Fabien Gasser – «Das Leben in der Gesellschaft besteht nicht nur aus Rechten, sondern auch aus Pflichten.»
Straf- & Strafprozessrecht

Fabien Gasser ist Generalstaatsanwalt des Kantons Fribourg sowie Programmleiter der HIS (Harmonisierung der Informatik in der Strafjustiz) und Vizepräsident der SSK (Schweizerische Staatsanwaltskonferenz).
Wann sind Sie das erste Mal mit dem Strafrecht in Kontakt gekommen?
Sehr spät, am Ende meines Studiums an der Universität. Ich hatte meinen Bachelor in der Tasche und kaum eine Vorstellung davon, was ich machen wollte. Es gab eine Stelle als Gerichtsreferendar an einem Gericht der ersten Instanz und ich bewarb mich. Ich hatte eine echte Offenbarung für das Strafrecht und das Glück, dass ich später während der Vorbereitung auf mein Anwaltspatent im Dienst der Staatsanwaltschaft angestellt werden konnte.
Très tard, à la fin de mes études universitaires. J’avais ma licence en poche et peu d’idée de ce que je voulais faire. Il y avait une place de greffier stagiaire dans un tribunal de première instance et j’ai postulé. J’ai eu une véritable révélation pour le droit pénal et la chance de pouvoir ensuite être engagé au service du Ministère public durant la préparation de mon brevet d’avocat.
Was sind Ihre alltäglichen Herausforderungen?
Die Herausforderung besteht darin, eine Vielzahl von Aufgaben gleichzeitig zu bewältigen: Untersuchung komplexer Fälle, Personalführung in einer Überlastungssituation, Prozessmanagement, Kontrolle der von der gesamten Staatsanwaltschaft gefällten Entscheide, Anfragen von Medien, Anwälten oder Privatpersonen, die mich in meinen Fällen, aber auch in Fällen von Kollegen ansprechen, Zusammenarbeit mit unseren bevorzugten Partnern, der Kantonspolizei, dem Strafvollzug, den Gerichten und Anwälten und nicht zuletzt die interkantonale Koordination (ich bin Vizepräsident der SSK und Vorsitzender der Geschäftsleitung der HIS).
Le défi est de mener de front une multitude de tâches : instruction de dossiers complexes, gestion du personnel en situation de surcharge, gestion des processus, contrôle des décisions rendues par tout le Ministère public, sollicitations des médias, des avocats ou particuliers qui m’interpellent dans mes dossiers mais aussi dans des dossiers de collègues, collaboration avec nos partenaires privilégiés, police cantonale, exécution des peines, tribunaux et avocats et, enfin, coordination intercantonale (je suis vice-président de la SSK et président de la direction de HIS).
Mit welcher Person aus dem Bereich des Strafrechts (aktuell oder historisch) würden Sie gerne für einen Tag die Rollen tauschen?
Ich habe nie darüber nachgedacht. Ich liebe den Beruf, den ich ausübe.
Je n’y ai jamais réfléchi, j’aime le métier que j’exerce.
Haben Ihre Erfahrungen mit dem Strafrecht Sie bzw. die Sicht auf Menschen verändert?
Nein, nicht wirklich. Ich bin mir bewusst, dass nur eine Minderheit der Menschen gegen das Gesetz verstösst, und wenn man die Lebensgeschichte der Beschuldigten kennt, kann ich sogar verstehen, wie manche Menschen dazu gekommen sind, gegen das Gesetz zu verstossen. Ich habe aber Angst vor einer Veränderung, die ich derzeit allgemein wahrnehme, nämlich dem Rückzug des Einzelnen auf sich selbst und der Egozentrik, obwohl das Leben in der Gesellschaft nicht nur aus Rechten, sondern auch aus Pflichten besteht.
Non pas vraiment. J’ai conscience que seule une minorité des gens enfreignent la loi et, lorsque l’on connaît l’histoire de vie des prévenus, je peux même comprendre comment certains en sont venus à transgresser la loi. J’ai peur d’un changement que je perçois actuellement de manière générale, c’est le repli des individus sur eux-mêmes et l’égocentrisme, alors que la vie en société n’est pas faite que de droits, mais aussi de devoirs.
Machen Strafen Menschen zu besseren Leuten?
Ich habe mehrere Fälle erlebt, in denen eine Gefängnisstrafe die Situation der Person verbessert hat, z. B. durch eine Einsicht und den anschliessenden Erwerb einer Ausbildung. Die Geldstrafe neigt eher dazu, zu verärgern, als zu erziehen. Ich glaube an die Wirkung der Bewährungsstrafe, wenn man sie aussprechen kann. Ich fand auch das Instrument der strafrechtlichen Ausweisung auf Bewährung vor 2007 sehr abschreckend.
J’ai vécu plusieurs affaires où une peine de prison a amélioré la situation de la personne, par une prise de conscience, puis l’acquisition d’une formation par exemple. La peine pécuniaire a plus tendance à énerver qu’à éduquer. Je crois dans les vertus du sursis lorsque l’on peut le prononcer. Je trouvais aussi l’outil de l’expulsion pénale avec sursis, avant 2007, très dissuasif.
Wenn Sie die Möglichkeit hätten, was würden Sie ändern (Strafnormen, Strafsystem, Prozess etc.)?
Ich würde viele Gesetze abschaffen, die bestimmte Verhaltensweisen strafrechtlich relevant machen. Ein Verwaltungsverfahren reicht aus. Der Unterschied zwischen einer Verwaltungsstrafe und einer strafrechtlichen Geldstrafe besteht darin, dass Letztere in eine Ersatzfreiheitsstrafe umgewandelt werden kann. Aber die Gefängnisse sind voll. Ich würde auch zu einem System der Strafverfolgung durch den Untersuchungsrichter zurückkehren, mit einer Staatsanwaltschaft, die immer eine Verfahrenspartei ist. Die Funktionen des Staatsanwalts und des Untersuchungsrichters zusammengelegt zu haben, hat enorme Verfahrenszwänge mit sich gebracht. Die Strafverfolgung hat dadurch nichts gewonnen – im Gegenteil.
Je supprimerais nombre de lois qui rendent certains comportements pénalement répréhensibles. Une procédure administrative suffit. La différence entre l’amende administrative et l’amende pénale est la possibilité de transformer la seconde en peine privative de liberté de substitution. Mais les prisons sont pleines. Je reviendrais aussi à un système de poursuite pénale par le Juge d’instruction, avec un Ministère public qui est toujours une partie à la procédure. Avoir regroupé les fonctions de procureur et de juge d’instruction a amené d’énormes contraintes procédurales, la poursuite pénale n’y a rien gagné, au contraire.
Anina Hofer | legalis brief StrR 18.07.2024