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VORGESTELLT

Nadine Grieder – «Im Familien- und Erbrecht planerisch, beratend und forensisch tätig sein zu können, bringt beiden meiner Tätigkeiten einen Mehrwert.»

Familienrecht

Nadine Grieder studierte Rechtswissenschaften an der Universität Basel und absolvierte nach dem Studium diverse Volontariate an einem erstinstanzlichen Zivilgericht, in einer Wirtschaftskanzlei in Basel und einem internationalen Chemiekonzern in der Konzernrechtsabteilung. Sie erlangte 2016 das Anwaltspatent im Kanton Basel-Stadt und wurde im Jahr 2021 als basellandschaftliche Notarin zugelassen. Seit 2022 ist Nadine Grieder als selbständige Advokatin und Notarin in Basel und Binningen tätig. Vor ihrer Tätigkeit als selbständige Advokatin und Notarin spezialisierte sie sich auf die Beratung von internationalen Privatklienten im Private Clients Team einer führenden Wirtschaftskanzlei in Zürich und auf Familien- und Erbrecht in einer Boutiquekanzlei in Basel. Seit 2023 ist Nadine Grieder zudem als Redaktorin für legalis brief – Fachdienst Familienrecht tätig.

Welche Verbindung haben Sie zum Familienrecht?

Schon seit ich denken kann, bin ich von zwischenmenschlichen Beziehungen fasziniert und fieberte im Studium am meisten der Familienrechtsvorlesung entgegen (was wohl nicht zuletzt auch unserem didaktisch starken Professor zu verdanken war). Zwar zog es mich nach Absolvierung des Anwaltsexamens in eine Zürcher Wirtschaftskanzlei, ich konnte dort aber wertvolle Erfahrungen im Bereich Private Clients sammeln, was mich darin bestärkte, mich im Bereich Familien- und Erbrecht zu spezialisieren. Dies war letztlich auch mein Hauptbeweggrund, zusätzlich das Notariatspatent zu erlangen.

Was sind Ihre alltäglichen Herausforderungen?

An meiner Tätigkeit als Parteivertreterin in diesem Tätigkeitsbereich finde ich es am herausforderndsten, dass gerade der Bereich Familienrecht ausserordentlich agil ist und wir als Anwältinnen und Anwälte damit einhergehend täglich mit teilweise unerwarteten Wendungen in den Mandaten konfrontiert sind – dies je nachdem, ob etwas Aussergewöhnliches im innerfamiliären Kontext des Klienten vorgefallen ist. Dies verlangt uns ab, dass wir bisherige Strategien schnell an neue Verhältnisse anpassen und unter Umständen innert kürzester Zeit entsprechende Gerichtseingaben verfassen, was wiederum eine flexible Anpassung der für den jeweiligen Tag geplanten Arbeitsaufteilung voraussetzt.

Gibt es Anekdoten aus Ihrer Tätigkeit?

Ja, da gibt es zahlreiche. An eine Anekdote erinnere mich aber ausserordentlich gerne, weil mich dieses Geschehnis sehr berührte. Als ich als Volontärin auf einem erstinstanzlichen Gericht tätig war und in der Funktion als Gerichtsschreiberin i.V. einer Scheidungsanhörung beiwohnen durfte, ereignete sich ein sehr emotionaler Moment: Kurz vor Abschluss der Anhörung fragte der Ehemann das Gericht, ob er seine Ehefrau noch ein letztes Mal küssen dürfe. Der Gerichtspräsident (ebenfalls sichtlich berührt) teilte mit, dass er dies seine (Noch-)Ehefrau fragen müsse. Sie willigte ein und es kam zu einem filmreifen Kuss, wonach das Gericht die Scheidung aussprach. Für mich war dieser Moment der Inbegriff des Familienrechts – denn sowohl als beratend als auch prozessierend tätige Anwältinnen und Anwälte dürfen wir nie aus den Augen verlieren, dass diese zwei Menschen (bzw. alle Familienmitglieder) mehr oder weniger den Rest des Lebens miteinander verbunden sein werden und die auseinandergebrochene Beziehung sowohl positive wie auch negative Spuren hinterlässt. Als Anwältinnen und Anwälte sind wir massgeblich daran beteiligt, wie sich (inner-)familiäre Konflikte entwickeln können, indem wir gewisse Strategien empfehlen oder davon abraten, obwohl die Rechtsvertretungen die betroffenen Klienten jeweils nur für einen kurzen bis mittelfristigen Zeitraum begleiten. Dieser Umstand darf in meinen Augen nie ausser Acht gelassen werden.

Welches wäre Ihr wichtigster Tipp in familienrechtlichen Verfahren?

Regelmässige Check-Ins mit den Klientinnen und Klienten, das Anhören und Berücksichtigen deren Emotionen, das schnelle Reagieren auf sich verändernde Umstände und die damit einhergehende rasche Anpassung einer Strategie bzw. regelmässige Überprüfung, ob eine bisherige Strategie weiterhin für die Klientin bzw. den Klienten stimmig ist.

Sie sind sowohl als Advokatin und als Notarin tätig. Was sind aus Ihrer Sicht aktuell die grössten planerischen Bedürfnisse von Ehegatten?

In meinen Augen gibt es zwei grundsätzliche planerische Bedürfnisse, welche beide jeweils gut umgesetzt werden können, nämlich entweder die Maximalbegünstigung und Absicherung der überlebenden Ehegattin bzw. des überlebenden Ehegatten oder (insbesondere) bei Patchworkfamilien die Gleichstellung sämtlicher Nachkommen. Es gibt aber zahlreiche weitere Bedürfnisse, wie beispielsweise der Schutz eines Familienvermögens oder aber auch spezielle Familienkonstellationen. Bezüglich Letzterem plante ich bereits den Nachlass für eine Situation, in welcher eine Person noch verheiratet (aber getrenntlebend) war und Nachkommen hinterliess, seit unzähligen Jahren aber mit einer neuen Person eine Beziehung pflegte und diese neue Person bestmöglich erbrechtlich absichern wollte. Wirken nicht alle Parteien in einer solchen Situation mit, kann keine Maximalbegünstigung (in dem Sinne wie es die Klienten verstehen, dass nämlich das gesamte Vermögen zu einer Wunschperson gelangen sollte) erreicht werden, was für Klientinnen und Klienten nicht immer oder nur schwer nachvollziehbar ist.

Sehen Sie Synergien zwischen Ihrer Tätigkeit als Rechtsvertretung und Ihrer Tätigkeit als Notarin?

Dass ich in der Lage bin, im Familienrecht (und im Erbrecht) sowohl auf der planerischen, beratenden wie auch auf der forensischen Ebene tätig zu sein, ist für mich absolut bereichernd und bringt beiden meiner Tätigkeiten einen Mehrwert, da ich einerseits über ein sehr fundiertes Fachwissen verfüge und andererseits auf der planerischen Seite als Notarin darin geschult bin, zu wissen, auf welche Punkte es bei der Erstellung von Ehe- und/oder Erbverträgen im Detail ankommt (da mir die strittige Seite des Familien- und Erbrechts ebenfalls bestens bekannt ist).

Welches sind Ihrer Meinung nach die grössten Schwächen im Schweizer Familienrecht?

In meinen Augen ist aktuell die grösste Schwäche, dass nach wie vor ein antiquiertes Steuersystem herrscht, welches Frauen benachteiligt. Eine Besteuerung, die vom Zivilstand unabhängig ist (sog. Individualbesteuerung), ist in meinen Augen dringend angezeigt. Ehepaare werden heute im Grunde genommen gestützt auf ein veraltetes Familienmodell besteuert, in welchem ein Ehegatte die Kinderbetreuung übernimmt und der andere einer Erwerbstätigkeit nachgeht. Ich bin der Meinung, dass sowohl Frauen wie auch Männer ihre Ausbildungen sollen nutzen können, um sich eigenständig zu versorgen und dies bei Ehepaaren nicht zu einer derartigen steuerlichen Benachteiligung führen sollte, welche darin mündet, dass gerade fantastisch ausgebildete Frauen nur in einem kleinen Pensum erwerbstätig sind, weil sich steuerlich ein volles Erwerbspensum schlichtweg nicht lohnt. Gerade geringe Erwerbspensen von Frauen sind in Anbetracht der neuerlichen Rechtsprechung des Bundesgerichts bezüglich nachehelichem Unterhalt heikel. Die Individualbesteuerung würde der Gleichstellung von Frauen und Männern dienen sowie eine Chancengleichheit herstellen.

Welches ist Ihrer Meinung nach die grösste Herausforderung im Schweizer Familienrecht in den kommenden 10 Jahren?

Die Anpassung des Rechtssystems an die veränderten Familienmodelle, welche in Realität bereits schon zahlreich gelebt werden, aber in der Rechtsprechung und Gesetzgebung noch zu wenig abgebildet sind.

Severin Boog | legalis brief FamR 31.03.2025