Lena Stünzi – «Das Angebot an bezahlbarem Wohnraum ist zu klein.»
Mietrecht

Lena Stünzi studierte an der Universität Zürich und ist seit 16 Jahren in der Zürcher Rechtspflege tätig. Sie amtete als Gerichtsschreiberin am Bezirksgericht Meilen und am Obergericht Zürich und war als Ersatzrichterin an diversen Bezirksgerichten im Kanton im Einsatz. Seit 2020 ist sie gewählte Bezirksrichterin am Bezirksgericht Horgen und präsidiert in dieser Funktion das Mietgericht Horgen.
Wann sind Sie das erste Mal mit dem Mietrecht in Kontakt gekommen?
Bei der Unterzeichnung des Mietvertrages für meine erste eigene Wohnung. Damals habe ich mich gewundert, weshalb es für ein vermeintlich so einfaches Rechtsgeschäft einen 6-seitigen Vertrag braucht. Heute weiss ich es besser.
Was sind Ihre alltäglichen Herausforderungen?
Der Tonfall im Gerichtssaal hat sich – nicht nur in mietrechtlichen Streitigkeiten – verschärft. Während noch vor einigen Jahren im Diskurs mit den Parteien häufig gute Lösungen erarbeitet werden konnten, treffen wir heute oftmals auf ausserordentlich verhärtete Fronten. Das Bedürfnis, die eigenen Prinzipien durch Inanspruchnahme von rechtlichen Instrumenten bestätigt zu wissen, ist in vielen Fällen grösser als der Wunsch nach einer für alle passenden Lösung. Diese Tendenz spiegelt wohl eine gesamtgesellschaftliche Entwicklung.
Gibt es Anekdoten aus Ihrer Tätigkeit im Bereich Mietrecht?
Es ist nicht empfehlenswert, im Rahmen eines Kündigungsschutzverfahrens die gesamte Nachbarschaft als Zeugen aufzubieten, um zu beweisen, dass man ein guter Mitmieter war. Spätestens nach der mehrstündigen Beweisverhandlung mit 20 Zeugenaussagen besteht nämlich ein Konflikt – und zwar unter allen Nachbarn.
Wenn Sie die Möglichkeit hätten, etwas am Mietrecht/Mietsystem ändern zu können, was wäre das?
Die kantonale Rechtsprechung, wonach bei umfassenden Sanierungen die an die Mieterschaft bezahlten Inkonvenienzentschädigungen zu den Investitionskosten gezählt werden, erachte ich als falsch. Diese Inkonvenienzentschädigung dient dem Ausgleich der Einschränkungen der den Mietenden vertraglich zugesicherten Nutzungsrechte. Die Überwälzung der Entschädigungskosten auf die Mieterschaft im Rahmen der Mietzinserhöhung steht daher diametral dem eigentlichen Zweck der Zahlungen entgegen. Andernfalls hätte die zu entschädigende Mieterschaft faktisch ihre eigene Entschädigung über einen erhöhten Mietzins zu finanzieren. Das kann nicht der Sinn einer Inkonvenienzentschädigung sein.
Welches wäre Ihr wichtigster Tipp an die Vermieter, welches an die Mieter?
Zahlreiche Unstimmigkeiten könnten verhindert werden, wenn Vermieterschaft und Mieterschaft offen miteinander kommunizieren würden. In gerichtlichen Verfahren offenbart sich häufig eine jahrelange Vorgeschichte, in welcher beide Seiten Frust und Unmut angestaut haben, welcher nun generalisierend entladen wird. Ein frühzeitiger, direkter Kontakt würde Abhilfe schaffen.
Welches sind Ihrer Meinung nach die grössten Stärken und Schwächen im Schweizer Mietwesen?
Die paritätische Zusammensetzung sowohl der Schlichtungsbehörde als auch des Kollegiums am Mietgericht erachte ich als Stärke. Die fachkundige Unterstützung durch die Interessenvertreter bringt eine zusätzliche Perspektive und fördert die Akzeptanz von Lösungsvorschlägen und Urteilen.
Als Schwäche des Schweizer Mietwesens sticht die übermässige Komplexität ins Auge. Eine lege artis durchgeführte Berechnung der zulässigen Rendite oder des zulässigerweise auf den Mieter zu überwälzenden Betrages bei wertvermehrenden Investitionen ist selten anzutreffen.
Welches ist Ihrer Meinung nach die grösste Herausforderung im Schweizer Mietwesen in den kommenden 10 Jahren?
Das Angebot an bezahlbarem Wohnraum ist zu klein. Am linken Zürichsee-Ufer verschwinden fortlaufend ehemalige Arbeitersiedlungen und werden durch luxuriöse Neubauten ersetzt. Die (teilweise langjährigen) Mieter und Mieterinnen werden mit Sanierungskündigungen konfrontiert und können sich in der Folge einen Umzug innerhalb der Gemeinde aufgrund der explodierenden Mietzinse in dieser Region nicht leisten. Davon betroffen sind oft Familien und ältere Menschen, welche auf der Suche nach bezahlbarem Wohnraum nicht nur den Bezirk, sondern häufig sogar den Kanton verlassen müssen. Diese Entwicklung ist bedenklich.
Irene Biber | legalis brief MietR 02.04.2025