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VORGESTELLT

«Unterschiede im Rollenverständnis machen es im Alltag schwierig, eine Partnerschaft auf Augenhöhe zu leben.»

Familienrecht

Für dieses Interview wurde eine Person befragt, die von einer im Familienrecht tätigen anwaltlichen Vertretung begleitet wurde. Beide bleiben aus Gründen des Persönlichkeitsschutzes anonym.

Welche Verbindung haben Sie zum Familienrecht?

Ich habe keine juristische Ausbildung, aber persönliche Erfahrungen in meinem privaten Umfeld und auch in meiner eigenen Beziehung gemacht. Gerade in multikulturellen Beziehungen, in denen unterschiedliche Vorstellungen über Rollenverteilung und Gleichberechtigung bestehen, spielen familienrechtliche Fragen eine grosse Rolle – besonders wenn es um den Schutz von Frauenrechten geht.

Was sind Ihre alltäglichen Herausforderungen?

Im Alltag geht es oft darum, Beruf, Familie und andere Verpflichtungen unter einen Hut zu bringen. Wenn dann familienrechtliche Fragen auftauchen – etwa bei Trennung –, fehlt manchmal das Wissen oder der Zugang zu Unterstützung.

Für mich ist es oft herausfordernd, mit einer Beziehung umzugehen, in der Gleichberechtigung nicht selbstverständlich ist. Wenn eine Frau eher als jemand gesehen wird, der zu «dienen und gehorchen» hat, ist das nicht nur emotional belastend, sondern stellt auch die eigenen Werte infrage. Diese Unterschiede im Rollenverständnis machen es im Alltag schwierig, eine Partnerschaft auf Augenhöhe zu leben.

Wenn Sie die Möglichkeit hätten, etwas am Familienrecht ändern zu können, was wäre das?

Ich würde mir wünschen, dass das Recht sensibler auf kulturell bedingte Machtverhältnisse in Beziehungen reagiert. Frauen, die in solchen Konstellationen leben, brauchen Schutz und Unterstützung – vor allem dann, wenn sie sich nicht trauen, für ihre Rechte einzustehen. Mehr Aufklärung und leicht zugängliche Beratungsstellen für Betroffene (nicht nur aus anderen Kulturkreisen) wären enorm wichtig.

Des Weiteren würde ich mir wünschen, dass Verfahren einfacher und menschlicher gestaltet werden – weniger formal, dafür mit mehr Raum für offene Kommunikation und individuelle Lösungen. Auch müsste das Recht mehr auf verschiedene Lebensrealitäten eingehen – zum Beispiel auf multikulturelle Partnerschaften, bei denen verschiedene rechtliche und kulturelle Vorstellungen aufeinandertreffen.

Welches wäre Ihr wichtigster Tipp in familienrechtlichen Verfahren?

Der wichtigste Tipp aus meiner Sicht ist: Nimm dich selbst ernst. Es ist wichtig, sich frühzeitig Hilfe zu holen – rechtlich wie psychologisch. Und sich nicht einreden zu lassen, dass man «übertreibt» oder «schuld» ist. Das Recht sollte eine Stütze sein, wenn man das Gefühl hat, im eigenen Leben nicht mehr frei entscheiden zu können.

Welches sind Ihrer Meinung nach die grössten Stärken und Schwächen im Schweizer Familienrecht?

Eine Stärke ist sicher, dass der Schutz von Kindern und auch von Frauen gesetzlich verankert ist. Gleichzeitig habe ich das Gefühl, dass es oft an der Umsetzung und an der Erreichbarkeit dieser Schutzmechanismen fehlt – besonders für Menschen in belastenden oder kulturell komplexen Beziehungen. Nicht jede Frau weiss, wo sie Hilfe findet oder ob sie überhaupt Anspruch darauf hat.

Schwächen sehe ich darin, dass sich manche Verfahren über Jahre hinziehen können, was für alle Beteiligten sehr belastend ist. Zudem ist es für Laien oft schwierig, sich zurechtzufinden. Da könnten bessere Informationen und mehr niederschwellige Angebote helfen.

Welches ist Ihrer Meinung nach die grösste Herausforderung im Schweizer Familienrecht in den kommenden 10 Jahren?

Ich sehe die grösste Herausforderung darin, den kulturellen Wandel mitzutragen, ohne die Augen vor Ungleichheiten zu verschliessen. Multikulturelle Familien haben grosses Potenzial – aber das kann sich nur entfalten, wenn alle Beteiligten gleichberechtigt sind. Es braucht dringend mehr Bewusstsein dafür, dass traditionelle Rollenbilder in gewissen Kulturen Frauen systematisch benachteiligen – und dass das nicht einfach unter dem Stichwort «kulturelle Unterschiede» hingenommen werden darf.

Autorenschaft Familienrecht | legalis brief FamR 30.06.2025