Patrik Müller-Arenja – «Die Unterhaltsberechnung steht zu sehr im Zentrum und verdrängt andere Belange der Trennung/Scheidung.»

Familienrecht

Seit 2016 ist Patrik Müller-Arenja Präsident am Zivilgericht Basel-Stadt, wo er bereits zuvor und im Anschluss an das Advokaturexamen ab 2011 als Gerichtsschreiber und Schlichter tätig war. Neben seiner gerichtlichen Tätigkeit engagiert sich Patrik Müller-Arenja seit 2019 im Vorstand der Schweizerischen Richtervereinigung (SVR-ASM), für welche er als Experte in diversen Begleitgruppen des Bundes – unter anderem im Bereich des Familienrechts – mitwirkt. 

Welche Verbindung haben Sie zum Familienrecht?

Wenngleich wir am Zivilgericht Basel-Stadt auf Stufe Präsidium grundsätzlich keine Spezialisierung kennen und alle Bereiche des Privatrechts abdecken, bestimmt das Familienrecht meinen Alltag ganz besonders und macht etwa die Hälfte der Arbeit aus. 

Was sind Ihre alltäglichen Herausforderungen?

Die (gemeinsame) Lösungsfindung – denn ohne Lösung findet das Verfahren kein Ende. Erfreulicherweise gelingt dies in der Mehrzahl der Fälle bereits beim ersten Verhandlungstermin. In den seltenen Fällen, in denen bis zum Schluss keine einvernehmliche Lösung gefunden werden kann, ist es die Aufgabe des Gerichts, diese autoritativ herbeizuführen. Die grosse Herausforderung dabei ist, frühzeitig zu erkennen, in welchen Fällen es sich lohnt, Ressourcen in eine allfällige Einigung zu investieren und in welchen nicht vielmehr ein möglichst schneller Entscheid herbeizuführen ist. Erschwert wird diese Einschätzung durch das Wissen, dass im Familienrecht nur diejenigen Lösungen nachhaltig funktionieren, die von den Betroffenen mitgetragen oder zumindest akzeptiert werden können.  

Gibt es Anekdoten aus Ihrer Tätigkeit (im Bereich Familienrecht)?

Da gibt es gemessen an den hunderten von familienrechtlichen Verfahren sicherlich viele, was es schwierig macht, ein Beispiel herauszupicken. Neben vielen belastenden Momenten gibt es immer auch wieder schöne und zuweilen erheiternde Erlebnisse. Unabhängig davon führt die schiere Menge der zu bearbeitenden Fälle jedoch dazu, dass man als Richter kaum Gelegenheit hat, in diesen Momenten zu verharren. Vielmehr ist jeweils gleich der nächste Fall zu bearbeiten, und dann steht dieser wieder allein im Zentrum der Wahrnehmung.

Wenn Sie die Möglichkeit hätten, etwas am Familienrecht ändern zu können, was wäre das?

Wenn ich wüsste wie und eine zündende Idee hätte, würde ich das Unterhaltsrecht stark vereinfachen wollen. Dieses hat mittlerweile eine Komplexität angenommen, die es kaum noch möglich macht, den Betroffenen die zugrunde liegenden Berechnungen verständlich und auch für juristische Laien nachvollziehbar zu vermitteln. Aus erstinstanzlicher Sicht zu bedauern ist auch, dass sich eine Unterhaltsberechnung, welche sämtlichen gesetzlichen und in der Gerichtspraxis entwickelten Vorgaben gerecht werden will, kaum ohne komplexe Berechnungstabellen bewerkstelligen lässt. Dies mindert die Verständlichkeit gerichtlicher Urteile zusätzlich. Gerade die erstinstanzliche Justiz lebt aber davon, dass sie von den Rechtssuchenden verstanden wird. Denn nur ein Urteil, welches ich als Betroffener verstehe, vermag ich letztlich auch zu akzeptieren.    

Welches wäre Ihr wichtigster Tipp in familienrechtlichen Verfahren?

Auf die Gerichte zu hören und den Mut aufzubringen, sich auf ihre Vorschläge einzulassen. Denn meiner Erfahrung nach steht für die Richterinnen und Richter stets im Vordergrund, im Sinne der Betroffenen ausgewogene Lösungen zu finden.   

Wie hat sich das Familienrecht in den vergangenen Jahren Ihrer Meinung nach verändert?

Dass das Unterhaltsrecht wesentlich komplexer wurde, habe ich zuvor bereits angesprochen. Die Anforderungen an die Unterhaltsberechnung haben meiner Wahrnehmung nach zusätzlich dazu geführt, dass die Berechnung als solches zu sehr im Zentrum steht bzw. zu viel Raum einnimmt und andere – mindestens genauso wichtige – Belange der Trennung/Scheidung ein wenig verdrängt werden.  

Welches sind Ihrer Meinung nach die grössten Stärken und Schwächen im Schweizer Familienrecht?

Die grösste Stärke ist gleichzeitig auch die grösste Schwäche. Das Schweizer Rechtssystem im Allgemeinen und das Familienrecht im Speziellen setzt darauf, dem Gericht in vielen Fragen ein erhebliches Ermessen einzuräumen. Dies ist einerseits ein Vorteil, wenn es darum geht, flexibel individuelle Lösungen zu finden. Andererseits erfordert die Ausübung des gerichtlichen Ermessens auch eine viel höhere Begründungsdichte, was zu erheblichem Aufwand in der Beurteilung führt. Insbesondere hochstrittige Verfahren werden dadurch verzögert und dauern in Kombination mit der stets hohen Geschäftslast der Gerichte teils (zu) lange.   

Welches ist Ihrer Meinung nach die grösste Herausforderung im Schweizer Familienrecht in den kommenden 10 Jahren?

Das Familienrecht hat in den letzten Jahren erhebliche Veränderungen erfahren. Die Praxis der kommenden Jahre wird weiterhin davon geprägt sein, diese gesetzlichen Anpassungen umzusetzen und Wege zu finden, sinnvoll damit umzugehen. Dabei darf nicht vergessen werden, dass die Entwicklung der Rechtsprechung Zeit braucht. Schliesslich hat man sich vor Augen zu halten, dass es in der Regel jeweils die hochstrittigen Fälle sind, die an das Bundesgericht gelangen, welches wiederum die Eckpfeiler definiert. Innerhalb der dadurch aufgestellten Leitplanken hat sich die Rechtsprechung der unteren Gerichte kontinuierlich zu entwickeln. Falsch erscheint mir dahingegen, aufgrund der vom Bundesgericht beurteilten Extremfälle und der begleitenden Medienberichterstattung in gesetzgeberischen Aktionismus zu verfallen. Denn – und dies sei hier abschliessend betont – in der ganz dominierenden Mehrheit der Fälle kommt es auch unter geltendem Recht und vor der ersten Instanz zu angemessen Lösungen.

Lisa Eisenhut-Hug | legalis brief FamR 14.11.2023