Hannah Frey – «Recht bedeutet nicht immer Gerechtigkeit.»
Straf- & Strafprozessrecht

Hannah Frey ist Advokatin bei der BALEX AG in Basel.
Wann sind Sie das erste Mal mit dem Strafrecht in Kontakt gekommen?
Als ich mit knapp 18 Jahren im ersten Semester Jura studierte und erst wenige Strafrechtsvorlesungen besucht hatte, wurden meine kleine Schwester und ich auf dem Fussgängerstreifen von einem Auto angefahren. Meine Schwester besuchte damals noch die Primarschule und erlitt vom Unfall schwere Verletzungen. Die Fahrerin war bereits fortgeschrittenen Alters. Zwei Tage später wurde ich zu einer Befragung bei der Verkehrspolizei eingeladen, als meine Schwester noch im Spital lag. Nach einigen Antworten streckte mir die Polizistin rigoros einen Zettel entgegen. Sie erklärte mir, ich würde nun als beschuldigte Person gelten, auf dem Zettel stünden meine Rechte, und ob ich was zu meiner Verteidigung zu sagen habe. Ich war völlig perplex, da wir in meinen Augen ja eigentlich die Geschädigten waren. Da ich in den wenigen Strafrechtsvorlesungen bereits gelernt hatte, dass dafür ein Tatbestand erfüllt sein müsse, fragte ich in völligem Unverständnis, was mir denn vorgeworfen werde. Die Polizistin antwortete streng, es bestehe ein Tatverdacht auf «Unvorsichtiges Betreten des Fussgängerstreifens» und es werde deshalb ein Strafverfahren eröffnet. Mir würde eine Strafe drohen. Glücklicherweise sah der Staatsanwalt das aber anders und stellte das Verfahren ein. Trotzdem denke ich heute noch viel daran. Diese Erfahrung war mein erster und sehr negativer Kontakt mit dem Strafrecht und zeigte mir zum ersten (aber nicht letzten) Mal, dass Recht nicht immer Gerechtigkeit bedeutet.
Was sind Ihre alltäglichen Herausforderungen?
Da ich viel Strafrecht (und Familienrecht) praktiziere, bin ich häufig mit emotional sehr schwierigen Situationen und Schicksalen konfrontiert. Die Klienten benötigen häufig nicht nur juristische, sondern auch psychologische Betreuung. Ich fühle mich teilweise nicht genügend qualifiziert, diese psychologische Betreuung vorzunehmen. Jedoch ist man als Anwältin – besonders im Strafrecht – oft die einzige Person, die in dieser Weise Zugang zum Beschuldigten hat, weshalb es unumgänglich ist, diese Funktion ebenfalls zu übernehmen. Auch muss natürlich ein Vertrauen zum Mandanten aufgebaut werden. Ich greife in diesen Situationen oft einfach zum «gesunden Menschenverstand». Wie der genau aussehen soll, ist mir häufig aber auch nicht ganz klar. Ich wünsche mir deshalb, dass die juristische Ausbildung in diesem Sinne ausgeweitet wird.
Mit welcher Person aus dem Bereich des Strafrechts (aktuell oder historisch) würden Sie gerne für einen Tag die Rollen tauschen?
Ich würde gerne einmal ein paar Tage einen Polizisten oder eine Polizistin auf Streife begleiten, damit ich ihre Sicht der Dinge besser verstehen kann.
Haben Ihre Erfahrungen mit dem Strafrecht Sie bzw. die Sicht auf Menschen verändert?
Ja, definitiv. Als Kind hatte ich Angst vor Menschen, die am Rande der Gesellschaft stehen. Diese Ansicht hat sich aber drastisch geändert. Durch die strafrechtliche Tätigkeit wurde mir aufgezeigt, dass es sich dabei auch einfach um Menschen handelt, wie ich es einer bin. Ich bin bisher noch nie mit einem Menschen in Kontakt gekommen, der von Grund auf «böse» ist. Ich bin sehr neugierig, ob ich einem solchen Menschen einmal begegnen werde. Die allermeisten, die mit dem Gesetz in Konflikt geraten, befinden sich in Situationen, die (scheinbar) keine andere Lösung erlauben, als straffällig zu werden. Bei vielen Mandanten denke ich mir, dass ich genauso gehandelt hätte, wenn ich ein solches Leben hinter mir hätte. Ich versuche, die Klienten nicht nur bezüglich ihrer Vergangenheit zu betreuen, sondern auch für die Zukunft Lösungen zu finden.
Machen Strafen Menschen zu besseren Leuten?
Nein. Vor allem denke ich, dass härtere Strafen Menschen nicht zum besseren Menschen machen. Die wenigsten schauen vor dem Entschluss, ob sie eine Straftat begehen wollen, zuerst ins Gesetzbuch. Aus meiner Sicht ist es sinnvoller, die Ursache der Straffälligkeit zu behandeln. Mir ist aber natürlich bewusst, dass dies nicht so einfach ist.
Wenn Sie die Möglichkeit hätten, was würden Sie ändern (Strafnormen, Strafsystem, Prozess etc.)?
Vieles (lacht). Insbesondere empfinde ich das Strafbefehlsverfahren teilweise als sehr unfair. Die untersuchende Behörde wird plötzlich zur urteilenden Instanz. Das Gebot der Unabhängigkeit wird somit untergraben. Zudem empfinde ich die Obergrenze einer Strafe, die mittels Strafbefehl auferlegt werden kann, zu hoch. Wenn man bedenkt, dass jemand zu einer Freiheitsstrafe von bis zu sechs Monaten verurteilt werden kann, ohne (aufgrund der Zustellfiktion) jemals tatsächlich vom Entscheid und der Möglichkeit des Einspruchs Kenntnis erhalten zu haben, wird die Absurdität offensichtlich. Und dass die Einsprachefrist von zehn Tagen zu kurz ist, ist uns, glaube ich, allen klar.
Sandra Schultz | legalis brief StrR 18.03.2025