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VORGESTELLT

Jascha Schneider-Marfels – «Der Kontakt mit dem Strafrecht hat mir gezeigt, dass Menschen aus den verschiedensten Gründen in Konflikt mit dem Gesetz geraten.»

Straf- & Strafprozessrecht

Dr. Jascha Schneider-Marfels ist Rechtsanwalt aus Basel, Partner bei BALEX AG. Seit über 20 Jahren ist er im Strafrecht tätig und ein erfahrener Unternehmens- und Familienanwalt mit Spezialisierung im Medienrecht. Ausserdem ist er Geschäftsführer des Wirteverbands Basel-Stadt und Verwaltungsratspräsident einer Raiffeisenbank.

Wann sind Sie das erste Mal mit dem Strafrecht in Kontakt gekommen?

Als ich etwa 15 Jahre alt war, arbeitete ich als Aushilfe bei der Messe Basel und half beim Auf- und Abbau der Stände für die Ferienmesse. Einige Monate später erhielt ich plötzlich eine Aufforderung von der Jugendanwaltschaft. Offenbar war ein anderer Mitarbeiter beim Begehen eines Diebstahls erwischt worden und hatte behauptet, alle anderen hätten ebenfalls gestohlen. Die Jugendanwaltschaft kontaktierte daraufhin meine Eltern und wollte mich sogar während der Schulzeit abführen lassen. Dieses rigorose Vorgehen schockierte mich damals zutiefst, aber glücklicherweise konnten meine Eltern dies verhindern. Die anschliessende Einvernahme verlief harmlos und klärte schnell, dass ich mit dem Diebstahl nichts zu tun hatte. Diese Erfahrung war mein erster und sehr negativer Kontakt mit dem Strafrecht und hinterliess bei mir den Eindruck, dass das System zuweilen unangemessen agiert.

Was sind Ihre alltäglichen Herausforderungen?

Was mich immer wieder herausfordert, ist das Vertrauen zwischen Anwalt und Klient. Es ist essenziell, eine ehrliche Basis zu schaffen, denn nur so kann ich die Realität eines Falles verstehen und eine fundierte Strategie entwickeln. Die Schwierigkeit liegt darin, dass speziell in gewissen Bereichen des Strafrechts mitunter auch der eigene Anwalt belogen wird. Das ist für mich keine Grundlage, meinen Beruf auszuüben. Ich konzentriere mich daher heute vor allem auf Wirtschaftsdelikte und Ehrverletzungen, wo die objektiven Beweismittel oftmals für sich sprechen.

Mit welcher Person aus dem Bereich des Strafrechts (aktuell oder historisch) würden Sie gerne für einen Tag die Rollen tauschen?

Die Vorlesungen bei Günter Stratenwerth an der Universität Basel haben mich nachhaltig beeindruckt. Seine scharfsinnigen Analysen, präzise Ausdrucksweise und seine intellektuelle Schlagfertigkeit waren einzigartig. Als Studierende wollten wir alle ein Stück weit so sein wie «Strati». Einen Tag lang in seine Rolle zu schlüpfen, seine Perspektive einzunehmen und seine Herangehensweise an knifflige rechtliche Fragen zu erleben, wäre für mich eine besondere Erfahrung – ich muss wohl sagen, gewesen. Er lebt ja nicht mehr.

Haben Ihre Erfahrungen mit dem Strafrecht Sie bzw. die Sicht auf Menschen verändert?

Ja, zweifellos. Der Kontakt mit dem Strafrecht hat mir gezeigt, dass Menschen aus den verschiedensten Gründen in Konflikt mit dem Gesetz geraten. Oft sind es nicht «böse» Menschen, sondern solche mit einem guten Kern, die aufgrund einer Zäsur in ihrem Leben abrutschen und in ein Loch fallen, das sie zu strafrechtlich relevantem Verhalten führt. Diese Erkenntnis hat mein Verständnis für menschliche Schwächen geschärft. Ich bin der Überzeugung, dass das jedem passieren kann. Daher sehe ich die Aufgabe der Strafverteidigung nicht nur darin, den Mandanten bestmöglich zu verteidigen, sondern auch darin, diese Menschen auf ihrem Weg zu begleiten und zu unterstützen.

Machen Strafen Menschen zu besseren Leuten?

(Lacht) Was bedeutet es überhaupt, ein «besserer Mensch» zu sein? Unsere Gesellschaft definiert, was strafbar ist, und diese Definition ändert sich über die Zeit. Vor rund 20 Jahren war es ein Kavaliersdelikt, mit 0,9 Promille am Steuer zu sitzen. Heute führt schon eine Überschreitung von 0,5 Promille zu ernsthaften Sanktionen. Sind jene, die heute mit 0,6 Promille in eine Kontrolle geraten und sich strafbar machen, schlechtere Menschen als die, die damals mit 0,8 Promille knapp einer Busse entgingen? Ich bin skeptisch, ob Strafen wirklich zur moralischen Verbesserung führen oder ob sie nicht vielmehr ein Spiegel unserer gesellschaftlichen Normen und Veränderungen sind.

Wenn Sie die Möglichkeit hätten, was würden Sie ändern (Strafnormen, Strafsystem, Prozess etc.)?

Die Geschwindigkeit, mit der Strafverfahren abgewickelt werden, muss dringend verbessert werden. Eine Verurteilung, die erst Jahre nach der Tat erfolgt, trifft Menschen oft an einem völlig anderen Punkt in ihrem Leben. In solchen Fällen erscheint die Strafe nicht mehr angemessen, sondern dient nur noch dem Strafbedürfnis der Gesellschaft und kann das Leben eines möglicherweise geläuterten und reintegrierten Täters unnötig zerstören. Wird die Unschuld festgestellt und ein Freispruch ergeht, hat das jahrelange Verfahren das Leben der Betroffenen bereits nachhaltig geschädigt. Auch für die Geschädigten und Opfer von Straftaten sind lange Verfahrensdauern unzumutbar. Diese Verzögerungen rauben ihnen die Möglichkeit, abzuschliessen, und lassen das Vertrauen in die Justiz schwinden – nicht nur bei den direkt Betroffenen, sondern in der gesamten Gesellschaft.

Sandra Schultz | legalis brief StrR 19.11.2024