Angelina Grossenbacher – «Ich will den Menschen ermöglichen, im Strafverfahren nicht nur ein Objekt zu sein.»
Straf- & Strafprozessrecht
Angelina Grossenbacher erwarb 2019 das bernische Anwaltspatent und ist seither als Rechtsanwältin tätig. Im Jahr 2021 machte sie sich mit ihrer Anwaltskanzlei «burglex GmbH» selbstständig. Im 2023 absolvierte sie das CAS Strafprozessrecht (IRP-HSG). Sie ist zudem Mitglied der Co-Leitung der Fachgruppe Strafrecht des bernischen Anwaltsverbands.
Wann sind Sie das erste Mal mit dem Strafrecht in Kontakt gekommen?
Ein konkretes Ereignis fällt mir spontan nicht ein. Das Strafrecht prägte jedoch schon früh meinen Berufswunsch. Zunächst liebäugelte ich mit der Rechtsmedizin, später mit der forensischen Psychiatrie. Letztendlich entschied ich mich für das Jus-Studium mit dem Ziel, Staatsanwältin zu werden. Aber im Leben kommt es ja immer anders, als man denkt :-)
Was sind Ihre alltäglichen Herausforderungen?
Der Kanzleialltag ist sehr abwechslungsreich aber dadurch auch stressig. Nicht selten hat man abends kein einziges To-do von der Liste abgehakt, die man morgens geschrieben hat, weil der Kalender so fremdbestimmt ist. Posteingänge mit kurzen Fristen, plötzliche akute Krisen bei Mandanten, unerwartete Verhaftung eines Klienten... Das erfordert eine gute Zeiteinteilung und vorausschauende Planung. Als selbstständige Anwältin mit eigener Kanzlei und der damit einhergehenden Verantwortung für Angestellte bin ich regelmässig frustriert darüber, dass unsere Arbeit nicht verstanden oder wertgeschätzt wird. Honorarkürzungen mit schwer verdaulichen Begründungen à la «dieses Plädoyer hätte man auch in weniger Zeit schreiben können» oder «zu oft und zu lange mit dem Klienten telefoniert» sind an der Tagesordnung. Die Staatsanwaltschaft und das Gericht sehen das Endergebnis, welches wir Anwälte an der Verhandlung präsentieren. Wie viel Zeit in ein gutes Plädoyer investiert werden muss, wird dabei oft unterschätzt. Das Gleiche gilt für die Mandatsführung an sich – sprachliche Barrieren, psychische Erkrankungen u.a. führen oft dazu, dass viel Zeit und Geduld in die Aufklärung der Klientschaft investiert werden muss. Das wird nicht selten als «Sozialaufwand» abgetan. Aber während das Gericht den Beschuldigten an einem Tag für wenige Stunden vor sich hat und sich danach nicht mehr mit ihm befassen muss, sind wir Anwälte darauf angewiesen, ein Vertrauensverhältnis zum Klienten aufzubauen und für ihn da zu sein. Hier wünsche ich mir mehr Verständnis für unseren Beruf.
Mit welcher Person aus dem Bereich des Strafrechts (aktuell oder historisch) würden Sie gerne für einen Tag die Rollen tauschen?
Mit jemandem vom Gericht oder von der Staatsanwaltschaft. Der Perspektivenwechsel kann für beide eine Bereicherung sein und zum Verständnis des anderen Berufs beitragen. Ich würde mich gerne öfter mit diesen Akteuren austauschen um deren Sichtweise nachvollziehen zu können.
Haben Ihre Erfahrungen mit dem Strafrecht Sie bzw. die Sicht auf Menschen verändert?
Wie schon erwähnt, wollte ich ursprünglich Staatsanwältin werden. Als junge Frau mit einem ausgeprägten Gerechtigkeitssinn konnte ich es mir nicht vorstellen, einmal für Straftäter:innen einzustehen. Meine Sicht auf die Beteiligten im Strafverfahren war schwarz-weiss. Seit meinem Anwaltspraktikum und dem ersten Einsatz «auf der anderen Seite» weiss ich jedoch, dass es kein Schwarz-Weiss gibt. Ich assoziiere das Strafrecht nicht mehr mit den Delikten, sondern mit den Menschen dahinter. Und diesen Menschen will ich ermöglichen, im Strafverfahren nicht nur ein Objekt zu sein. Sie sollen ein faires Verfahren kriegen, von den Behörden korrekt behandelt und als Menschen mit einer Lebensgeschichte gehört werden. Man muss auch bedenken, dass jeder von uns sehr schnell in diese Maschinerie geraten kann. Vor allem wenn man Auto fährt... ;-)
Machen Strafen Menschen zu besseren Leuten?
Es kommt darauf an :-) Es gibt sicherlich Menschen, bei denen dieser schwere Einschnitt in das Leben auch etwas Gutes hat. Ich denke hier an einen Klienten, der es nach Versetzung in die U-Haft endlich geschafft hat, clean zu werden. In anderen Fällen kann ein Freiheitsentzug auch alles kaputt machen, was sich der Mensch aufgebaut hat. Zwischen Straftat und Schuldspruch können mehrere Jahre vergehen, in denen die beschuldigte Person sich einen Job suchen, sich verlieben und eine Familie gründen kann. Diese für die Legalprognose sehr wichtige Aspekte können dann mit einem Schlag zunichte gemacht werden.
Wenn Sie die Möglichkeit hätten, was würden Sie ändern (Strafnormen, Strafsystem, Prozess etc.)?
Eine kürzere Verfahrensdauer würde ich aus soeben genannten Gründen begrüssen. Viel Revisionsbedarf sehe ich aber vor allem beim Strafbefehlsverfahren. Einfachere Sprache, mehr Übersetzungen für die fremdsprachigen Beschuldigten, längere Einsprachefristen und eine tiefere Eintrittsschwelle für die amtliche Verteidigung wären notwendig, um den schwächsten Mitgliedern unserer Gesellschaft einen fairen Prozess gewährleisten zu können.
Anina Hofer | legalis brief StrR 17.09.2024