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VORGESTELLT

Lukas Casciaro – «Das Mietrecht betrifft den privatesten Bereich der Menschen.»

Mietrecht

Lukas Casciaro studierte an der Universität Zürich und erwarb das Zürcher Anwaltspatent. Er sammelte Erfahrungen als Gerichtsschreiber an verschiedenen Bezirksgerichten und am Obergericht Zürich sowie als Ersatzrichter am Bezirksgericht Bülach. Seit März 2018 ist er gewählter Bezirksrichter am Bezirksgericht Dietikon.  Er ist Vorstandsmitglied der FDP Bezirk Dietikon.

Wann sind Sie das erste Mal mit dem Mietrecht in Kontakt gekommen?

Vor einigen Jahren als privater Mieter, der mit einem Ameisennest zu kämpfen hatte. Beruflich betrat ich mit der Übernahme des Mietgerichtspräsidiums im Frühling 2022 spannendes (und letztlich nicht ganz unvertrautes) Neuland.

Was sind Ihre alltäglichen Herausforderungen?

Die mietrechtlichen Streitigkeiten werden – wie die gerichtlichen Streitigkeiten im Allgemeinen – komplexer und leider auch gehässiger. Vor diesem Hintergrund gilt es, den Parteien trotz gescheiterter Schlichtung möglichst frühzeitig im Verfahren einen verständlichen und manchmal kreativen Lösungsvorschlag zu unterbreiten. Eine weitere Herausforderung stellt das erforderliche technische Verständnis dar, welches insbesondere bei Mängelbeseitigungsklagen erforderlich ist. Erfreulicherweise stellt sich dieses mithilfe fachkundiger Beisitzerinnen und Beisitzer und nicht selten auch dank eines Augenscheins mit Erklärungen der Parteien schliesslich regelmässig auch ohne Gutachten ein. 

Gibt es Anekdoten aus Ihrer Tätigkeit im Bereich Mietrecht?

Das Mietrecht betrifft den privatesten Bereich der Menschen. So gibt es sehr wohl entsprechende kuriose Anekdoten. Beispielsweise waren sich Vermieter und Mieterin schon darin einig, dass der Verzugszins auf die aufgelaufenen Mietzinsen fortlaufend mit sexuellen Dienstleistungen abgegolten worden sei.

Wenn Sie die Möglichkeit hätten, etwas am Mietrecht/Mietsystem ändern zu können, was wäre das?

Gerade im aktuellen Zinsumfeld zeigte sich, dass die Anpassung der Mietzinsen an den Referenzzinssatz per einseitiger Vertragsänderung (Erhöhung, Art. 269d OR) bzw. Herabsetzungsbegehren (Reduktion, Art. 270a OR) zu Schwierigkeiten führt. Vermieter sehen sich nebst dem administrativen Aufwand häufig mit Schlichtungs- oder gar gerichtlichen Verfahren konfrontiert, insbesondere wenn die Mietzinserhöhung wegen eines gestiegenen Referenzzinssatzes mit einer Erhöhung aufgrund Teuerung und «allgemeiner Kostensteigerung» kombiniert wird. Mieter dürften es nicht selten versäumen, bei einer Referenzzinssatzsenkung ein Herabsetzungsbegehren zu stellen. Vor diesem Hintergrund könnte der Gesetzgeber prüfen, ob eine freiwillige oder gar obligatorische Koppelung der Mietzinsen an den Referenzzinssatz und an den Landesindex der Konsumentenpreise zu einer Vereinfachung und mehr Transparenz für beide Seiten führen würde, wobei in diesem Fall zumindest Art. 269b OR anzupassen wäre. Im selben Zug könnte der Gesetzgeber auch prüfen, ob in Konkretisierung von Art. 269a lit. b OR Regeln für die Anpassung von Mietzinsen aufgrund «allgemeiner Kostensteigerung» erlassen werden könnten. Die pragmatischerweise von den Schlichtungsbehörden verfolgte Praxis mit Pauschalen von 0,25–1% pro Jahr steht nämlich nicht nur grundsätzlich im Konflikt mit der bundesgerichtlichen Praxis, welche konkrete Kostensteigerungen als Ausgangspunkt verlangt, sondern ist auch noch schweizweit uneinheitlich. Es bleibt zu bedenken, dass pauschale Mietzinserhöhungen aufgrund «allgemeiner Kostensteigerungen» ohne zugrundeliegende effektive Kostensteigerungen zu einer Mietzinsentwicklung führen, welche die (separat zu berücksichtigende) Teuerung übersteigt und somit dazu beiträgt, dass Mietzinsen langfristig einen immer grösseren Teil des Haushaltsbudgets von Mieterinnen ausmachen. Gleichzeitig muss es dem Vermieter unbenommen bleiben, effektive Kostensteigerungen, insbesondere von alternden Gebäuden mit tiefen Mietzinsen, unkompliziert geltend zu machen. Andernfalls würde die abnehmende Rentabilität dazu führen, dass keine Investitionen mehr getätigt werden oder gar ein frühzeitiger Ersatzbau erfolgt.

Welches wäre Ihr wichtigster Tipp an die Vermieter, welches an die Mieter?

Vermieter und Mieter stehen in einer (häufig) unfreiwillig engen schicksalhaften Beziehung. Diesem Umstand sollten beide Seiten mehr Rechnung tragen. Wenn Probleme entstehen, seien es Zahlungsschwierigkeiten, Reklamationen von anderen Mietern, Mängel an der Mietsache etc., wäre es zielführend, möglichst frühzeitig im persönlichen Gespräch nach Lösungen zu suchen. Vor Mietgericht wird dem Mieter nicht selten vorgeworfen, er sei «sehr unzuverlässig» oder schlicht «ein ganz schlechter Mieter», dem Vermieter auf der anderen Seite, er «lasse das Haus verkümmern» oder sei «nie erreichbar für die Anliegen des Mieters». Ein frühzeitiger, konstruktiver Austausch könnte dies vermeiden.

Wie hat sich das Mietwesen in den vergangenen Jahren Ihrer Meinung nach verändert?

Insbesondere in den Ballungsräumen – ich spreche z.B. vom Grossraum Zürich – sind die Mieten stark gestiegen und der Leerwohnungsbestand im unteren und mittleren Preissegment ist äusserst tief. Dies führt zu einer starken Politisierung des Mietwesens und zeigt sich manchmal auch im Mietprozess in verhärteten Fronten. Ausserdem werden Wohnungen bei einem Auszug faktisch dauerhaft untervermietet oder unter der Hand vergeben. Letzteres kann zu Marktverzerrungen führen, Ersteres zu mietrechtlichen Problemen.

Welches sind Ihrer Meinung nach die grössten Stärken und Schwächen im Schweizer Mietwesen?

Das Schweizer Mietwesen wird von einem gut ausbalancierten Obligationenrecht kontrolliert. Dies ist eine grosse Stärke. Der Kündigungsschutz berücksichtigt angemessen die Interessen beider Seiten. Die Mietzinskontrolle funktioniert und führt, jedenfalls solange ein funktionierender Markt besteht, zu angemessenen Mietzinsen. Durch die Kündigungssperrfrist zum Schutz des Mieters nach einem Mietprozess wird sichergestellt, dass diese Mechanismen nicht zur blossen Makulatur werden, weil die Mieter sich nicht trauen, zu klagen. Das paritätische Justizwesen würde ich vor allem als Stärke bezeichnen, da es Know-how und Akzeptanz bringt. Es ist aber auch eine kleine Schwäche, weil es eine gewisse Schwerfälligkeit durch den Einbezug gerichtsexterner Schlichter und Mietrichterinnen mit sich bringt. Eine grosse «Schwäche» liegt im knappen Raumangebot in den Städten, welches zu einer angespannten Situation auf dem Wohnungsmarkt führt.

Welches ist Ihrer Meinung nach die grösste Herausforderung im Schweizer Mietwesen in den kommenden 10 Jahren?

Die grösste Herausforderung liegt in der Beseitigung der Ursachen und Bewältigung der Folgen des ausgetrockneten Wohnungsmarkts. Die Politik ist gefordert, an allen Fronten besonnen an den Rädchen zu drehen, jedoch keine ideologischen und kurzsichtigen Würfe zu tätigen. Es ist im Auge zu behalten, dass einerseits jede Einwohnerin die Möglichkeit haben muss, eine Wohnung zu mieten, welche ihren Bedürfnissen und Möglichkeiten entspricht. Es wird aber nicht möglich sein, dass ein jeder in seiner Wunschstadt oder gar in seinem Wunschquartier eine kostengünstige, bedarfsgerechte Wohnung findet. Deshalb muss entweder der Staat die Wohnungen (nach welchen Kriterien auch immer) «verteilen», oder ein funktionierender Markt muss über die Mietzinsgestaltung diese Rolle übernehmen. So oder so werden die Mieterinnen und Mieter je länger desto mehr Kompromisse machen müssen betreffend Wohnort, Quartier und Wohnungsgrösse. Soweit die Allokation von Mietobjekten über den Markt geschieht, muss den Vermietern ein gewisser Spielraum für die Erhebung von Marktmieten verbleiben, während umgekehrt der Missbrauch von Marktmacht zu verhindern ist. Abschliessend ist daran zu erinnern, dass sich Vermieten auch lohnen muss: Zum einen ist dies Voraussetzung für zukünftige private Investitionen in die Schaffung von Wohnraum. Zum anderen hängen davon unsere Renten der Pensionskassen ab, welche die bedeutendsten Eigentümerinnen von Renditeliegenschaften sind.

Christoph Meyer | legalis brief MietR 07.08.2024