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VORGESTELLT

Urs Aegerter – «Es gibt keine strukturierte Ausbildung zum Handelsrichter.»

Gesellschaftsrecht

Urs Aegerter, Betriebsökonom FH und diplomierter Wirtschaftsprüfer, ist Mitinhaber und Geschäftsführer der AEGERTER+BRÄNDLE AG für Steuer- und Wirtschaftsberatung sowie nebenamtlicher Handelsrichter am Handelsgericht des Kantons St. Gallen. Darüber hinaus ist er als Verwaltungsrat in zahlreichen Unternehmen tätig. Neben seiner beruflichen Tätigkeit war er mehrere Jahre Prüfungsexperte bei den eidgenössischen Diplomprüfungen für Wirtschaftsprüfer und wirkte als Referent bei Seminaren der Treuhand-Kammer mit. Seine umfassende Expertise in den Bereichen Wirtschaftsprüfung, Unternehmensrecht und betriebswirtschaftliche Beratung prägt seine beruflichen und ehrenamtlichen Tätigkeiten.

Sie sind Betriebsökonom und Wirtschaftsprüfer, führen eine Steuer- und Wirtschaftsberatung und sind als nebenamtlicher Handelsrichter am Handelsgericht des Kantons St. Gallen tätig. Wie wurden Sie Handelsrichter?

Auf das Amt des Handelsrichters wurde ich von einem befreundeten Anwalt aus St. Gallen aufmerksam gemacht, mit dem ich auf verschiedenen Mandaten zusammengearbeitet hatte. Er war damals Kantonsrat der gleichen Partei und Mitglied der Rechtspflegekommission. Als ein Sitz am Handelsgericht in unserer Partei frei wurde, hielt er nach geeigneten Kandidaten Ausschau und kam auf mich zu. Vor der Wahl musste ich einen Fragebogen ausfüllen und einen Lebenslauf einreichen. Schliesslich wurde ich von der Rechtspflegekommission des Kantons St. Gallen zu einem Gespräch geladen. Dieses dauerte etwa eine Stunde und diente dazu, die Amtsvoraussetzungen wie Leumund und Eignung als Richter zu prüfen. Im Idealfall wird man daraufhin vom Kantonsrat gewählt. In der Regel gibt es für jeden Sitz nur einen Kandidaten auf der Wahlliste. Nach der Wahl folgt die Vereidigung. Eine Amtsperiode dauert sechs Jahre.

Können Sie etwas über Ihre Tätigkeit als Handelsrichter erzählen?

Das Handelsgericht des Kantons St. Gallen ist anders organisiert als beispielsweise das in Zürich. Hier gibt es 25 Handelsrichter, die alle aus der Praxis kommen. Dazu gehören Fachleute aus dem Treuhandbereich, Architekten, Bauingenieure und Unternehmer. Der Spruchkörper besteht dann immer aus einem Gremium von fünf Richtern: zwei Berufsrichtern und drei Handelsrichtern.

Die Verfahren beginnen in der Regel nach dem ersten Schriftwechsel mit einer Instruktionsverhandlung. Diese wird vom verfahrensleitenden Richter – in der Regel dem Handelsgerichtspräsidenten – zusammen mit einem Handelsrichter und einem Gerichtsschreiber durchgeführt. In dieser Verhandlung, die nicht protokolliert wird, gibt man eine erste Einschätzung der Chancen und diskutiert die Knackpunkte des Falls. Ziel ist es, eine Einigung zwischen den Parteien zu erzielen. Oft unterbreitet das Gericht einen Einigungsvorschlag. Kommt keine Einigung zustande, folgt der zweite Schriftenwechsel und die Hauptverhandlung, an der dann der ganze Spruchkörper teilnimmt. Wenn die Parteien auf die Hauptverhandlung verzichten, was aus ihrer Sicht Sinn machen kann, da mündlich keine neuen Informationen eingebracht werden dürfen, dann gibt es eine Beratung ohne Öffentlichkeit unter den fünf Richtern.

Wer bestimmt die Zusammensetzung des Gerichts?

Die Zusammensetzung des Gerichts wird von der Verfahrensleitung, also vom Handelsgerichtspräsidenten festgelegt. Dabei wird darauf geachtet, dass der Handelsrichter für den jeweiligen Fall geeignet ist und über die notwendige Fachkenntnis verfügt. Ich werde meist bei Fällen hinzugezogen, die Zahlen oder wirtschaftliche Bewertungen betreffen, oder wenn es sich um besondere Fragestellungen handelt. Bei Bausachen bin ich beispielsweise nicht dabei, aber bei Themen wie Anlagestrategien oder Bankfällen werde ich häufig angefragt, da ich zwar Erfahrung im Bankwesen habe, aber davon unabhängig bin.

Wie zufrieden sind Sie mit der Rolle des Handelsgerichts bzw. des Handelsrichters?

Im Grossen und Ganzen bin ich zufrieden. Eine Schwierigkeit sehe ich allerdings darin, dass es keine strukturierte Ausbildung oder Einführung in das Amt gibt. Der Präsident des Handelsgerichts hat mich damals an einem Nachmittag in St. Gallen eingearbeitet und mir die Abläufe erklärt – das war der gesamte Umfang der Vorbereitung. Danach steckt man sofort im ersten Fall, liest Klageschriften, studiert Akten und muss sich auf Basis eines Referats eine Meinung bilden.

Die Aufgabe eines Handelsrichters besteht weniger darin, juristische Fragen im Detail zu klären, sondern vielmehr darin, das Gesamtbild im Auge zu behalten. Oft haben beide Parteien Fehler gemacht, und es geht darum, anhand der Akten und Berichte eine sinnvolle Einschätzung zu treffen. Ein Beispiel aus meiner Praxis ist eine Klage auf Kaufpreisminderung im Rahmen eines Unternehmenskaufs. Hier war meine Expertise als Wirtschaftsprüfer gefragt, um Fragen zur Due Diligence zu klären, insbesondere, was dabei üblich ist. Solche Fälle zeigen, wie wichtig die praktische Erfahrung von Handelsrichtern für die Einschätzung von Sachverhalten ist, die Berufsrichter allein oft nicht abdecken können.

Was sind die Hauptfragen, die Sie am Gericht zu klären haben?

Mehrheitlich werde ich zu Fällen hinzugezogen, bei denen es um Forderungen, Haftpflichtansprüche, Mietverträge, Kaufverträge, Gewährleistungsfragen, Unternehmensbewertungen oder Personalvermittlung geht, häufig auch im Zusammenhang mit Banken. Ein Beispiel aus jüngerer Zeit waren Fälle zu coronabedingten Streitigkeiten oder zu Negativzinsen. In der Regel liegt der Schwerpunkt meiner Tätigkeit auf der Ermittlung und Einschätzung von Schadenshöhen. Hier ist weniger juristisches Fachwissen erforderlich, sondern vielmehr die Fähigkeit, die Berechnungen praxisorientiert und mit gesundem Menschenverstand nachzuvollziehen.

Gelegentlich werde ich auch bei gesellschaftsrechtlichen Fragen hinzugezogen, etwa wenn es darum geht, die ordnungsgemässe Durchführung einer Verwaltungsratssitzung zu prüfen. Solche Fragen treten insbesondere dann auf, wenn die Konfliktparteien stark zerstritten sind.

Gibt es im Gesellschafts- und Handelsrecht einen Bereich, den sie besonders gern ändern würden?

Ich sehe im Kaufvertragsrecht, insbesondere bei den Gewährleistungsregelungen, Reformbedarf. Diese Regelungen sind veraltet und entsprechen nicht mehr den heutigen Anforderungen. Häufig ist das Gesetz keine ausreichende Hilfe, weshalb sich das Handelsgericht stark an der Bundesgerichtspraxis orientiert. Allerdings ist es manchmal schwierig, eine klare einheitliche Linie aus dieser Praxis abzuleiten. Auch bei der Auslegung von Innominatkontrakten gibt es Unsicherheiten, die selbst Berufsrichter vor Herausforderungen stellen. In solchen Fällen wären klarere gesetzliche Grundlagen hilfreich, um mehr Rechtssicherheit zu schaffen.

Marc Hanslin | legalis brief GesR 02.12.2024