Simone Lustenberger – «Es gibt immer Fälle, die einen nachdenklich stimmen.»

StPO

Simone Lustenberger ist im Jahr 1980 geboren und im Kanton Luzern aufgewachsen. Nach der Maturität hat sie in Zürich Rechtswissenschaften studiert. Anschliessend absolvierte siein den Kantonen Basel-Stadt und Basel-Landschaft verschiedene Praktika (u.a. bei der Staatsanwaltschaft Basel-Landschaft). Unmittelbar nach der Anwaltsprüfung erhielt sie eine Anstellung bei der Staatsanwaltschaft Basel-Stadt. Sie sagt: «Das war damals mein absoluter Traumberuf und ist es heute – nach über 14 Jahren – noch immer.» Als Staatsanwältin der Allgemeinen Abteilung bearbeitet und führt sie Strafverfahren gegen erwachsene Personen aus den verschiedensten Deliktskategorien und vertritt diese auch vor allen Instanzen. Seit 2019 ist sie zudem Mitglied der Konkordatlichen Fachkommission zur Beurteilung der Gemeingefährlichkeit von Straftätern (Strafvollzugskonkordat Nordwest- und Innerschweiz).  In diesem interdisziplinären Gremium wird die Gefährlichkeit von erwachsenen und jugendlichen Straftätern sowie deren Rückfallrisiken abgeklärt und Empfehlungen zum Vollzug abgegeben.

Wann sind Sie das erste Mal mit dem Strafrecht in Kontakt gekommen?

Im Herbst 1999 begann ich mit dem Jura-Studium an der Universität Zürich. Relativ kurz nach Beginn sagte Prof. Donatsch – der damals StGB Allgemeiner Teil unterrichtete – zu uns Studierenden, dass vor dem Geschworenengericht in Zürich der Prozess gegen den ungarisch-schweizerischen Tierarzt Gabor Bilkei stattfindet. Er empfahl uns, diese öffentliche Verhandlung zu besuchen. Das tat ich natürlich umgehend und wartete dort schon früh am Morgen auf den Einlass. Die Verhandlung gegen den wortgewandten Veterinär, der wegen Mordes an seiner Ehefrau Heike Bilkei angeklagt worden war und der sich vor den neun Geschworenen und den drei Berufsrichtern einen «Schlagabtausch» mit dem Staatsanwalt lieferte, zog mich völlig in den Bann. Während dieses Prozesses – der ja als einer der bekanntesten und aufsehenerregendsten Kriminalfälle der Schweiz gilt – wusste ich, dass ich genau diese Arbeit machen möchte. Ich habe dann während meines Studiums noch diverse weitere Verhandlungen am Geschworenengericht Zürich mitverfolgt, u. a. auch denjenigen gegen den radikalen Bündner Umweltaktivisten Marco Camenisch. Auch dieser Prozess war sehr spannend und lehrreich. Das hat mich in meinem Vorhaben weiter bestärkt.

Was sind Ihre alltäglichen Herausforderungen?

Die tägliche Herausforderung ist sicherlich die enorme Arbeitsbelastung: Die Fälle werden immer mehr, man hat verschiedene Haftfälle (beschuldigte Personen, die sich in Untersuchungshaft befinden) gleichzeitig zu bearbeiten, diverse Verhandlungen vor der ersten und zweiten Instanz und auch zahlreiche ältere Fälle, die eigentlich schnell erledigt werden müssten. Daneben gibt es immer mehr Beschwerdeverfahren, zu denen ich jeweils Stellung nehmen muss, was ebenfalls viel Zeit in Anspruch nimmt.

Man muss sich mit jedem Fall auseinandersetzen und analysieren, was noch zu ermitteln ist und wie das Verfahren bearbeitet und abgeschlossen werden soll. Gerade bei grösseren und komplexeren Fällen benötigt das sehr viel Zeit.

Natürlich gibt es dabei auch immer wieder Fälle, die einen nachdenklich stimmen und die man nicht so einfach «wegsteckt». Vor allem, wenn es um Opfer geht, die infolge der Taten stark traumatisiert sind. Aber das ist halt Teil meiner Arbeit als Staatsanwältin und damit muss man umgehen können.

Man hat in dieser Funktion auch eine grosse Verantwortung; wenn wir den Fall nicht richtig ermitteln und anklagen, kann das Gericht die Anklage nicht uneingeschränkt beurteilen.

Das Positive ist aber, dass meine Arbeit sehr dynamisch, abwechslungsreich und vielfältig ist. Das schätze ich und ich gehe jeden Tag gerne zur Arbeit.

Mit welcher Person aus dem Bereich des Strafrechts (aktuell oder historisch) würden Sie gerne für einen Tag die Rollen tauschen?

Ich würde sehr gerne einmal mit einer Staatsanwältin oder einem Staatsanwalt aus einem Land, welches mit einer ganz anderen Art und Intensität von Kriminalität konfrontiert ist, die Rollen tauschen (z. B. Süditalien, Venezuela oder Südafrika). Aber das würde ich wohl nur für einen Tag tun wollen …

Haben Ihre Erfahrungen mit dem Strafrecht Sie bzw. die Sicht auf Menschen verändert?

Vielleicht bin ich aufgrund meiner Erfahrungen als Staatsanwältin in einigen Situationen etwas vorsichtiger geworden oder auch etwas sensibler in Bezug auf gewisse Problematiken. Aber meine Sicht auf die Menschen hat sich durch meine Arbeit zum Glück nicht verändert.

Machen Strafen Menschen zu besseren Leuten?

Nein, das glaube ich nicht. Eine Strafe gibt einer Täterin oder einem Täter aber die Möglichkeit, die eigene Tat und das Verhalten zu reflektieren und sich Gedanken zu machen. Eventuell gelingt es ihr oder ihm, etwas im Leben zu ändern und nicht mehr straffällig zu werden. Das ist aber nicht so einfach, dessen bin ich mir bewusst. Bei meiner täglichen Arbeit sehe ich leider auch immer wieder Personen, die das nicht schaffen und die Kurve nicht mehr kriegen. Deswegen sind sie aber keine schlechteren Menschen.

Wenn Sie die Möglichkeit hätten, was würden Sie ändern (Strafnormen, Strafsystem, Prozess etc.)?

Ich finde es grundsätzlich richtig, dass die Strafprozessordnung die Rechte sämtlicher Parteien hochhält. Ich würde mir aber wünschen, dass die Politik die Strafverfolgungsbehörden auch mit den dafür notwendigen personellen und materiellen Ressourcen ausstattet – namentlich nach einem weiteren Ausbau der Verteidigungsrechte. Oft scheint mir auch die Einsicht zu fehlen, dass die stetig steigende Formalisierung des Strafprozesses dem Anspruch einer effizienten Fallbewirtschaftung widerspricht. Sodann würde ich versuchen, die Strafverfahren für die Opfer weniger quälend auszugestalten. Ein Strafverfahren durchzustehen, kann für ein Opfer eine grosse Belastung sein. Viele werden wohl dadurch abgeschreckt und erstatten erst gar nicht Anzeige oder ziehen sie zurück. Das darf eigentlich nicht sein.

Sandro Horlacher | legalis brief StrR 20.12.2022