Sabine Jackwert – «Opferschutz stärker gewichten im Vergleich zum Täterschutz.»

Leib & Leben, StPO

Sabine Jackwert ist seit 17 Jahren als Sozialarbeiterin bei der Opferhilfe beider Basel tätig. Sie berät und begleitet Frauen, die von häuslicher und sexualisierter Gewalt betroffen sind.

Die Opferhilfe ist die Anlaufstelle für Gewaltbetroffene. Diese werden beraten und unterstützt sowie über ihre Rechte und Möglichkeiten im Strafverfahren informiert. Die Opferhilfe ist in vier Fachabteilungen unterteilt: «Frauenberatung» für weibliche Opfer von Sexual- und Beziehungsdelikten, «Jungen- und Männerberatung bei Gewalt», «Kinder und Jugendberatung bei Gewalt» sowie die »Opferberatung bei Straftaten im öffentlichen Raum». Sie erbringt Leistungen im Rahmen des Bundesgesetzes über die Opferhilfe (Opferhilfegesetz) und der Leistungsaufträge der Kantone Basel-Landschaft und Basel-Stadt. Sie vernetzt sich wirkungsvoll im fachlichen und öffentlichen Umfeld.

Wann sind Sie das erste Mal mit dem Strafrecht in Kontakt gekommen?

Mit dem Strafrecht wurde ich erstmals als Jugendliche, aufgrund der Teilnahme von Anti AKW-Demonstrationen konfrontiert. Obwohl mir selbst nie wirklich etwas passiert ist im Zusammenhang mit staatlichen Repressionen, war meine Haltung zum Polizei- und Justizapparat nicht die freundschaftlichste und ich habe sie mir eher weit weggewünscht. Erst viele Jahre später bin ich wieder durch meine berufliche Tätigkeit mit dem Strafrecht in Berührung gekommen. Wenn Frauen in Beratungen von Gewalt berichtet haben, hatte ich mich schon mehrmals ertappt, mir eine grössere Unterstützung durch ein schnelleres Eingreifen der Polizei gewünscht zu haben.

Was sind Ihre alltäglichen Herausforderungen?

Hier beziehe ich mich explizit auf meine Erfahrungen im Fachbereich Beratung gewaltbetroffener Frauen. Diese kommen häufig in sehr belastenden Lebenssituationen zu uns, oft mit einem Gefühl von Todesangst, Ohnmacht, Scham, Aussichtslosigkeit, Hin- und Hergerissensein, Hoffnung, Angst vor der Zukunft oder dem Verlust des Selbstvertrauens.

Die erlebte Gewalt hat gravierende Folgen für die körperliche und seelische Gesundheit von Betroffenen und deren Kindern. Dazu gehören u.a. posttraumatische Belastungsstörungen, sozialer Rückzug, finanzielle Abhängigkeit und bei Migrantinnen die Unsicherheit in Bezug auf ihren aufenthaltsrechtlichen Status.

Die Frauen werden über die Vor- und Nachteile eines Strafverfahrens informiert, dabei werden auch die Grenzen eines Strafverfahrens aufgezeigt. Häufig weicht die Vorstellung der Opfer von Gerechtigkeit von der Realität eines Strafverfahrens ab. Herausfordernd ist es auch, Opfer auf eine mögliche Konfrontationseinvernahme vorzubereiten, weil es sehr aufwühlend und angstbesetzt sein kann, mit dem Täter im gleichen Raum sitzen zu müssen. Einige Opfer würden ihren Strafantrag dann am liebsten wieder zurückziehen.

Eine weitere Schutzmassnahme stellt die Möglichkeit dar, ein Kontakt- und Annäherungsverbot gegen den Täter beim Zivilgericht zu erwirken. Hier wird bei Übertretung zwar eine Geldbusse angedroht, aber in der Realität hat eine Missachtung des Verbots für den Täter geringe Konsequenzen und im Rahmen der häuslichen Gewalt oder bei extremen Stalking ist ein Opfer damit noch lange nicht geschützt.

Mit welcher Person aus dem Bereich des Strafrechts (aktuell oder historisch) würden Sie gerne für einen Tag die Rollen tauschen?

Ich könnte mir sehr gut vorstellen, mal in die Rolle einer Richterin oder einer Staatsanwältin zu schlüpfen, um einen Perspektivenwechsel zu bekommen um mir besser vorstellen zu können, welchen Stellenwert Glaubhaftigkeit, Beweisbarkeit und Zeugenaussagen haben, damit es zu einer Verurteilung kommen kann. Gern wäre ich auch mal bei einem Polizeieinsatz dabei, um so die Dynamik von Opfer und Täter unmittelbarer mitzubekommen.

Haben Ihre Erfahrungen mit dem Strafrecht Sie bzw. die Sicht auf Menschen verändert?

Meine Erfahrung mit dem Strafrecht hat zu einer gewissen Ernüchterung in Bezug auf die Erreichbarkeit von sogenannten Parallelgesellschaften in unserem Land geführt, in denen Menschen aus anderen Kulturkreisen vieles unter sich ausmachen und in denen die Rolle der Frau sehr unbedeutend ist. Dies erschwert selbst nach massiver häuslicher Gewalt ein Ausbrechen mit einer Trennung oder Strafanzeige enorm.

Machen Strafen Menschen zu besseren Leuten?

Nein, das glaube ich nicht. Die Ausgestaltung der Strafe sowie das Vorhandensein eines sozialen Umfeldes sind relevant dafür, wie eine Strafe sich auf einen Menschen auswirkt. Straftäter mit einem gesunden sozialen Umfeld haben möglicherweise eher den Willen zur Resozialisierung. Sie können durch die verschiedenen Massnahmen im Strafvollzug Chancen nutzen, z.B. eine Ausbildung absolvieren oder in den halboffenen Vollzug kommen und damit weiter am gesellschaftlichen Leben teilhaben. Wo dieses Umfeld aber nicht vorhanden ist, scheint eine Resozialisierung eher schwierig zu sein. Eine Strafe allein erwirkt sicher keine Wesensänderung hin zum Guten.

Wenn Sie die Möglichkeit hätten, was würden Sie ändern (Strafnormen, Strafsystem, Prozess etc.)?

Ich würde den Opferschutz stärker gewichten v.a. im Vergleich zum Täterschutz. Ich würde die Zusammenarbeit zwischen den in der Strafverfolgung beteiligten Fachdisziplinen intensivieren und diese zu festen Teams zusammenführen. Ich würde mehr Weiterbildungen zur Sensibilisierung gegenüber Opfern von häuslicher und sexualisierter Gewalt obligatorisch machen für alle an einem Strafverfahren beteiligten Fachdisziplinen. Wenn ich könnte würde ich mehr Personal einstellen, damit Verfahren schneller abgeschlossen werden und somit hoffentlich mehr Verfahren zu einem Urteil führen. Denn Einsicht in Strafe kann nur erfolgen, wenn sie zeitnah zum Delikt erfolgt und nicht erst zwei bis drei Jahre später.

Sandro Horlacher | legalis brief StrR 20.09.2022