Tom Meienberger - «Die Unterscheidung zwischen relativer und absoluter Empfangstheorie sollte aufgegeben werden.»
Mietrecht, Pacht, Schlichtungsbehörde
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Tom Meienberger hat an der Universität Zürich studiert und ist seit 2007 Gerichtsschreiber mbA am Bezirksgericht Zürich. Die Fragen beantwortet er hauptsächlich aus der Sicht seiner Tätigkeit als Vorsitzender in Schlichtungsverfahren in Miet- und Pachtsachen.
Wann sind Sie das erste Mal mit dem Mietrecht in Kontakt gekommen?
Die ersten Berührungspunkte mit dem Mietrecht gab es mit der Unterzeichnung eines privaten Mietvertrages und während des Studiums. Eingehender mit dem Mietrecht habe ich mich als Auditor befasst, als ich beim Mietgericht Zürich tätig war. Richtig eingetaucht in die Materie bin als Vorsitzender der Schlichtungsbehörde in Miet- und Pachtsachen des Bezirkes Zürich.
Was sind Ihre alltäglichen Herausforderungen?
Familie aufwecken, Frühstück bereitstellen und schauen, dass die Kinder mit der erforderlichen Ausstattung rechtzeitig auf dem Schulweg sind. Der Rest des Tages ist dann ein «Spaziergang».
Gibt es Anekdoten aus Ihrer Tätigkeit im Bereich Mietrecht?
Unzählige; ich könnte ein Buch schreiben. Hier eine Kurze: Aufgrund der Säumnis der klagenden Partei, wurde das Verfahren betreffend Kündigungsschutz/Anfechtung als gegenstandslos abgeschrieben. Mit rund 45 Minuten Verspätung erschien der Rechtsanwalt in Begleitung des Klägers zum Verhandlungstermin und musste verdutzt zur Kenntnis nehmen, dass es seit Einführung der ZPO die Respektstunde nicht mehr gab; die ZPO war damals schon seit Jahren in Kraft.
Wenn Sie die Möglichkeit hätten, etwas am Mietrecht/Mietsystem ändern zu können, was wäre das?
Als Vorsitzender in Schlichtungsverfahren würde ich mir vordergründig im prozessualen Bereich Änderungen wünschen; u.a. folgende:
- Vermögensrechtliche Streitigkeiten: Die Möglichkeit einen Urteilsvorschlag zu unterbreiten (Art. 210 Abs. 1 lit. c ZPO) bzw. einen Entscheid zu fällen (Art. 212 ZPO), sollte streitwertunabhängig sein.
- Persönliches Erscheinen: Es sollte dem Vermieter ermöglicht werden, sich in vermögensrechtlichen Streitigkeiten – unabhängig vom Streitwert – von der Liegenschaftenverwaltung vertreten zu lassen (Art. 204 Abs. 3 lit. c ZPO mit Hinweis auf Art. 243 ZPO).
In Bezug auf Lehre und Rechtsprechung würde ich mir wünschen, dass die Unterscheidung zwischen relativer und absoluter Empfangstheorie aufgegeben würde. Bei Kündigungen ist es für einen Laien kaum nachvollziehbar, dass die 30-tägige Anfechtungsfrist bereits mit der ersten Abholmöglichkeit zu laufen beginnt und nicht mit dem (allenfalls mittels Zustellfiktion fingierten) Erhalt, zumal dies auf dem amtlichen Formular so angegeben wird.
Welches wäre Ihr wichtigster Tipp an die Vermieter, welches an die Mieter?
Vermieter und Mieter sollen zur Schlichtungsverhandlung mit einer lösungsorientierten Grundhaltung erscheinen und sich bei Vertretungsverhältnissen mit entsprechenden Vollmachten ausweisen können.
Wie hat sich das Mietwesen in den vergangenen Jahren Ihrer Meinung nach verändert?
Im Rahmen meines beruflichen Alltags stelle ich keine gravierenden Veränderungen fest; abgesehen von der «dynamischen» Rechtsprechung des Bundesgerichts in der Thematik «Anfechtung des Anfangsmietzinses».
Bezüglich der Verfahrensarten ist festzustellen, dass die Anfechtung des Anfangsmietzinses (nach einer kurzen Baisse) stetig beliebter wird und die Mieter zunehmend «hinterlegungsfreundlicher» werden.
Welches sind Ihrer Meinung nach die grössten Stärken und Schwächen im Schweizer Mietwesen?
Die Möglichkeit für Mieter und Vermieter im kostenlosen Schlichtungsverfahren innert (meist) kurzer Frist eine Einschätzung der Rechtslage durch eine paritätisch zusammengesetzte Behörde zu erhalten, um dann konfliktlösungsorientiert an die Beilegung der Streitigkeit heranzugehen, ist meines Erachtens eine sehr gute Sache.
Insbesondere bezüglich der Festsetzung des Anfangsmietzinses besteht aus meiner Sicht optimierungsbedarf. Das Kriterium der Orts- und Quartierüblichkeit ist heutzutage de facto weder vom Vermieter noch vom Mieter nachweisbar; dasjenige der Renditeberechnung wird (zumindest auf Stufe Schlichtungsbehörde) selten substantiiert vorgetragen.
Welches ist Ihrer Meinung nach die grösste Herausforderung im Schweizer Mietwesen in den kommenden 10 Jahren?
Auf die Schlichtungsbehörden wird aufgrund des wohl bald ansteigenden hypothekarischen Referenzzinssatzes und der damit verbundenen Mietzinserhöhungen ein erhöhtes Verfahrensvolumen zukommen. Ebenso ist, aufgrund der Teuerung im Bereich der Energiepreise bezüglich der künftigen Nebenkostenabrechnungen mit einer Zunahme der Fälle zu rechnen.
Anlässlich mehrerer Schlichtungsverfahren musste ich feststellen, dass das Realisieren von grösseren Bauprojekten im Bezirk Zürich (anderswo wird es wohl ähnlich sein) mit vielen Widrigkeiten verbunden sein kann. Obschon der Vermieter die Mietverhältnisse rechtskräftig gekündigt hat und er über eine Baubewilligung verfügt, kann dennoch nicht gebaut werden; das Rekursverfahren verzögert das Projekt oder verhindert es gänzlich.
Dabei ist die Erstellung von zusätzlichem Wohnraum in den kommenden Jahren sicherlich ein dringliches Anliegen:
- Für die Mieter unter der Prämisse, dass die Wohnungen zu günstigen Mietzinsen vermietet werden.
- Für die Vermieter unter der Voraussetzung, dass sie einen möglichst guten Ertrag erzielen können.
Ich hoffe, das lässt sich alles unter einen Hut bringen.
Christian Ruf | legalis brief MietR 08.02.2023