Valentin Jentsch – «Gesellschaftsrecht fungiert zunehmend als Sammelbecken für gesellschaftspolitische Anliegen.»
Gesellschaftsrecht
Valentin Jentsch ist Professor an der Universität St.Gallen und affiliiert mit der Abteilung für Unternehmens- und Steuerrecht des Münchener Max-Planck-Instituts für Steuerrecht und Öffentliche Finanzen. Seine Forschungsschwerpunkte umfassen hauptsächlich das Gesellschafts- und Kapitalmarktrecht sowie Grundfragen der Privatrechtsordnung. In diesen Rechtsgebieten publiziert er regelmässig Bücher und Fachartikel und tritt als Referent im In- und Ausland auf. Zudem ist Valentin Jentsch als selbständiger Rechtsanwalt und Gutachter tätig, vorwiegend im Bereich des Gesellschaftsrechts.
Welche Verbindung haben Sie zum Gesellschaftsrecht?
Ich habe schon immer gerne Gesellschaftsrecht gemacht. Bereits im Studium hat mich dieses Fach besonders interessiert. Das Gesellschaftsrecht war auch ein zentraler Gegenstand meiner Dissertation über Transaktionsvereinbarungen bei öffentlichen Übernahmen. Im Rahmen eines Nachdiplomstudiums in den USA konnte ich meine Grundkenntnisse im Gesellschaftsrecht weiter vertiefen, insbesondere in theoretisch-konzeptioneller Hinsicht. Wichtige Praxiserfahrung in diesem Gebiet durfte ich daraufhin beim Zürcher Anwaltsbüro Homburger sammeln.
Vor diesem Hintergrund habe ich mich entschieden, eine weiterführende Qualifikationsarbeit (Habilitation) mit Schwerpunkt im Gesellschaftsrecht zu verfassen. Seit Mai 2022 vertrete ich nun das Fach Gesellschaftsrecht in Lehre und Forschung an der Universität St.Gallen.
Was hat Ihren Entscheid bekräftigt, in der Lehre tätig zu sein?
Gute Frage. Es sind natürlich immer mehrere Faktoren, die da hineinspielen. Ganz wichtig war in meinem Fall sicherlich der Umstand, dass ich schon immer stark angetrieben war von der Vorstellung, wissenschaftlich zu arbeiten. Es entspricht vielleicht auch meinem Naturell, den Fragen, die mich interessieren und die mir wichtig sind, gründlich nachzugehen. Im Rahmen meiner Forschungstätigkeit kann ich genau das tun.
Eine Lehrtätigkeit an der Universität ist anspruchsvoll und erfüllend zugleich. Die Zusammenarbeit mit jungen, motivierten Menschen bereitet mir grosse Freude. Bei der Vorbereitung meiner Vorlesungen entdecke ich immer wieder Rechtsfragen, die in Literatur und Rechtsprechung bisher nicht oder nur unzureichend behandelt werden. Es ist durchaus eine Herausforderung, diese nicht immer ganz einfachen Fragestellungen für Studierende mit noch relativ wenig gesellschaftsrechtlichem Vorwissen aufzubereiten. Umso bereichernder ist es, wenn neue Lösungsansätze gleich im Unterricht entwickelt werden können.
Was sind Ihre alltäglichen Herausforderungen im Bereich Gesellschaftsrecht?
Eine der grössten Herausforderungen, mit der ich mich tagtäglich konfrontiert sehe, betrifft meine Ressourcenallokation zwischen Mode- und Trendthemen einerseits und klassischen Problemstellungen aus dem Gesellschaftsrecht andererseits. Besonders gefragt – im Rahmen der Referententätigkeit, aber auch von den einschlägigen Zeitschriften – sind aktuelle Themen mit Bezug zur Nachhaltigkeit im Unternehmensrecht, beispielsweise Klimaklagen oder die Nachhaltigkeitsberichterstattung. Es braucht Zeit, um sich in diese Themen und die sich dabei stellenden Rechtsfragen einzudenken und passende Lösungsansätze zu entwickeln – Zeit, die dann natürlich fehlt, um die Grundlagenforschung andernorts weiter voranzutreiben.
Weitere Herausforderungen meiner Tätigkeit betreffen ebenfalls Allokationsfragen. Durch die Semestertaktung weitgehend vorgegeben ist, wieviel Zeit und Ressourcen für die Lehre und für die Forschung eingesetzt werden. Während laufendem Vorlesungsbetrieb verbleibt kaum Raum für tiefgründige Forschungstätigkeiten; dafür ist die vorlesungsfreie Zeit da. Immer neu zu beurteilen ist aber auch die Aufteilung, wie viel Zeit und Ressourcen in langfristige Buchprojekte oder in Zeitschriftenartikel und andere Beiträge investiert werden sollen.
Was sind Ihrer Meinung nach die grössten Stärken und Schwächen des Schweizer Gesellschaftsrechts?
Eine der grössten Stärken des Schweizer Gesellschaftsrecht ist die darin angelegte Flexibilität für die Rechtsgestaltung. Gesellschaftsrecht ist weitgehend dispositives Recht, mit entsprechenden Gestaltungsmöglichkeiten. In dieser Gestaltungsfreiheit liegt ein wesentlicher Vorteil des Schweizer Gesellschaftsrechts gegenüber ausländischen Rechtsordnungen.
Eine Schwäche des Schweizer Gesellschaftsrechts, die wohl vor allem mit der Kleinräumigkeit der Schweiz zusammenhängt, vielleicht auch mit der fehlenden Streitlust der Schweizerinnen und Schweizer, ist die unterschiedliche rechtsdogmatische Durchdringung der einzelnen Gesellschaftsformen in Literatur und Rechtsprechung. Zur AG gibt es beispielsweise mehrere umfangreiche Lehr- und Handbücher, die sich auf einen relativ reichhaltigen Korpus von Gerichtsentscheidungen abstützen können. Bei der GmbH, der schon seit einigen Jahren populärsten Gesellschaftsform in der Schweiz, gibt es bedeutend weniger Fachliteratur und nur eine Handvoll publizierter Entscheide des Bundesgerichts. Ähnlich verhält es sich im Personengesellschaftsrecht. Unter dem Gesichtspunkt der Rechtssicherheit ist das suboptimal.
Wenn Sie die Möglichkeit hätten, etwas am Gesellschaftsrecht ändern zu können, was wäre das?
Es hört sich verlockend an, etwas komplett neu und besser zu denken. Bevor man sich dafür ausspricht, eine grundlegende Neuordnung zu schaffen, sollte man dem bestehenden System genügend Zeit und Raum lassen, um sich zu etablieren, und gegebenenfalls nachbessern, nicht aber gleich alles über den Haufen werfen. Das scheint mir ganz grundsätzlich einmal wichtig.
Unter den einzelnen Gesellschaftsformen besteht selbstverständlich in recht unterschiedlichem Mass Anpassungs- und Reformbedarf. Das Aktienrecht wurde bekanntlich auf den 1.1.2023 einer «grossen» Revision unterzogen, die immerhin rund 30 Jahre gedauert hatte. Eine verpasste Chance war hier sicherlich die Einführung von Loyalitätsaktien in der Form einer Treuedividende. Für am stärksten revisionsbedürftig halte ich derzeit das Genossenschaftsrecht. Ich befürchte, der Bundesrat ist in seinem Bericht vom Dezember 2022 nicht weit genug gegangen.
Wie hat sich das Gesellschaftsrecht in den vergangenen Jahren Ihrer Meinung nach verändert?
Die augenscheinlichste Veränderung liegt darin, dass Gesellschaftsrecht nicht mehr reines Organisationsrecht ist, sondern zunehmend als «Sammelbecken» für gesellschaftspolitische Anliegen fungiert. Bei der Regulierung der Entschädigungen der obersten Führungskräfte von Publikumsgesellschaften und der Geldwäscherei- und Terrorismusbekämpfung lassen sich durchaus unternehmensrechtliche Erklärungsansätze anführen, weshalb es solche Vorschriften braucht. Andere Themen (z.B. Diversität und Gleichbehandlung der Geschlechter oder Klimaschutz und Menschenrechte) sind zumindest nicht genuin gesellschaftsrechtlicher Natur.
Es lässt sich zudem feststellen, dass die Grundsätze des Typenzwangs und der Typenfixierung insofern relativiert werden, als gewisse Rechtsinstitute mit rechtsformneutraler Bedeutung für alle Gesellschaftsformen von praktischer Bedeutung sind. Ein solches Rechtsinstitut ist etwa die mitgliedschaftliche Treuepflicht. Zudem lässt sich beobachten (und das ist auch gut so), dass vermehrt mit gesellschaftsformübergreifenden Analogien und Wertungen gearbeitet wird, insbesondere im Rahmen von Generalklauseln und unbestimmten Rechtsbegriffen.
Welche ist Ihrer Meinung nach die grösste Herausforderung im Schweizer Gesellschaftsrecht in den kommenden 10 Jahren?
Die wohl grösste Herausforderungen im Schweizer Gesellschaftsrecht liegt auch in den kommenden Jahren darin, international anschlussfähig zu bleiben. Ebenso wie in anderen Rechtsgebieten befinden wir uns auch im Gesellschaftsrecht im Wettbewerb mit anderen Rechtsordnungen um günstige Rahmenbedingungen für Unternehmen. Ein funktionierendes und attraktives Gesellschaftsrecht ist demnach ein wesentlicher Standortfaktor.
Besondere Herausforderungen stellen sich im Verhältnis der Schweiz zur Europäischen Union. Nach meinem Dafürhalten ist es allerdings weder erforderlich noch sinnvoll, in jedem Punkt «europakompatibel» zu sein; eine gewisse Rechtsvereinheitlichung liegt aber zweifellos auch im Interesse der Schweizer Unternehmen, die europaweit tätig sind. In meiner aktuellen Forschungstätigkeit setze ich mich damit näher auseinander.
Adrian Schmidlin | legalis brief GesR 25.03.2024