Corina Elmer – «Ich ziehe es vor, mich auf die Seite der Schwächeren zu stellen.»

Ehre und Privatbereich, Sexuelle Integrität, StPO

Corina Elmer arbeitet seit etwas mehr als fünf Jahren als Geschäftsleiterin der Frauenberatung sexuelle Gewalt. Zuvor war sie in einem Frauenhaus und an einer Fachstelle zur Prävention sexueller Ausbeutung tätig. Die Frauenberatung sexuelle Gewalt ist eine vom Kanton Zürich anerkannte Opferberatungsstelle, die von sexualisierter und/oder häuslicher Gewalt betroffene Frauen gemäss Opferhilfegesetz unterstützt und begleitet, dies unabhängig davon, wie lange eine Straftat zurückliegt und ob Anzeige erstattet wurde. Auch Fachpersonen sowie Angehörige von Gewaltopfern können sich beraten lassen. Im Jahre 2022 hat die Frauenberatung sexuelle Gewalt rund 1300 Klientinnen betreut.

Wann sind Sie das erste Mal mit dem Strafrecht in Kontakt gekommen?

Das war während der Jugendunruhen in Zürich, in meinem frühen Erwachsenenleben. Damals erlebte ich Polizei und Strafverfolgung als äusserst repressiv. Das hat sich mittlerweile etwas geändert. Aufgrund meiner langjährigen Tätigkeit im Gewalt- und Kindesschutz habe ich auch ganz andere Seiten der Strafverfolgung kennengelernt. Es hat mich tief beeindruckt, mit welcher Hartnäckigkeit und Engagement sich einzelne Strafverfolgerinnen und Strafverfolger gegen schwere Gewalt und Integritätsverletzungen einsetzen. Gleichzeitig bin ich manchmal ernüchtert, wie gering die Verurteilungsquote gerade bei schweren Sexualdelikten ausfällt. Die Opfer fühlen sich oft sehr alleine gelassen, wenn es beispielsweise zu einem Freispruch kommt und aus ihrer Sicht keine Gerechtigkeit hergestellt wird.

Was sind Ihre alltäglichen Herausforderungen?

Eine grosse Herausforderung liegt darin, dass ein Strafverfahren den Bedürfnissen und der Situation traumatisierter Opfer nur bedingt gerecht wird. Unsere Beraterinnen erfahren mehrmals täglich Geschichten über schwere Grenzverletzungen und traumatisierende Gewalterfahrungen. Sie hören den Betroffenen zu, fangen erlebte Schuldzuweisungen und Schamgefühle auf und ordnen die Gewalterfahrung ein. Sie versuchen, die stärksten Folgen der Straftat zu mildern und die Klientin bei den nachfolgenden Schritten zu begleiten. Sie informieren sie über das Strafverfahren, ihre Rechte und Möglichkeiten und vermitteln bei Bedarf rechtlichen und/oder psychologischen Beistand.

Wie belastend ein solches Verfahren ist und unter welchem Druck die Geschädigten stehen, ahnen viele vorher nicht. Die mehrfachen Einvernahmen und detaillierten Befragungen können retraumatisierend wirken, besonders wenn die Strafverfolgerinnen und Strafverfolger wenig Verständnis für die psychische Verfassung von traumatisierten Opfern haben. Viele unserer Klientinnen wünschen sich nicht zwingend eine Bestrafung der angeschuldigten Person. Wichtiger ist ihnen, dass die Tatperson die Verantwortung für die Gewalttat übernehmen und dank der angeordneten Massnahmen – z.B. ein Lernprogramm bei häuslicher Gewalt – ihr Verhalten ändern würde. In erster Linie erhoffen sich viele Opfer vom Gericht bzw. von der Gesellschaft eine Anerkennung des Unrechts, das ihnen angetan wurde. Entsprechend gross ist die Enttäuschung, wenn es im Laufe eines Verfahrens zu einer Einstellungsverfügung oder einem Freispruch kommt.

In diesem Spannungsfeld sind wir tätig und versuchen, gewaltbetroffene Frauen mit unseren knapp bemessenen Ressourcen zu unterstützen, zu begleiten und zu stabilisieren. Zu Recht wird heute moniert, dass nicht alle Gewaltopfer gleichermassen Zugang haben zu opferrechtlicher Hilfeleistung und diese noch nicht rund um die Uhr zur Verfügung steht. Aufgrund der von der Schweiz 2018 ratifizierten Istanbul-Konvention sind zurzeit auf Bundesebene wie auch in allen Kantonen vielfältige Bestrebungen im Gange, genderspezifische Gewalt gezielt zu bekämpfen, an deren Ursachen anzusetzen und den Opferschutz weiter auszubauen. Selbstredend wird das nicht ohne zusätzliche Mittel zu erreichen sein.

Mit welcher Person aus dem Bereich des Strafrechts (aktuell oder historisch) würden Sie gerne für einen Tag die Rollen tauschen?

Ich wüsste gerne, wie Strafverteidigerinnen und Strafverteidiger damit umgehen, dass ihre Mandantinnen und Mandanten möglicherweise nicht ganz so unschuldig sind, wie sie sich geben. Konzentrieren sie sich auf die Durchsetzung der Rechtsstaatlichkeit, verfahrensrechtliche Mängel und strafmildernde Umstände oder verdrängen sie schlicht die Möglichkeit eines schuldhaften Verhaltens? Wie geht es ihnen, wenn sie einen Freispruch für einen möglichen Gewalttäter erreicht haben? Können sie danach ruhig schlafen? Wahrscheinlich ist die Haltung einer klaren «Advocacy», wie wir sie für Klientinnen und Klienten der Opferhilfe pflegen, gar nicht so weit entfernt vom Auftrag eines Strafverteidigers oder einer Strafverteidigerin. Allerdings verstehen wir geschlechtsspezifische Gewalt als Ausdruck eines strukturellen Machtgefälles. Da ziehe ich es vor, mich auf die Seite der Schwächeren zu stellen und gegen deren Diskriminierung zu kämpfen.

Haben Ihre Erfahrungen mit dem Strafrecht Sie bzw. die Sicht auf Menschen verändert?

Nein, nicht grundlegend. Ich stelle fest, dass das Strafrecht im Laufe der letzten Jahrzehnte ein wachsendes Gewicht erhalten hat, um das Zusammenleben der Menschen zu regeln. Auch auf einer symbolischen Ebene. Was früher Religion und Kirche vorgaben, findet heute zunehmend Eingang in die Gesetzgebung. Ich finde das adäquat für eine moderne demokratische Gesellschaft. Allerdings sehe ich auch Grenzen, z.B. bei den überhöhten Erwartungen an ein Strafverfahren oder die grossen Unterschiede im Strafmass, verglichen mit den schweren persönlichen Folgen, die manche Straftaten für die Opfer haben. Parallel zu einem differenziert gestalteten Strafrecht sollten Bedingungen geschaffen werden, um alltäglich stattfindende Gewalt und Diskriminierung rasch zu erkennen, zu stoppen und generell zu verhindern. Wir alle tragen die Verantwortung, uns gegen diskriminierende Verhältnisse und für die Gleichstellung aller Menschen einzusetzen.

Machen Strafen Menschen zu besseren Leuten?

Ich denke, die generalpräventive oder abschreckende Wirkung von Strafen hat ihre Grenzen. Menschen tun anderen Menschen Böses an, das lässt sich nicht ausmerzen. Aus der Forschung ist bekannt, dass die Gefahr, erwischt zu werden, eine potenzielle Straftat eher verhindert als die angedrohte Strafe. Meist wissen die Tatpersonen – z.B. in Fällen von sexuellem Missbrauch von Abhängigen – ziemlich genau, was sie tun. Treffen sie innerhalb klar geregelter Strukturen auf ein aufmerksames Umfeld, das rasch und kompetent handelt, so werden sie sehr viel mehr unternehmen müssen, um ihre Übergriffe zu verbergen, zu verleugnen oder zu verharmlosen.

Hingegen hat das Strafrecht auch eine symbolische Wirkung. Es bildet die Normen und Werte ab, die in einer Gesellschaft gelten. Darum sind wir klar für die Zustimmungslösung im Sexualstrafrecht, auch wenn wir mit den momentan erreichten Anpassungen bereits einen grossen Schritt weiter sind als noch vor ein paar Jahren.

Wenn Sie die Möglichkeit hätten, was würden Sie ändern (Strafnormen, Strafsystem, Prozess etc.)?

Ich würde die Revision des Sexualstrafrechts noch weiter vorantreiben. Viele unserer Forderungen wurden erreicht und mir ist klar, dass die Rechtsprechung bei einem Vier-Augen-Delikt anspruchsvoll bleibt. Jedoch sollte das Einverständnis aller Beteiligten im Zentrum stehen, um das Recht auf Unversehrtheit und Selbstbestimmung in der Sexualität für alle Menschen zu garantieren. Ein grosser Verbesserungsbedarf besteht zudem bei der Aus- und Weiterbildung von Fachpersonen in der Strafverfolgung. Es ist unerlässlich, dass diese Kenntnisse zu den Ursachen und Folgen sexualisierter Gewalt mitbringen und wissen, wie Befragungen opfer- und traumasensibel zu gestalten sind. Es wäre auch wünschenswert, dass sich die sehr belastenden, mehrfachen Befragungen der Opfer mittels technischer Mittel und einer Verschlankung des Verfahrens reduzieren liessen. Und last but noch least ist die Situation der Geschädigten in der Strafprozessordnung zu stärken. Diese wurde zwar kürzlich revidiert, doch eine Opfervertretung der ersten Stunde im Sinne einer Waffengleichheit, die Beseitigung von Kostenrisiken für das Opfer oder eine fachkompetente Begleitung gewaltbetroffener Menschen durch den gesamten Prozess sind entscheidende Elemente eines verbesserten Opferschutzes.

Anina Hofer | legalis brief StrR 19.06.2023