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VORGESTELLT

Thomas Geiser – «Die Regeln für den Kindesunterhalt sind unnötig kompliziert geworden und nicht mehr zeitgemäss.»

Familienrecht

Prof. Dr. iur. Dr. h.c. Thomas Geiser hat sein Studium der Rechtswissenschaften, sein Doktorat und seine Habilitation in Basel und danach das Anwalts- und Notariatsexamen in Solothurn absolviert. Er ist em. Professor an der Universität St. Gallen (HSG) mit Schwerpunkt Familien- und Erbrecht sowie Arbeits- und Sozialversicherungsrecht, nebenamtlicher Richter am Bundesgericht sowie Mitglied in verschiedenen eidgenössischen Expertenkommissionen insbesondere zur Revision des Familienrechts.

Welche Verbindung haben Sie zum Familienrecht?

Ich stamme aus einer Familie mit komplizierten Verhältnissen, so dass mich das Familienrecht schon immer interessierte. Nach dem Studium arbeitete ich dann im Bundesamt für Justiz bei den grossen Familienrechtsrevisionen mit (Eherecht, Fürsorgerische Freiheitsentziehung, Scheidungsrecht). Anschliessend war ich Gerichtsschreiber an der Kammer des Bundesgerichts, die sich um Familienrecht kümmert, und schliesslich Autor von vielen Publikationen im Familienrecht. Es hat mich mein ganzes Berufsleben begleitet.

Was sind Ihre alltäglichen Herausforderungen?

Familienrechtliche Streitigkeiten sind immer hoch emotional. Die grosse Herausforderung ist es, die Parteien dazu zu bringen, zu ihrer Emotionalität vollständig zu stehen, aber für die Lösung der rechtlichen Probleme die Diskussion auf einer praktischen Ebene zu führen. Nur wenn sich die Parteien den emotionalen Aspekten voll bewusst sind, können sie auch darüber hinweggehen zu rationalen Überlegungen.

Gibt es Anekdoten aus Ihrer Tätigkeit (im Bereich Familienrecht)?

Das neue Eherecht wäre im Parlament fast an der Namensfrage gescheitert. Als in der nationalrätlichen Kommission ein Nationalrat namens Meier die Namensfrage als nebensächlich bezeichnete, erklärte Nationalrätin Josi Meier, für sie sei die alte Namensregelung ein Grund gewesen, nicht zu heiraten. Es gab einige Lacher, worauf sie erklärte, die Auswahl unter den «Meiers» sei ihr eben zu klein gewesen.

Wenn Sie die Möglichkeit hätten, etwas am Familienrecht ändern zu können, was wäre das?

Die Kinderfragen sind im Gesetz viel zu rechtslastig geregelt. Beim Erwachsenenschutz hat man ausdrücklich festgehalten, dass die Massnahmen massgeschneidert sein müssen. Das müsste auch in Bezug auf Kinderfragen nicht nur bezüglich der behördlichen Massnahmen, sondern auch bezüglich der Aufgabenverteilung zwischen den Eltern festgehalten werden.

Welches wäre Ihr wichtigster Tipp in familienrechtlichen Verfahren?

Ein grosses Problem ist die Vertretung der Kinder durch einen Elternteil bei Verfahren gegen den andern. Der Interessenkonflikt ist eigentlich evident. Er wird aber ohne Weiteres in Kauf genommen. Damit wird die Partner- und die Elternebene hoffnungslos vermischt und es werden viele negative Emotionen produziert.

Wie hat sich das Familienrecht in den vergangenen Jahren Ihrer Meinung nach verändert?

Zweifellos haben sich die Rollen von Vater und Mutter angeglichen. Das ist einerseits sehr positiv, macht aber andererseits Entscheidungen im Konfliktfall nicht einfacher. Heute kann man auch davon ausgehen, dass grundsätzlich beide Eltern wirtschaftlich selbständig sind. Damit entfällt praktisch der nacheheliche Ehegattenunterhalt.

Welches sind Ihrer Meinung nach die grössten Stärken und Schwächen im Schweizer Familienrecht?

Rechtlich ist die Gleichberechtigung von Mann und Frau verwirklicht; die Gesellschaft hat da allerdings im Praktischen noch einiges aufzuholen. Das Familienrecht ist grundsätzlich flexibel und belässt damit den Parteien die Freiheit in der Lebensgestaltung. Es hat auch ein sehr liberales Scheidungsrecht. Allerdings sind die Regeln für den Kindesunterhalt unnötig kompliziert geworden und auch nicht mehr zeitgemäss. Das Bundesgericht hat in verdankenswerter Weise versucht, die Rechtsprechung zu vereinheitlichen. Die gewählte Lösung hat die Sache allerdings noch komplizierter gemacht und geht bei den inzwischen häufigen Patchworkfamilien auch nicht mehr auf.

Welches ist Ihrer Meinung nach die grösste Herausforderung im Schweizer Familienrecht in den kommenden 10 Jahren?

Die Lebensformen werden vielfältiger und damit komplexer. Zudem werden die Lebensentwürfe individualistischer. Die Rechtsordnung muss diesen ganz unterschiedlichen Biografien Rechnung tragen. Das stellt die Rechtssetzung vor eine grosse Herausforderung.

Simon Furler | legalis brief FamR 29.08.2024