können, was wäre das?
Gerade im Familienrecht kann man nach einem strittigen Gerichtsverfahren kaum von einem Gewinner oder einer Gewinnerin und einem Verlierer oder einer Verliererin sprechen. Leiden tun alle. Ich würde deshalb unterstützen, wenn Parteien bereits in einem viel früheren Stadium gehalten wären, gemeinsam und mit der Hilfe von Psychologen, Mediatoren und/oder Sozialarbeitern auf eine gemeinsame Lösung hinzuarbeiten. Einen frühen interdisziplinären Bezug würde ich insbesondere dann einführen, wenn Kinder der Brennpunkt des Streits sind, was leider zu oft der Fall ist.
Welches wäre Ihr wichtigster Tipp in familienrechtlichen Verfahren?
Gerade bei unüberbrückbaren Elternkonflikten habe ich von meiner ehemaligen Chefin einen Satz gehört, den ich gerne – wenn nötig – an meine Klientschaft weitergebe: Wollen Sie, dass Ihr Kind eines Tages entscheiden muss, wen es von Euch beiden (Eltern) zur eigenen Hochzeit einladen wird?
Mein Wunsch an Kollegen/Kolleginnen: Reden Sie ehrlich mit Ihrer Klientschaft über ihre Vorstellungen, Erwartungen und die Realität und tragen Sie nicht zur Zerrüttung der Familie bei.
Wie hat sich das Familienrecht in den vergangenen Jahren Ihrer Meinung nach verändert?
Die Unterhaltsberechnungen werden immer aufwendiger und mathematisch komplizierter.
Welches sind Ihrer Meinung nach die grössten Stärken und Schwächen im Schweizer Familienrecht?
Stärken: Trotz vieler Leitlinien im Gesetz und in der Rechtsprechung bleibt oft ein Ermessensspielraum für den Einzelfall.
Schwäche: Wenn man in verschiedenen Kantonen prozessiert, merkt man, dass die Gerichte trotz der bundesweit geltenden ZPO gerne ihre eigene Praxis durchsetzen. In gewissen Kantonen werden Verhandlungen im Familienrecht sehr formalistisch durchgeführt. In anderen Kantonen gilt ein entspannterer Verhandlungsablauf, wobei dann aber des Öfteren unklar bleibt, ob man nun in der Parteibefragung ist oder in nicht zu protokollierenden Vergleichsgesprächen.
Welches ist Ihrer Meinung nach die grösste Herausforderung im Schweizer Familienrecht in den kommenden 10 Jahren?
Dass der Gesetzgeber und die Rechtsprechung dem gesellschaftlichen Wandel nachkommen, insbesondere in Unterhaltsfragen sowie mit den Entwicklungen in der Fortpflanzungsmedizin.
Nadine Grieder | legalis brief FamR 30.07.2024