Andreas Noll – «Das Gefühl, ein besserer Mensch zu sein, ist nichts als eitle Einbildung.»

StPO

Andreas Noll erwarb 2002 das Anwaltspatent und ist seit 2005 Partner bei basleradvokat:innen; im gleichen Jahr promovierte er mit einer Dissertation zum Thema «Begründung der Menschenrechte bei Luhmann». Nach Lehraufträgen an der FHNW und dem Bildungszentrum Gesundheit Basel-Stadt folgten eine Oberassistenz am Lehrstuhl von Prof. Dr. Felix Bommer sowie ein Lehrauftrag an der Universität Luzern. Seit 2022 ist Dr. Noll auch als Fachanwalt SAV Strafrecht tätig. Er beteiligte sich u.a. an den Basler Klimaprozessen gegen die UBS und ist bekannt für seine Ansichten und klaren Worte.

Wann sind Sie das erste Mal mit dem Strafrecht in Kontakt gekommen?

Das erste Mal mit Strafrecht in Kontakt gekommen bin ich in der Person meines Onkels Peter, als ich noch ein Kind war. Ich wusste damals aber noch gar nicht, dass er gewissermassen als Inbegriff eines modernen Strafrechts galt. Erst nach seinem Versterben in meinen Teenagerjahren wurde mir das bewusst, aus den Erzählungen meines Vaters. Wie jeder Teenager stand ich meiner Familie eher skeptisch gegenüber. Erst mit dem Studium realisierte ich wirklich, wie wichtig er für das Schweizer Straf- und Strafprozessrecht war und wie er dem Schweizer Strafrecht sein rechtsstaatliches Gepräge verlieh. Nach über 40 Jahren nach seinem Tod sind wir heute jedoch wieder an einem Punkt wie dem angelangt, der meinen Onkel seinerzeit dazu motivierte, sich dem Strafrecht zuzuwenden.

Was sind Ihre alltäglichen Herausforderungen?

Die grösste Herausforderung im Alltag besteht darin, dass die seltsame Lust am Strafen allgegenwärtig ist. Bei der Staatsanwaltschaft sowieso, das ist gewissermassen ihr Auftrag. Allerdings vermisse ich auch dort – nicht bei allen, da gibt es löbliche Ausnahmen, aber doch über weite Strecken – die Sachlichkeit und Nüchternheit, sozusagen die Professionalität als Triebfeder ihrer Arbeit. Straflust ist zwar nur ein Abbild der medialen Empörungsbewirtschaftung. Professionelle Institutionen sollten sich jedoch von der Stammtischemotionalität abheben und den Zweck des Strafrechts im Fokus behalten: ein zivilisiertes, friedliches Zusammenleben, das mit einer Straftat nicht sein Ende, sondern vor allem seinen Anfang hat. Stammtischemotionalität ist alles andere als zivilisiert.

Mehr Mühe habe ich mit den Gerichten, die ja eigentlich unabhängig – auch von der medialen Empörungsbewirtschaftung –, unparteiisch und neutral sein sollten. Leider stelle ich in der Praxis vielfach eine Parteilichkeit zur Strafe fest. In der Beweiswürdigung wird häufig in dubio gegen den Angeklagten entschieden. Dabei ist das für ein zivilisiertes, friedliches Zusammenleben absolut unnötig. Der kriminalpräventive Effekt ist bereits durch das vorausgegangene Strafverfahren erreicht. Wer mal ein Strafverfahren mitgemacht hat, will das nie wieder. Zu mühsam, zu anstrengend ist ein solches Verfahren. Dabei lebt man häufig über Jahre hinweg in der ständigen Angst, am Ende bestraft zu werden. So sind auch die Rückmeldungen fast aller meiner Klienten: Sie sehen mich nie wieder. Das ist der eigentliche Grund, warum bedingte Strafen eine so hohe Erfolgsquote aufweisen: nicht die Angst, doch noch bestraft zu werden, sondern das Verfahren, dem man jahrelang unterworfen war. Darauf haben die Leute schlicht keine Lust.

Ganz besonders schlimm finde ich die bewusste Missachtung der Grundrechte von BV und EMRK durch die Gerichte. Unlängst hat das Appellationsgericht Basel-Stadt die EMRK implizit als politisch und sogar ziemlich explizit als unmassgeblich für das Strafrecht bezeichnet. Dabei ist Strafprozessrecht doch nichts anderes als angewandtes Verfassungsrecht. Ich finde das höchst bedenklich, wenn man sich als eine freiheitlich-rechtsstaatliche Demokratie versteht. Die Gräuel des 2. Weltkriegs und die unter dem Eindruck des Erlebten gewonnen Einsichten, die unmittelbar zur Etablierung der EMRK in Europa anno 1950 geführt haben, werden als weit entfernte Geschichte des letzten Jahrhunderts angesehen, die bei den Rechtsentscheidungen, die man heute trifft, mit Blick auf die zukünftige Entwicklung von Recht und Gesellschaft nicht mehr in Betracht gezogen werden. Wenn man das in der Retrospektive nur nicht wieder bereut.

Mit welcher Person aus dem Bereich des Strafrechts (aktuell oder historisch) würden Sie gerne für einen Tag die Rollen tauschen?

Ich liebe meinen Job. Auf den Rollentausch verzichte ich gerne.

Haben Ihre Erfahrungen mit dem Strafrecht Sie bzw. die Sicht auf Menschen verändert?

Meine Sicht auf die Menschen? Naja, eigentlich hat es meine Sicht auf die Menschen nur bestärkt: Die Menschen bleiben Menschen, in all ihren Facetten. Den Menschen gibt es ohnehin nicht. Wichtig ist, dass wir in Beziehung zu den Menschen bleiben, uns vor Vorurteilen hüten, dann überraschen einen die Menschen immer wieder. Ganz wichtig finde ich, dass wir nicht werten. Das ist im rechtlichen Kontext natürlich ausserordentlich schwierig, da Normen einen Graben ziehen zwischen demjenigen, der die Norm anwendet, und demjenigen, auf den die Norm angewendet wird. Dennoch darf man sich nicht verführen lassen und sich einbilden, die Normgrenze bewirke eine Grenze zwischen besseren und schlechteren Menschen. Der Mensch bleibt Mensch, und jede Wertigkeitsgrenze ist letztlich nichts anderes als die Illusion des zugrunde liegenden Machtgefälles. Der Gleichheitssatz ist eine jahrtausendealte fundamentale Einsicht; als solche ist er nicht nur unantastbar, sondern er macht Recht überhaupt erst zu dem, was es ist: Recht. Der Gleichheitssatz ist die Kontingenzformel, die rechtliche Unterscheidungen überhaupt erst ermöglicht. Menschen bleiben Menschen. Darauf muss man in einem Strafverfahren ganz besonderen Wert legen, da die Staatsgewalt im Strafverfahren alle Macht zur Verfügung hat, einen Menschen zum blossen Objekt des Strafverfahrens zu machen. Aber Macht verführt zur Illusion einer Wertigkeitsgrenze, und das Gefühl, ein besserer Mensch zu sein, ist nichts als eitle Einbildung.

Machen Strafen Menschen zu besseren Leuten?

Nein, eher im Gegenteil.

Wenn Sie die Möglichkeit hätten, was würden Sie ändern (Strafnormen, Strafsystem, Prozess etc.)?

Heute ist praktisch alles strafbar. In einer freiheitlich-rechtsstaatlichen Demokratie herrscht indes die Einsicht vor, dass Strafrecht nur als ultima ratio zum Zuge kommen darf. Im politischen System scheint gerade die gegenteilige Ansicht von Strafrecht als prima ratio vorzuherrschen. Das ist alles andere als eine prima Idee. Ich würde daher das Strafrecht von seinen überflüssigen, ja sogar schädlichen Strafnormen entschlacken, so dass nur noch der Verstoss gegen die elementaren Normen des Zusammenlebens mit Strafe belegt würden.

Zweitens ist m.E. die StPO komplett missraten. Die Beweiserhebung findet nicht mehr durch die Gerichte, sondern durch die Staatsanwaltschaft statt. Dadurch wird einerseits die Öffentlichkeit von der Justizkontrolle ausgeschlossen, da sie im Gerichtsverfahren nur noch Behauptungen über angebliche Beweise zu Ohren bekommt und keine Möglichkeit mehr hat, sich ein eigenes Bild von den vorgeblichen Beweisen zu machen. Das ist nichts anderes als mittelalterliche Kabinettsjustiz. Andererseits wird den Gerichten durch die staatsanwaltliche Beweiserhebung im Verfahren ihre eigentliche Kernkompetenz – die unmittelbare Beweiserhebung – entzogen, sodass sie im Prinzip nur noch dazu da sind, nicht nur die Untersuchung der Staatsanwaltschaft, sondern auch die von ihr vorgenommenen Wertungen als legitim abzusegnen. Die Gerichte werden durch die StPO zu akklamatorischen Statisten degradiert, da die einzige Wertung, die ihnen verbleibt, diejenige über Schuld und Unschuld ist. Von den weichenstellenden Wertungen – jene über die Beweiserhebung – sind sie über weite Strecken von Gesetzes wegen ausgeschlossen. Die Staatsanwaltschaft als untersuchende Behörde hat damit viele elementare und m.E. unentziehbare richterliche Funktionen übernommen. Damit jedoch nicht genug: Dieselbe Staatsanwaltschaft, die nach der gesetzlichen Konzeption eigentliche neutral in gleicher Weise den belastenden und entlastenden Hinweisen nachzugehen hätte, wird vom Gesetz auch für die Anklageerhebung und Vertretung der Anklage vor Gericht vorgesehen. Damit ist die Versuchung natürlich gross, sich als spätere Partei im Prozess bereits im Untersuchungsverfahren eine möglichst komfortable Situation zu schaffen. Hinzu kommt, dass die letzte, von der StPO vorgesehene Bastion eines rechtsstaatlichen Verfahrens, die Verteidigung, welche der Staatsanwaltschaft bei der Beweiserhebung auf die Finger zu schauen hätte, durch Rechtspraxis der letzten Jahre immer mehr zurückgedrängt wurde. Das Bundesgericht folgt der verfehlten Theorie von Bommer, wonach das Akteneinsichtsrecht als mediatisierte Form der Teilnahme an der Beweiserhebung anzusehen sei, sodass Teilnahme erst nach der ersten Einvernahme und der Erhebung der übrigen wichtigsten Beweise möglich sei. Diese normlogisch unzulässige Umkehrung hat zur Konsequenz, dass die Erhebung der wichtigsten Beweise durch die Staatsanwaltschaft ohne jede Kontrolle – weder durch die Gerichte, noch durch die Verteidigung, noch durch sonst irgendjemandem – erfolgt. Damit verfügt die Staatsanwaltschaft faktisch über eine absolutistische Herrschaftsposition über das Strafverfahren. Die in der StPO institutionalisierte Verquickung von Untersuchungsbehörde, Richterin und Anklägerin ist schizophren und lässt sich mit gesundem Menschenverstand nicht vereinbaren. Auch diese Erkenntnis ist nicht neu: Bereits im Mittelalter haben wir die Erfahrung gemacht, dass die Vereinigung von Untersucher, Ankläger und Richter in der Person des Inquisitors kein Garant für Gerechtigkeit ist, sondern für institutionalisierte Ungerechtigkeit sorgt.

Die zentralen und zugleich minimalsten Forderungen an eine rechtsstaatliche StPO sind daher: Trennung von untersuchender und anklagender Behörde sowie unmittelbare Beweiserhebung im richterlichen Hauptverfahren. Alles andere steht nicht nur im krassen Widerspruch zu Art. 6 EMRK (Unabhängigkeit der Gerichte, Justizkontrolle durch die Öffentlichkeit, fair trial), sondern ist buchstäblich finsteres Mittelalter.

Anina Hofer | legalis brief StrR 21.11.2023