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VORGESTELLT

Patrick Rudin – «Wie kommt man zu einem gerechten Urteil? Das Bauchgefühl kann es nicht sein, aber eine teilweise unverständliche Strafrechtsdogmatik hat es mit der Akzeptanz auch schwer.»

Straf- & Strafprozessrecht

Patrick Rudin arbeitet seit 1998 als freier Journalist. Damals war er für die Basellandschaftliche Zeitung, welche inzwischen in der bz Basel aufgegangen ist, tätig. Nach der Jahrtausendwende berichtete er eher zufällig über eine Strafgerichtsverhandlung, woraus sich eine Regelmässigkeit entwickelte.

Wann sind Sie das erste Mal mit dem Strafrecht in Kontakt gekommen?

Als Teenager sah ich den Film «12 Angry Men» von Sidney Lumet und war fasziniert: Ein vermeintlich klarer Mord, bei dem sich im Verlaufe der Geschworenenberatung dann Zweifel auftun. Erst später kapierte ich, dass die Realität wohl meist nicht so wie in diesem idealisierten Kammerspiel abläuft. Seither beschäftigt mich die Frage, wie man zu einem gerechten Urteil kommt. Das Bauchgefühl kann es nicht sein, aber eine teilweise unverständliche Strafrechtsdogmatik hat es mit der Akzeptanz auch schwer.

Was sind Ihre alltäglichen Herausforderungen?

Eine Gerichtsreportage sollte für Aussenstehende verständlich machen, was sich im Gerichtssaal abspielt. Sie muss spannend zu lesen sein, gleichzeitig möchte man den Sachverhalt so detailliert schildern, dass sich die Leser selbst ein Bild machen können. Durch das fehlende Unmittelbarkeitsprinzip ist das schon recht schwierig, und die fehlende Aktenkenntnis macht es auch nicht besser. Man erhält zwar die Anklageschrift, aber dort steht bekanntlich sehr vieles eben nicht drin. Meist erfährt man auch nicht, wie die Angeklagten erwischt worden sind. Ob man Erkenntnisse verwendet, die Richter und Verteidiger nicht haben, ist auch schwierig zu entscheiden.

Alle formell-juristischen Punkte müssen in einer Tageszeitung auch für unbeteiligte Laien verständlich sein, die Beteiligten sollten sich fair dargestellt fühlen. Zitate von Staatsanwälten, Verteidigern und Richtern müssen natürlich korrekt und nicht verzerrend sein. Angeklagte möchte man nicht lächerlich darstellen, Geschädigte sowieso nicht. Das alles muss in 3500 oder auch mal 2800 Zeichen Platz haben, wobei man als freier Journalist keinerlei Kontrolle über die Endfassung des Textes oder das Layout hat. Am schwierigsten erscheint mir aber, unvoreingenommen in die Verhandlung hineinzugehen.

Mit welcher Person aus dem Bereich des Strafrechts (aktuell oder historisch) würden Sie gerne für einen Tag die Rollen tauschen?

Mit einem Barrister in London. Während der Solicitor den Kontakt zum Klienten hält, tritt der Barrister vor Gericht jeweils als Ankläger oder Verteidiger auf und führt auch die Kreuzverhöre. Ich habe im Central Criminal Court in London schon Verhandlungen von der Besuchertribüne aus verfolgt und über die Mengen an Suggestivfragen gestaunt. Den Tausch aber bitte wirklich nur für einen Tag, das System mit Geschworenengerichten und dem damit verbundenen Beweisrecht ist extrem schwerfällig.

Haben Ihre Erfahrungen mit dem Strafrecht Sie bzw. die Sicht auf Menschen verändert?

Ich frage mich oft, wieviel Absicht, Ignoranz oder Dummheit hinter manchen Handlungen steckt. Inzwischen ist mir klar, dass sich all diese Punkte gegenseitig keineswegs ausschliessen. Die trennscharfe Unterscheidung von Eventualvorsatz und bewusster Fahrlässigkeit erscheint mir daher reichlich theoretisch.

Machen Strafen Menschen zu besseren Leuten?

Sagen wir mal so: Die extrem niedrige Kontrolldichte und damit weitgehende Straflosigkeit im Strassenverkehr bringt jedenfalls nicht die beste Seite der Menschen zum Vorschein. Bewährungsstrafen scheinen durchaus eine Wirkung zu entfalten, bloss stellen sich dort, wo sie halt nicht wirken, rasch Vollzugsprobleme.

Wenn Sie die Möglichkeit hätten, was würden Sie ändern (Strafnormen, Strafsystem, Prozess etc.)?

Die zivilprozessualen Bestimmungen für Geschädigte halte ich für schäbig. Wenn ein Richter schon die Schuld auf den Tagessatz genau bestimmen muss, kann er auch gleich den zivilrechtlichen Schaden schätzen und zusprechen.

Wer alle paar Wochen einen Strafbefehl kassiert, sollte spätestens nach dem fünften Mal zwingend vor dem Einzelrichter erscheinen müssen.

Und im Massnahmenrecht könnten wohl strengere Regeln für ambulante Therapien einige stationäre Aufenthalte verhindern.

Sandro Horlacher | legalis brief StrR 19.05.2025