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VORGESTELLT

Patrick Fassbind – «Die Rechte, Bedürfnisse und Interessen der Kinder und Jugendlichen sollten im Zentrum stehen.»

Erwachsenenschutz, Familienrecht, Kindesschutzmassnahmen

Dr. iur. Patrick Fassbind ist Advokat sowie Präsident der Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde des Kantons Basel-Stadt.

Welche Verbindung haben Sie zum Familienrecht?

Das Familienrecht hat mich bereits sehr früh interessiert, da ich als Kind nicht verstehen konnte, weshalb meine Schulkolleginnen und Schulkollegen mehr Sackgeld erhalten als ich. Das war die Initialzündung meiner grenzenlosen Faszination für das Kindesrecht als Teil des Familienrechts. Meine Recherchen haben mich zum Zivilgesetzbuch geführt. Über 100 Franken hat mich der Erwerb des Zivilgesetzbuches (ZGB) in einem Kiosk-Buchladen gekostet. Fast ein Jahressackgeld. Eine Lösung für mein Problem habe ich im ZGB nicht gefunden, trotzdem hat mich das ZGB als mein Lieblingsbuch nie mehr losgelassen. Seither befinde ich mich im Familienrecht auf der Suche nach Antworten und Lösungen. In der Zwischenzeit immerhin etwas erfolgreicher als damals. Diese Faszination gipfelte in meinem Studium der Jurisprudenz, in meiner Dissertation zum Kindesrecht und später dann in meiner Tätigkeit im Kindes- und Erwachsenenschutz.

Was sind Ihre alltäglichen Herausforderungen?

Erstens: Risikoeinschätzungen. Das Richtige rechtzeitig zu tun, damit sich schwerwiegende Gefährdungen nicht realisieren, oder eben nichts zu tun, um nicht mehr zu schaden als zu nützen. Zweitens: Gemeinsam mit allen Betroffenen tragfähige Lösungen zu finden. Das gelingt in den allermeisten Situationen. Dafür sind eine Kommunikation auf Augenhöhe sowie Respekt und Verständnis nötig. Die Betroffenen sind als Expertinnen und Experten ihres eigenen Lebens anzuerkennen. Nur mit ihnen zusammen können nachhaltig wirksame Lösungen gefunden und umgesetzt werden. Drittens: Den gesellschaftspolitischen Anliegen immer gerecht zu werden. Jedes noch so gelagerte, gesellschaftlich nicht gelöste oder kontrovers diskutierte Problem landet letztlich immer bei der KESB. Transgender-, Impf- und Migrationsthematiken oder die Frage der alternierenden Obhut, um nur einige Themen zu nennen. Dies erfordert den erstinstanzlichen Behörden viel ab. Es ist Augenmass, Wissenschaftlichkeit und vollkommene Unvoreingenommenheit erforderlich. Im Zentrum steht das Wohl der betroffenen Kinder, Jugendlichen und Erwachsenen.

Gibt es Anekdoten aus Ihrer Tätigkeit (im Bereich Familienrecht)?

Unzählige. Geschichten, die das Leben schreibt. Nicht ausdenkbar. Skurrile Kuriositäten des Zusammenlebens. Lesen Sie nur familienrechtliche Bundesgerichtsentscheide. Ein Sammelsurium von Ausprägungen des menschlichen Daseins. In all seinen Facetten. Schreckliches, Tragisches aber auch Wunderschönes. Aus persönlichkeitsrechtlichen Gründen möchte ich aber nicht auf eine einzelne Anekdote eingehen. Am meisten prägen mich persönliche Begegnungen mit Betroffenen. Es gibt so viele Erfolgsgeschichten im Kindes- und Erwachsenenschutz. Über diese spricht niemand.

Wenn Sie die Möglichkeit hätten, etwas am Familienrecht ändern zu können, was wäre das?

Wir sollten von einem elternzentrierten zu einem kinderzentrierten Familienrecht übergehen. Die Rechte, Bedürfnisse und Interessen der Kinder und Jugendlichen sollten im Zentrum stehen. Nicht die Elternrechte. Dahin ist es noch ein langer Weg.

Welches wäre Ihr wichtigster Tipp in familienrechtlichen Verfahren?

Die Sicht der Kinder einzunehmen, mit den Kindern zu sprechen und sie ernst zu nehmen. Das gilt nicht nur für Gerichte und die Kindesschutzbehörden, sondern auch für die anwaltlichen Vertretungen der Eltern. Alle Verfahrensbeteiligten haben das grosse Ganze im Blick zu haben und nicht einseitige Individualinteressen zu vertreten. Art. 272 ZGB und Art. 274 Abs. 1 ZGB geben hier die Leitplanken vor: «Eltern und Kinder sind einander allen Beistand, alle Rücksicht und Achtung schuldig, die das Wohl der Gemeinschaft erfordert» und «Der Vater und die Mutter haben alles zu unterlassen, was das Verhältnis des Kindes zum anderen Elternteil beeinträchtigt oder die Aufgabe der erziehenden Person erschwert». Würden sich alle Verfahrensbeteiligten in familienrechtlichen Verfahren and diese programmatischen Bestimmungen halten, würde die Hälfte des Aufwands der Kindesschutzbehörden entfallen. Zum Wohl der betroffenen Kinder und Jugendlichen aber auch der Eltern, die alle sehr unter schwerwiegenden Elternkonflikten leiden.

Wie hat sich das Familienrecht in den vergangenen Jahren Ihrer Meinung nach verändert?

Die Dynamik hat sich rasend verstärkt. Vor allem die politische und gesellschaftliche Einflussnahme auf das Familienrecht ist enorm gestiegen. Dabei werden Einzelheiten angepasst, ohne die Gesamtkonzeption des Familienrechts im Auge zu behalten. Vieles bleibt unausgegorenes Stückwerk, welches nicht selten in der Parlamentsdebatte noch eingebracht wird und an allen Ecken und Enden zu Problemen führt. Als Beispiel kann der Begriff der Obhut genannt werden. Aus dem ZGB ist die Definition dieses zentralen Begriffs nicht mehr abzuleiten. Etliche Revisionen haben ihn immer konturloser gemacht. Familienrecht ist komplex und weist viele Interdependenzen auf. Früher haben hochdekorierte und interdisziplinär zusammengesetzte Expertenkommissionen jahrelang über einer Vorlage gebrütet. Aus einem politischen oder gesellschaftlichen Bedürfnis heraus erleben wir heute immer mehr Instantgesetzgebung. Es muss immer schneller gehen, weshalb berechtigte Bedürfnisse und Anliegen in den Gesetzgebungsprozess eingebracht werden, die dann aber ohne die notwendige wissenschaftlich-interdisziplinäre Fundierung Eingang ins ZGB finden. Die Zeit der Expertenkommissionen ist leider definitiv vorbei. Solche Gesetzgebungsprozesse führen in der Praxis nicht selten zu Problemen. Aus Uneinigkeit oder weil es zu heikel ist, überlasst das Parlament im Familienrecht die Beantwortung kontroverser Fragen zudem zunehmend der Praxis, was in Hinblick auf die Gewaltenteilung zu einer problematischen Verlagerung der Gesetzgebungsverantwortung hin zu den Gerichten und Behörden führt. Denken Sie nur an das Kindesunterhaltsrecht. Letztlich hatte das Bundesgericht festzulegen, was unter Betreuungsunterhalt zu verstehen ist. Ebenfalls dem Bundesgericht wurde überlassen, was unter alternierender Obhut zu verstehen ist und unter welchen Voraussetzungen diese gegen den Willen des hauptbetreuenden Elternteils zugeteilt werden kann.

Welches sind Ihrer Meinung nach die grössten Stärken und Schwächen im Schweizer Familienrecht?

Die grösste Stärke des schweizerischen Familienrechts ist, dass es immer noch den Geist Eugen Hubers beinhaltet. Immerhin ein bisschen. Kurz, prägnant, verständlich und mit vielen Generalklauseln, die es den anwendenden Gerichten und Behörden erlauben, dem Einzelfall gerecht zu werden. Leider besteht die Tendenz auch im schweizerischen Familienrecht dazu, immer detaillierter zu legiferieren. Die Schwäche des schweizerischen Familienrechts liegt darin, dass immer nur einzelne Aspekte revidiert wurden und vieles nicht mehr wirklich zusammenpasst. Es wird langsam Zeit für eine Gesamtrevision des Familienrechts. Eine solche macht mir aber aufgrund der ausgeführten Überlegungen heraus auch Angst. Wie im Kindes- und Erwachsenenschutz. Chancen und Risken liegen immer sehr nahe beieinander.

Welches ist Ihrer Meinung nach die grösste Herausforderung im Schweizer Familienrecht in den kommenden 10 Jahren?

Die notwendige Gesamtrevision des Familienrechts im Geiste Eugen Hubers zu bewerkstelligen. Zum Wohl der betroffenen Familien.

Simon Furler | legalis brief FamR 30.09.2024