Andreas Hösli – «Die Kunst bei ESG besteht darin, etwas sehr Komplexes auf das Wesentliche herunterzubrechen.»
Gesellschaftsrecht, Nachhaltigkeit, Sorgfaltspflichten, Transparenz
Andreas Hösli ist Rechtsanwalt (Senior Associate) im Corporate/M&A-Team bei Walder Wyss mit Fokus auf ESG und Nachhaltigkeit. Zu diesen Themen referiert und publiziert er regelmässig.
Er studierte an der Universität Zürich (lic.iur, 2011, magna cum laude) und an der Universität Neuchâtel. Nach einem Auditorat am Bezirksgericht Zürich und dem Erlangen des Anwaltspatents 2014 war er als Rechtsanwalt bei Schellenberg Wittmer Ltd tätig. Im Jahr 2018 schloss er ein LL.M.-Studium an der University of New South Wales in Sydney mit Auszeichnung ab; 2019 begann er sein vom Schweizerischen Nationalfonds gefördertes Dissertationsprojekt zum Thema «Corporate Climate Responsibility» (Universität Zürich, Forschungsaufenthalte an der Universität Kopenhagen sowie an der Universität Oslo), eine rechtsvergleichende Studie zur Sorgfaltspflicht von Verwaltungsräten im Kontext von Klimarisiken.
Welche Verbindung haben Sie zum Gesellschaftsrecht?
Als ich im Studium an der Universität Zürich das erste Mal mit dem Gesellschaftsrecht in Kontakt kam, war es nicht gerade Liebe auf den ersten Blick. Alles tönte sehr kompliziert, die Professoren trugen Anzüge und gewisse Kommilitonen gefielen sich dabei, in den Pausen über das Fusionsgesetz zu referieren. As ich mich dann allerdings – zunächst widerwillig – über das Lehrbuch von Mayer-Hayoz/Forstmoser beugte, stellte ich zu meiner Überraschung allmählich fest, dass hier ein faszinierendes Rechtsgebiet vorliegt, welches unser Leben in vielerlei Hinsicht stark beeinflusst. Bei den Abschlussprüfungen (damals noch lic.iur.) erreichte ich mit etwas Glück sogar die Höchstnote, was mich darin bestärkte, diesem Rechtgebiet zugeneigt zu bleiben. Schliesslich führte meine Affinität sogar dazu, dass ich 2019 eine Doktorarbeit im Gesellschaftsrecht (an der Schnittstelle zum internationalen Recht) in Angriff nahm und heute im Corporate/M&A-Team bei Walder Wyss tätig bin.
Woher kommt Ihre Leidenschaft für das Thema Umwelt und Soziales (ESG)?
Ich fühlte mich schon immer der Natur sehr verbunden. Mit den Jahren ist mir immer klarer geworden, dass wir vor zahlreichen massiven Umweltproblemen stehen; der Klimawandel ist dabei nur die Spitze des Eisbergs. Viel davon hängt damit zusammen, wie die globale Wirtschaft funktioniert, und vieles hängt zudem mit sozialen und Governance-Themen zusammen – und schon ist man bei ESG. Durch meine Forschungsarbeit bin ich für mich zum Schluss gekommen, dass unsere traditionelle Auffassung, die internationale Staatengemeinschaft (sofern es diese überhaupt noch gibt) werde globale Themen wie eben z.B. den Klimawandel schon irgendwie in den Griff bekommen, die Rolle von Unternehmen völlig vernachlässigt. Dabei stehen Unternehmen im Zentrum der «Dekarbonisierung» in den kommenden Jahren. Dies in der Welt des Gesellschaftsrechts noch weiter zu etablieren, sehe ich als meine Aufgabe und Passion an.
Was sind Ihre alltäglichen Herausforderungen im Bereich Gesellschaftsrecht und ESG?
Beruflich beschäftige ich mich inzwischen hauptsächlich mit ESG-Themen, oft in einem gesellschaftsrechtlichen Kontext. Herausforderungen gibt es zahlreiche. Erstens ist die Thematik ESG kein klar umrissenenes Gebiet, sondern eher ein Buzzword. Häufig mangelt es im Diskurs noch am klaren Verständnis, was unter ESG überhaupt genau zu verstehen ist bzw. welche Aspekte in der sich konkret stellenden Frage überhaupt eine Rolle spielen. Um hier vernünftig beraten zu können, bedarf es vertiefter Auseinandersetzung mit einer Vielfalt von Themen, von denen die meisten nicht juristischer Art sind, zum Beispiel Klimawissenschaft, Klimaökonomie und Entwicklungen bei Aktionärspräferenzen. Konkret werden beispielsweise oftmals «ESG-Klauseln» in Vertragswerke eingebaut, um gewissen Erwartungen zu entsprechen. Was dann aber genau darunter zu verstehen ist oder wie diese vertraglichen Verpflichtungen zu erfüllen sind, ist vielfach nicht durchdacht. Zweitens ist das regulatorische Geflecht äusserst komplex, transnational und extrem dynamisch. Ein schier undurchschaubarer Dschungel an internationalen Standards, Regulierungen und Selbstregulierungen macht es schwer, überall à jour zu sein. Auch hier ist daher vertieftes Studium und stetige Weiterentwicklung von Nöten. Letztlich besteht die Kunst darin, etwas sehr Komplexes auf das Wesentliche herunterzubrechen, verständlich zu erklären und praktikabel anzuwenden – das ist meine Aufgabe. Erfreulich ist, dass man ESG grundsätzlich kaum mehr «verteidigen» oder einen ESG-Business-Case erklären muss; diese Message ist in der Wirtschaft definitiv angekommen.
Was sind Ihrer Meinung nach die grössten Stärken und Schwächen des Schweizer Gesellschaftsrechts, insbesondere auch im Hinblick auf ESG?
Eine Stärke ist meines Erachtens die im Vergleich zu anderen Ländern eher knappe und prinzipienbasierte Regulierung. Hierdurch ist das Schweizer Gesellschaftsrecht im Prinzip in der Lage, komplexe Fragestellungen wie zum Beispiel die Berücksichtigung von Klimarisiken im Interesse der Gesellschaft adäquat aufzufangen. Dies könnte andersherum aber auch als Schwäche ausgelegt werden, da es oftmals an konkreten Vorgaben mangelt.
Wenn Sie die Möglichkeit hätten, etwas am Gesellschaftsrecht ändern zu können, was wäre das?
Tendenziell beschäftige ich mich lieber mit dem Status quo als mit möglichen Gesetzesänderungen. Theoretisch überlegen könnte man sich, eine der Section 172 des UK Company Act ähnliche Bestimmung einzuführen, welche vereinfacht gesagt explizit festhält, dass sich Verwaltungsräte in der Erfüllung ihrer Sorgfaltspflicht mit sozialen und Umweltthemen auseinandersetzen müssen. Das gilt in der Schweiz aber unter gewissen Voraussetzungen ohnehin bereits heute. Ein zweites Thema wäre, die Verbindlichkeit von Transitionsplänen und Treibhausgasreduktionszielen zu erhöhen; die Schweizer TCFD-Verordnung (Verordnung über die Berichterstattung über Klimabelange) ist hier etwas schwammig und wählt einen «comply-or-explain»-Ansatz. Ein drittes Thema wäre die Verpflichtung zur Berücksichtigung von Klimaauswirkungen im Finanzmarkt in Umsetzung des Pariser Übereinkommens, was derzeit noch mehrheitlich auf Freiwilligkeit bzw. Selbstregulierung basiert.
Ich glaube aber, dass die Kraft der Regulierung, substanzielle Verhaltensänderungen herbeizuführen, tendenziell etwas überschätzt wird, erst recht wenn man ein transnationales Problem wie den Klimawandel mit nationaler Regulierung erfassen will. So oder anders werden Änderungen am Schweizer Gesellschaftsrecht kommen, insbesondere durch Anpassungen des OR an EU-Richtlinien wie die CSRD (Richtlinie zur unternehmerischen Nachhaltigkeitsberichterstattung) und die CSDDD (Lieferketten-Richtlinie). Interessant ist, zu beobachten, wie sich die Marktpraxis in der Schweiz bereits angepasst hat. Gerade im Bereich ESG ist das OR nur ein Teil der Geschichte. Viele Unternehmen sind international tätig und müssen sich ohnehin an internationale Standards oder im Ausland geltendes Recht – zum Beispiel das eben in Kraft getretene Deutsche Lieferkettensorgfaltspflichtengesetz – halten. Wichtig sind in diesem Zusammenhang insbesondere die OECD-Leitsätze für multinationale Unternehmen zu verantwortungsvollem unternehmerischem Handeln, welche seit deren Update 2023 konkrete Empfehlungen zum Thema Klima haben, insbesondere Transitionspläne und Emissionsminderungsziele
Wie hat sich das Gesellschaftsrecht in den vergangenen Jahren Ihrer Meinung nach verändert? Wurden ESG-Anliegen genügend berücksichtigt?
Angestossen durch die Konzernverantwortungsinitiative ist einiges ins Rollen gekommen. Durch die sogenannt nicht-finanziellen Berichterstattungsvorschriften im OR sind die nota bene strafbewehrten Transparenzerfordernisse im ESG-Bereich stark gestiegen. Diese Entwicklung wird angesichts dessen, dass sich die Schweiz weiterhin an das EU-Recht (CSRD) anpassen müssen wird, weitergehen, wobei hier die Stichworte externe Prüfung («assurance») und doppelte Materialität sind. Auch im Bereich Klima hat die Schweiz vorwärts gemacht mit ihrer TCFD-Verordnung. Im Moment sind wir noch auf einer frühen Stufe der Berücksichtigung von ESG-Kriterien, welche sich zumeist auf Reporting beschränkt. Die kommende Stufe ist Sorgfaltsprüfung (Due Diligence), was bedeutet, dass man nicht nur über Risiken berichtet, sondern diese Risiken durch Ergreifung konkreter Gegenmassnahmen auch tatsächlich adressiert und mindert. Beispielsweise wird es künftig nicht mehr genügen, über die eigenen Treibhausgasemissionen zu berichten; man muss diese auch tatsächlich mindern und hierüber wiederum Bericht erstatten. Das geschieht natürlich teils heute schon, vor allem im Rahmen des Risikomanagements, aber es wird immer mehr zur rechtlich explizit formulierten Pflicht für Unternehmen, Verwaltungsrat und Geschäftsleitung.
Welche ist Ihrer Meinung nach die grösste Herausforderung im Schweizer Gesellschaftsrecht in den kommenden 10 Jahren, insbesondere auch im Hinblick auf ESG?
Das Schweizer Gesellschaftsrecht wird sich weiter auf laufende Anpassungen an die globalen Entwicklungen, insbesondere diejenigen in der EU, einstellen müssen. Der Schritt von Reporting hin zu konkreten Aktionen, zur Due Diligence, birgt riesige Herausforderungen. Die grösste Herausforderung ist es, zu vermitteln und aufzuzeigen, dass ESG keine mühsame Compliance-Übung ist, sondern, falls durchdacht und ernsthaft angegangen, einen erheblichen Mehrwert für das Unternehmen bieten kann. Der rechtliche Rahmen spielt hierbei natürlich eine wichtige Rolle.
Mark Meili | legalis brief GesR 29.04.2024