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VORGESTELLT

Daniel Bäumlin – «Ein System, das ausschliesslich auf Strafen gerichtet ist, scheint mir nicht wirklich zielführend zu sein.»

Straf- & Strafprozessrecht

Daniel Bäumlin ist Advokat und Mediator SAV und seit 21 Jahren mit eigener Kanzlei in Basel tätig. Seine Schwerpunkte sind Strafrecht, Familienrecht sowie Kindes- und Erwachsenenschutz. 

Wann sind Sie das erste Mal mit dem Strafrecht in Kontakt gekommen?

Ich hatte mich 1989, zusammen mit 20 weiteren Kommilitoninnen und Kommilitonen, an der Universität Basel für das damalige Sommersemester nach Ostern antizyklisch immatrikuliert. Professor Dr. Detlef Krauß, seinerzeit Dekan der juristischen Fakultät und Ordinarius für Strafrecht, hatte uns ganz exklusiv ins Studium eingeführt. Er hielt gleichzeitig die Vorlesung «Strafrecht II, Besondere Bestimmungen». In der ersten Stunde hiess er uns Neulinge inmitten der Zweitsemestrigen willkommen und meinte, er werde mit einer, gewiss für alle Übrigen genauso nützlichen, Zusammenfassung der vorangegangenen Vorlesung Strafrecht I beginnen: «Im letzten Semester haben wir gelernt, was ein Möbel ist. Nun werden wir lernen, was ein Stuhl und was ein Tisch ist.»

Der praktische Einstieg erwies sich als weit drastischer und prägender. Ich startete mein erstes Praktikum auf dem Weg zum Anwaltspatent am Jugendgericht des Seelandes in Biel, nach damaligem Berner Recht zuständig für Strafuntersuchung, Urteil und Vollzug zugleich. Ich durfte an einem Verfahren gegen vier Jugendliche mitwirken, die an einem Tötungsdelikt beteiligt waren. Es galt die Hauptverhandlung vorzubereiten, das Protokoll zu verfassen und die Urteile schriftlich zu begründen. Das Verfahren erlaubte es, die vorsorglich platzierten Jugendlichen zu besuchen und im Hinblick auf ihre Resozialisierung zu begleiten.

Was sind Ihre alltäglichen Herausforderungen?

Ich habe die traditionelle Arbeitsmethode eines Anwalts noch erlebt. Die Kommunikation verlief fernmündlich, per Fax oder postalisch. Gerade letzteres hatte einen entschleunigenden Effekt, der vieles entschärfte. Die heutigen elektronischen Übermittlungsmethoden bringen gewiss viele Vorteile, vorausgesetzt sie sind für alle gleichermassen zugänglich und sicher konzipiert. Als herausfordernd empfinde den wachsenden Anspruch, alles müsse sofort erfolgen, und dem zu widerstehen.

Mit welcher Person aus dem Bereich des Strafrechts würden Sie gerne für einen Tag die Rollen tauschen?

Mit einem französischen Strafverteidiger in seiner schwarzen Robe, der in der «Sale des pas perdus» eines pompösen «Palais de Justice» auf seinen nächsten Einsatz wartet. In Frankreich werden alle Beteiligten, ungeachtet der Verfahren, zur selben Zeit vor Gericht geladen. Der Saal gleicht einem emsigen Bienenhaus, in dem unzählige unterschiedliche Verfahren nacheinander öffentlich verhandelt werden.

Haben Ihre Erfahrungen mit dem Strafrecht Sie oder Ihre Sicht auf Menschen verändert?

Ich bin mir bewusst, dass jeder von uns eines Tages vor dem Strafrichter sitzen könnte. Gerade im Strassenverkehr lauert kontinuierlich die Gefahr, durch eine kurze Unaufmerksamkeit ungewollt einen grösseren Schaden, nicht zuletzt an Menschen, zu verursachen. Hinter jedem Handeln steht ein Mensch, mit dessen Geschichte, kulturell und gesellschaftlich geprägten Einstellungen, der aktuellen Lebenslage und jeweils momentanen Stimmung. Um gerechte und faire Entscheidungen über ihn und dessen Handeln zu fällen, müssen stets alle Aspekte berücksichtig werden. Ich erlebe selbst, wie schwer es ist, den ersten Reflex, einen Fehler zu leugnen, zurückzuhalten und dazu zu stehen. Ich beobachte viele Menschen, die diesen inneren Prozess nicht schaffen. Sie versuchen stattdessen mit allen Mitteln, sich der Verantwortung für ihr Handeln zu entziehen.

Machen Strafen Menschen zu besseren Leuten?

Das glaube ich nicht. Von Kind auf sollten wir lernen, individuelle Grenzen und gesellschaftlich vereinbarte Normen einzuhalten. Aber auch einzufordern, dass andere unsere persönlichen Grenzen respektieren. Wer sie überschreitet, sollte dafür die Verantwortung tragen und ist gehalten, das Gleichgewicht wieder herzustellen. Ich bin für eine Kultur der Fehlertoleranz: Das Lernen durch Fehler, verbunden mit einer konstruktiven und wohlwollenden Kommunikation, ermöglicht, sich weiterzuentwickeln und Eigenverantwortung zu tragen. Wir alle versuchen das Beste zu tun. Dass wir dieses Ziel nicht immer erreichen, hängt von den unterschiedlichsten Faktoren ab. Darum scheint mir ein System, das ausschliesslich auf Strafen gerichtet ist, nicht wirklich zielführend.

Wenn Sie die Möglichkeit hätten, was würden Sie ändern?

Ich würde grundsätzlich sehr früh ansetzen und «Recht & Ethik» als Hauptfach in der Schule einführen. Junge Menschen sollten lernen, mit individuellen Grenzen und den Normen unserer Gesellschaft umzugehen. Das Rechtssystem durchdringt alle Bereiche unseres alltäglichen Lebens. Ein gute Wissensgrundlage könnte dazu beitragen, stets konstruktiv nach Lösungen zu suchen.

Ferner würde ich den noch immer vorherrschenden repressiven Charakter einer Voruntersuchung verändern. Es ist nicht zu erwarten, dass jemand, der soeben verhaftet wurde, stundenlang in einer fensterlosen Tageszelle verbracht hat und gerade eine Viertelstunde mit einem ihm fremden Offizialverteidiger reden konnte, in der Lage sein wird, einen konstruktiven Beitrag zur Wahrheitsfindung zu leisten. Erst recht nicht, wenn er das Rechtssystem nicht kennt, auf einen Dolmetscher angewiesen ist und es ihm einzig erlaubt ist, vorbereitete Fragen zu beantworten. Abgesehen davon stellt ein Untersuchungsgefängnis das härteste Haftregime dar. All das steht m.E. im Widerspruch zur bis zum rechtskräftigen Urteil bestehenden Unschuldsvermutung.

Ich würde den Instruktionsrichter (wieder) einführen und die Staatsanwaltschaft darauf konzentrieren lassen, ausschliesslich eine Parteirolle vor Gericht einzunehmen. Nach französischem Vorbild würde ich Entscheide zum Strafvollzug einem Gericht übertragen, analog dem «Juge de l’application des peines».

Nicht zuletzt würde ich jede Befragung auf Tonband aufnehmen lassen. Ich bin davon überzeugt, dass das Verhalten aller Beteiligten sich schlagartig im positiven Sinne ändern würde. Es würde zudem zur Beschleunigung der Verfahren beitragen.

Anina Hofer | legalis brief StrR 19.08.2024