Die diesjĂ€hrige, wiederum von Michael Ritscher konzipierte und geleitete sowie von Christoph Gasser organisierte INGRES-Tagung zur Praxis des ImmaterialgĂŒterrechts in der Schweiz fand wieder in alter Frische als persönliche (und auch virtuell zugĂ€ngliche) Veranstaltung mit fast 200 Teilnehmerinnen und Teilnehmern im Lake Side ZĂŒrich statt. Die Teilnehmerschaft setzte sich aus Vertretern von Gerichten und Behörden, Hochschuleinrichtungen sowie der Anwaltschaft und Wirtschaft zusammen.
Le colloque INGRES de cette annĂ©e sur la pratique en matiĂšre de droit de la propriĂ©tĂ© intellectuelle en Suisse, Ă nouveau conçu et dirigĂ© par Michael Ritscher et organisĂ© par Christoph Gasser, sâest dĂ©roulĂ© avec le mĂȘme dynamisme quâĂ lâaccoutumĂ©e. Ăgalement accessible virtuellement, il sâest tenu au Lake Side de Zurich et a rĂ©uni prĂšs de 200 participants. Lâassistance Ă©tait composĂ©e de reprĂ©sentants des tribunaux et des autoritĂ©s, dâĂ©tablissements de lâenseignement supĂ©rieur ainsi que du barreau et de lâĂ©conomie.
Synthia Bastron,
MLaw, LL.M., ZĂŒrich.
Lara Burkhalter,
MLaw, LL.M., ZĂŒrich.
Rachel Pawlik,
M.A. HSG in Law.
Torben MĂŒller, Patentanwalt in Basel, prĂ€sentierte zwei Urteile des Bundespatentgerichts (BPatGer), die in der Folge an das Bundesgericht (BGer) weitergezogen wurden.
Das BPatGer wĂŒrdigte im Entscheid «Injektionspen» (BPatGer vom 9. Juni 2021, O2020_001), ob anlĂ€sslich einer verbalen EinschrĂ€nkung ein Merkmal unzulĂ€ssig aus seinem Kontext herausgegriffen wurde und dabei einen gegenĂŒber der ursprĂŒnglichen Offenbarung breiteren Schutz beanspruchte. Das BPatGer analysierte, wo das Merkmal in der ursprĂŒnglichen Anmeldung offenbart wurde, und kam zum Ergebnis, dass sich einzig aus dem AusfĂŒhrungsbeispiel eine Offenbarung ergab. Allerdings, so das BPatGer, war dieses Merkmal funktional und strukturell untrennbar mit den anderen Merkmalen verbunden. Der Einwand der Patentinhaberin, dass es grundsĂ€tzlich auch andere funktionelle Lösungen gebe, wurde vom BPatGer als nicht massgeblich erachtet, weshalb es letztlich beschloss, dass das isoliert herausgegriffene Merkmal unzulĂ€ssig ist. Das Urteil wurde vom BGer bestĂ€tigt. Insbesondere hielt das BGer fest, dass es nicht darauf ankommt, ob das Merkmal erfindungswesentlich ist, was die Patentinhaberin ohnehin nicht aufzeigen konnte.
Das Urteil «SĂ€geblĂ€tter» (BPatGer vom 30. August 2021, O2019_012) beschĂ€ftigte sich ebenfalls mit dem Thema des isolierten Herausgreifens, allerdings in Form einer kaskadenartigen Beschreibung der EinschrĂ€nkungen betreffend das Produkt, insbesondere betreffend das SĂ€geblatt und dessen Elemente. Die Beklagte behauptete, dass eine Kaskade von vorteilhaften und vorzugsweisen EinschrĂ€nkungen existiere, beginnend mit «sternartig» und dann «vorzugsweise in Form eines sternförmigen Polygons», gefolgt von «vorzugsweise (wurde interpretiert als eine weitere EinschrĂ€nkung) mit Abrundungen». Die Beklagte versuchte, geltend zu machen, dass die Abrundungen nur im Kontext von «sternartig» offenbart sind, weil durch die darauffolgenden Worte «insbesondere, vorzugsweise, vorzugsweise» eine Kaskadierung oder eine Konkretisierung der Merkmale vorgenommen wird. Das BPatGer stellte klar, dass eine Kaskade grundsĂ€tzlich einen funktionellen strukturellen Zusammenhang begrĂŒnden kann, kam aber gleichzeitig zum Schluss, dass vorliegend nicht eindeutig eine Kaskade vorliegt, da die benutzten Wörter «vorzugsweise» und «sternartig» auf gleiche oder unterschiedliche Ebenen deuten können. Aufgrund des unklaren Wortlauts hielt das BPatGer fest, dass die Abrundungen grundsĂ€tzlich andere Merkmale betreffen als die AntriebsflĂ€chen selbst, weshalb es im Ergebnis festhielt, dass aufgrund eines entsprechenden Hinweises in der Beschreibung die Abrundungen auch auf andere Formen ĂŒbertragbar sind, weshalb das Merkmal mit den Abrundungen auch isoliert herausgegriffen werden kann.
MĂŒller wies darauf hin, dass es fĂŒr die Praxis des Patentanwalts von Bedeutung ist, dass Offenbarungen in die Beschreibung aufgenommen werden und Pointer gesetzt werden, um auf die Kombinierbarkeit von Merkmalen hinzuweisen und so separate AnsprĂŒche klar darzustellen. BezĂŒglich Art. 229 ZPO und des Nachreichens von PatentansprĂŒchen nach Aktenschluss gilt, dass es sich hierbei um einen neuen Sachverhalt handelt. Im konkreten Fall (ebenfalls Urteil «SĂ€geblĂ€tter») wurde festgestellt, dass die KlĂ€gerin fĂ€lschlicherweise einen Textabschnitt gestrichen hatte, aber ausnahmsweise eine nachtrĂ€gliche Korrektur zugelassen werden konnte, da sich aus anderen Stellen der klare Hinweis eines Fehlers ergab. Dieser Auffassung folgte auch das BGer. Abschliessend fragte MĂŒller anhand der zwei dargestellten Entscheide kritisch, ob sich damit Tor und TĂŒr fĂŒr nachtrĂ€gliche Ănderungen nach Aktenschluss öffne.
Julian Schwaller, Rechtsanwalt in ZĂŒrich, fokussierte sich in seinem Vortrag auf Entscheide zu den Themen des Teilverzichts, des Novenrechts, der materiellen Rechtskraft und der Zollhilfe.
Der erste Themenblock begann mit dem Thema der EinschrĂ€nkung von Patenten in einer spĂ€ten Phase des Prozesses und der Frage, ob es zulĂ€ssig ist, das Patent in eingeschrĂ€nkter Fassung zur Verteidigung von Nichtigkeitsangriffen zu verwenden. Die zentrale Norm hierzu ist Art. 229 ZPO und die Unterscheidung zwischen echten und unechten Noven. Der Entscheid (BGE 146 III 416 â «Gelenkpfanne») unterscheidet sich von den anderen prĂ€sentierten Entscheiden, dass nicht nur eine VerbaleinschrĂ€nkung mit Wirkung zwischen den Parteien des Prozesses erklĂ€rt wurde, sondern, dass nach Abschluss des zweiten Schriftenwechsels ein Fachrichtervotum zur Stellungnahme vorgelegt wurde und die Patentinhaberin anschliessend einen Antrag auf Teilverzicht beim IGE gestĂŒtzt auf Art. 24 PatG einreichte. Sie beabsichtigte damit, in einer spĂ€teren Phase â mit Stattgabe des IGE â das eingeschrĂ€nkte Patent als echtes Novum ins Verfahren einzubringen. Das BPatGer liess dieses Vorgehen zu. Der Entscheid des BPatGer wurde allerdings vom BGer wieder aufgehoben. Das BGer rĂ€umte zwar ein, dass es bei der Auslegung von Art. 229 ZPO auf den Entstehungszeitpunkt des Novums ankomme, aber bei einer wörtlichen Auslegung dieser Bestimmung der Eventualmaxime zu wenig Beachtung geschenkt wĂŒrde. Hinzu kommt, dass ein Teilverzicht nach Aktenschluss ein sog. Potestativ-Novum ist, dessen Entstehung allein vom Willen der Patentinhaberin abhĂ€ngt. Laut BGer resultiert daraus, dass ein Teilverzicht nur unter den Voraussetzungen eines unechten Novums in das Verfahren eingebracht werden kann. I.c. war der Teilverzicht zwar zu spĂ€t, wurde aber vom BPatGer dennoch berĂŒcksichtigt, weil das Patent in der ursprĂŒnglichen Fassung untergegangen war. Das BGer argumentierte, dass einerseits die eingeschrĂ€nkte Fassung des Patents nicht mehr in das Verfahren eingebracht worden war und anderseits kein Entscheid auf Basis eines untergegangenen Patents gefĂ€llt werden konnte, weshalb ein Abschreibungsentscheid zu ergehen hatte. Im Ergebnis, und weil es sich nur um ein Prozessurteil handelt, kann nachtrĂ€glich ein zweiter Patentverletzungsprozess auf Basis des eingeschrĂ€nkten Patents gefĂŒhrt werden.
Der jĂŒngste BGer Entscheid (BGer vom 31. Januar 2022, 4A_500/2021) behandelte ebenfalls die Stellungnahme zum Fachrichtervotum mit der Besonderheit, dass gleichzeitig ein Sistierungsantrag der Patentinhaberin gestellt wurde. Diese argumentierte, dass parallel ein Einspruchsverfahren vor dem EPA hĂ€ngig sei und dort das Patent möglicherweise nur in einer eingeschrĂ€nkten Fassung erhalten bleibe. Das Ziel war, das Verfahren bis zum Abschluss des Einspruchsverfahrens zu sistieren, sodass das eingeschrĂ€nkte Patent noch im schweizerischen Prozess eingebracht werden kann. Das BPatGer lehnte den Sistierungsantrag ab und fĂ€llte das Urteil, ohne das Verfahren vor dem EPA abzuwarten. Das BGer fĂŒhrt hierzu aus, dass ein Verfahren nur ausgesetzt werden kann, wenn die GĂŒltigkeit eines europĂ€ischen Patents strittig ist und wenn eine Partei nachweist, dass ein Einspruch noch möglich oder bereits erhoben ist und dieses Verfahren noch hĂ€ngig ist. Die Norm bezweckt zu verhindern, dass die potenzielle Verletzerin zu einer finanziellen Wiedergutmachung auf der Basis eines Patentes verurteilt wird, das nach Abschluss des schweizerischen Patentverfahrens vor dem EPA hinterher widerrufen wird. Es wurde offengelassen, ob es sich tatsĂ€chlich um ein echtes oder unechtes Novum handelt. Laut Schwaller lĂ€sst sich aber durchaus argumentieren, dass wegen einer noch möglichen EinschrĂ€nkung durch das EPA diese nicht nur allein vom Willen der Patentinhaberin abhĂ€ngt und somit nicht wie ein unechtes Novum behandelt werden soll. Des Weiteren stellte das BGer klar, dass fĂŒr den Fall, dass das Schweizer Verfahren nicht sistiert wird, es nicht wegen der materiellen Rechtskraft verwehrt bleibt, eine zweite Verletzungsklage gestĂŒtzt auf das Patent in der eingeschrĂ€nkten Fassung zu erheben (= neue Anspruchsgrundlage).
Im zweiten Themenblock referierte SchwallerÂ ĂŒber die Haftung fĂŒr SchĂ€den, die durch die ZurĂŒckbehaltung von Waren aufgrund von Zollhilfemassnahmen entstehen. Dieses Thema wurde durch das BPatGer erstmals behandelt. Betroffen waren dieselben Parteien wie im Entscheid «Injektionspen», wobei eine Zivilklage auf Basis von Art. 86k Abs. 2 PatG fĂŒr SchĂ€den durch ZurĂŒckbehalten von mit Wirkstoff befĂŒllten Waren erhoben wurde. Wird eine Zollmassnahme beantragt, die bei der Zollverwaltung einen Verdacht auf Patentverletzung begrĂŒndet, besteht eine Frist von zehn Werktagen, um vorsorgliche Massnahmen zu erwirken. Diese Frist kann einmal erstreckt werden. Wird keine vorsorgliche Massnahme angeordnet, muss der Antragsteller den Schaden ersetzen, der durch das ZurĂŒckbehalten der Ware entstanden ist. Das BPatGer hielt fest, dass es sich dabei um eine verschuldensunabhĂ€ngige Kausalhaftung ohne Exkulpationsmöglichkeit handelt. Es besteht also keine Reduktionsmöglichkeit, und es spielt auch keine Rolle, ob die zurĂŒckbehaltende Ware patentverletzend ist oder nicht. Auch die von der Lehre angebrachte ZulĂ€ssigkeit einer «kurzen» ZurĂŒckbehaltung von drei Tagen wurde vom BPatGer verworfen, da hier die Haftung gleichartig greift. Schwaller betonte, dass der Antragsteller möglicherweise mit einer scharfen Kausalhaftung konfrontiert wird, wenn die vorsorgliche Massnahme nicht erteilt oder aufgehoben wird.
Mark Schweizer, PrĂ€sident des BPatGer, stellte den GeschĂ€ftsbericht 2021 vor. Insgesamt gab es mehr EingĂ€nge im summarischen Verfahren (neun) und gleich viele ordentliche Verfahren (18) im Vergleich zum Vorjahr. Die Einnahmen waren im Jahr 2021 höher (CHF 895’000) als im vorangehenden Jahr (CHF 797’000). Das Defizit (CHF 713’000) sank im Vergleich zum Vorjahr (CHF 777’000) aufgrund der hohen Einnahmen durch die guten Erledigungen etwas. Die Erledigungen im ordentlichen Verfahren (17 resp. 14 im Vorjahr) und summarischen Verfahren (fĂŒnf resp. drei im Vorjahr) befanden sich im langjĂ€hrigen Durchschnitt. Es bestehen 25 Pendenzen im ordentlichen Verfahren (resp. 24 im Vorjahr) und fĂŒnf Pendenzen im summarischen Verfahren (resp. eine im Vorjahr). Schliesslich fand das 10-jĂ€hrige JubilĂ€um des BPatGer statt, anlĂ€sslich dessen eine Tagung zum europĂ€isch harmonisiertem Patentrecht und dem nationalen Patentgericht abgehalten wurde.
Schweizer behandelte die novenrechtliche Problematik in Kontext von Massnahmeverfahren anhand des Urteils «Sorafenibtosylat» (BPatGer vom 26. April 2022, S2021_006), das er als «Gutachterschlacht» â einem Massnahmeverfahren mit 15 Gutachten â titulierte. Die Hauptfrage in diesem Summarverfahren war, welche dieser Gutachten nach dem Novenrecht nach Aktenschluss berĂŒcksichtigt werden können und dĂŒrfen. Strittig war, ob die KlĂ€gerin ihre Nichtigkeitsargumente, die im Ăbrigen bereits aus Parallelverfahren im Ausland bekannt waren, nicht erst mit der Stellungnahme â da kein zweiter Schriftenwechsel angeordnet wurde â sondern mit dem Gesuch hĂ€tte vorbringen können und mĂŒssen, womit diese Argumente, vorgebracht mittels Stellungnahme, verspĂ€tet eingereicht worden wĂ€ren. Das Gericht ĂŒberzeugte dies nicht, denn die KlĂ€gerin darf abwarten, welche Argumente im Verfahren vorgebracht werden, um dann kausal darauf zu reagieren. Allerdings fĂŒhrte das Gericht â unter Hinweis auf BGE 146 III 55 E. 2.5.2 «DurchflussmessfĂŒhler» â aus, dass spĂ€ter aufgestellte Behauptungen und Beweismittel zu berĂŒcksichtigen sind, wenn diese unverzĂŒglich und in Reaktion auf eine zu berĂŒcksichtigende Behauptung der Gegenpartei eingereicht werden. Dies â so Schweizer â ist allerdings im Massnahmeverfahren problematisch und wurde hier durch analoge Anwendung der unverzĂŒglichen Reaktion gelöst. Das Diskussionsplenum war sich einig, dass ein Aktenschluss auch in Summarverfahren notwendig und fĂŒr die Prozessökonomie von Bedeutung ist.
Schliesslich referierte Schweizer zum strittigen Zeitpunkt des Einreichens von Massnahmegesuchen vor Patenterteilung. In beiden diskutierten Entscheiden wurde ein Massnahmegesuch nach der «notice of allowance» (also in Aussichtstellung der Erteilung des EPA), aber vor der «publication of grant» (Veröffentlichung der Erteilung) eingereicht. Im ersten Entscheid (BPatGer vom 4. Januar 2022, S2021_007) reichte allerdings zeitgleich eine Drittpartei eine Abtretungsklage betreffend das Patent mit dem Ziel ein, dass die Erteilung durch das EPA ausgesetzt und das Ergebnis der Abtretungsklage abgewartet wird. Trotz des Versuches auf Grundlage von Art. 72 Abs. 2 PatG â einer mittlerweile aufgehobenen Bestimmung â einen provisorischen Schutz vor Erteilung zu erlangen, scheiterte dies durch Anwendung von Art. 111 PatG, der statuiert, dass die veröffentlichte Patentanmeldung dem Anmelder keinen vorlĂ€ufigen Schutz nach Art. 64 PatG gewĂ€hrt, weil es vor Erteilung eines Patents keine vorsorglichen Massnahmen gibt. Folglich werden Erteilungen wĂ€hrend lĂ€ngerer Zeit blockiert, und es ist wĂ€hrend dieser Zeit unklar, ob die KlĂ€gerin ĂŒberhaupt Patentinhaberin bleibt. Im Ergebnis wurde das Massnahmeverfahren sistiert. Im zweiten Entscheid «Fingolimod» (BPatGer vom 2. Juni 2022, S2022_002) war bedeutend, dass die Einspruchsabteilung am Patentanspruch nichts mehr Ă€ndern, sondern nur an den Beschreibungen arbeiten kann. Die GĂŒltigkeit der PatentansprĂŒche können somit nicht mehr in Frage gestellt werden. Es genĂŒgte vorliegend, wenn das Patent im Urteilszeitpunkt erteilt ist (wenn dieses als echtes Novum betrachtet wird) bzw. mit einer Erteilung zu rechnen ist. Folglich wurde das Massnahmeverfahren nicht sistiert, sondern weitergefĂŒhrt, als wĂ€re das Patent erteilt, und die Gesuchstellerin bzw. Patentinhaberin war schliesslich erfolgreich.
Christoph Gasser, Rechtsanwalt in ZĂŒrich, prĂ€sentierte den von Marc Wullschleger (kurzfristig ausgefallen), Rechtsanwalt in ZĂŒrich, ausgewĂ€hlten und zur Besprechung vorbereiteten Entscheid «Hotelartikel» des Handelsgerichts ZĂŒrich (HGer ZH vom 25. Januar 2022Nr. HG210105-O). Die Verfasserin des Artikels «500 Hotels suchen KĂ€ufer» reichte Klage wegen Urheberrechtsverletzung gegen die Beklagte ein. Diese publizierte einen Tag nach dem Artikel der KlĂ€gerin einen Artikel auf blick.ch, der nicht nur stark am Artikel der KlĂ€gerin angelehnt war, sondern auch wesentliche SĂ€tze des ursprĂŒnglichen Artikels ĂŒbernommen hatte. Die Klage wurde vom HGer ZH gutgeheissen. Gasser wies darauf hin, dass die Urheberrechtsverletzung bloss von drei Gerichtsmitgliedern bejaht wurde, wĂ€hrend sich eine Minderheit von zwei Gerichtsmitgliedern gegen die Verletzung aussprach und dazu eine Dissenting Opinion verfasste. Offenbar einstimmig bejahten alle Richterinnen und Richter den Werkscharakter des klĂ€gerischen Artikels und verneinten die Anwendbarkeit der Schrankenbestimmungen.
Das Gericht beurteilte zunĂ€chst, ob es sich beim Artikel der KlĂ€gerin um ein Sprachwerk i.S.v. Art. 2 Abs. 2 Bst. a URG handelt, weil insbesondere der Wiedergabe von blossen Tatsachen keinen Werkcharakter zukommt. FĂŒr die Erstellung des Artikels wurden gewisse Recherchen im Hintergrund betrieben. Dabei wurden die Ergebnisse nicht ohne Bearbeitung wiedergegeben, sondern selektioniert und zusammengefasst und erst in einem zweiten Schritt in den Artikel integriert. Das Gericht sprach dem Text unter einer Gesamtbetrachtung urheberrechtlichen Schutz zu, hielt allerdings auch fest, dass fĂŒr journalistische BeitrĂ€ge ein bescheideneres Schutzniveau besteht. Gasser wies in diesem Zusammenhang darauf hin, dass gemĂ€ss Dissentin Opinion die HĂŒrde zur IndividualitĂ€t wohl nur mit MĂŒhe erreicht wurde.
Bei der Beurteilung, ob ein Eingriff in das Urheberrecht seitens der Beklagten vorlag, verglich das Gericht die beiden Artikel und stellte zahlreiche Paraphrasierungen seitens der Beklagten fest. Das Paraphrasieren eines Textes oder wesentliche Teile dessen sei keine eigenstĂ€ndige Neugestaltung, auch dann, wenn die Reihenfolge von SĂ€tzen teilweise umgestellt werde. Die einzelnen SĂ€tze wurden vom Gericht nicht isoliert auf ihre urheberrechtliche SchutzfĂ€higkeit gewĂŒrdigt. Gleichwohl stellte das HGer ZH insgesamt 14 SĂ€tze des Werkes der KlĂ€gerin den paraphrasierten SĂ€tzen der Beklagten gegenĂŒber, um das Werk in einer Gesamtbetrachtung zu beurteilen und kam zum Schluss, dass sich der Artikel der Beklagten nicht genĂŒgend vom Text der KlĂ€gerin unterscheidet. Zuletzt prĂŒfte das Gericht die Anwendbarkeit allfĂ€lliger Schrankenbestimmungen. In Frage kamen die Berichterstattung ĂŒber aktuelle Ereignisse (Art. 28 Abs. 2 URG) sowie das Zitatrecht (Art. 25 URG). Da es sich beim Artikel der Beklagten nicht um einen kurzen Ausschnitt des ursprĂŒnglichen Artikels handelt und auch keine Quelle ĂŒber die Urheberschaft angegeben wurde, fiel die Anwendbarkeit von Art. 28 Abs. 2 URG ausser Betracht. Sodann setzt sich der Artikel der Beklagten nicht mit dem Artikel der KlĂ€gerin auseinander, sondern ĂŒbernimmt Letzteren grundsĂ€tzlich, womit das Zitatobjekt (Text der KlĂ€gerin) nicht als Belegfunktion eingesetzt wurde. Auch der Namen der Verfasserin des ursprĂŒnglichen Textes wurde nie erwĂ€hnt, weshalb die Beklagte sowohl gegen das materielle wie auch gegen das formelle Zitatrecht verstiess.
In der darauffolgenden Diskussion hob Ritscher hervor, wie selten es sei, dass in der Schweiz eine Dissenting Opinion publiziert wird. Zudem gebe es faktisch keine Entscheide, die den Schutzbereich des Urheberrechts thematisieren â vor allem weil dieser im URG selbst nicht definiert wird. Aus demselben Grund kommentierte Florent Thouvenin, UniversitĂ€t ZĂŒrich, dass dem Gericht der seines Erachtens vorliegende Fehlentscheid nur bedingt angelastet werden könne. In diesem Zusammenhang hielt er fest, dass in der Schweiz versucht werde, das Fehlen einer Norm, die den Schutzbereich explizit adressiert, durch Art. 3 URG zu kompensieren. Stattdessen hĂ€tte begrĂŒndet werden mĂŒssen, was die IndividualitĂ€t des Textes ausmacht, was jedoch nicht geschehen sei. GemĂ€ss Reinhard Oertli, Rechtsanwalt in ZĂŒrich, wurde im Urteil die Tatsache unterstrichen, dass die KlĂ€gerin einen massgeblichen Arbeitsaufwand und gute Ideen gehabt hĂ€tte, was fĂŒr die Beurteilung des urheberrechtlichen Schutzes jedoch beides irrelevant sei. Stattdessen hielt er dafĂŒr, dass die einzelnen AbsĂ€tze im Artikel der Beklagten, welche NacherzĂ€hlungen vom ursprĂŒnglichen Artikel darstellten, mit den AbsĂ€tzen des Artikels der Journalistin hĂ€tten verglichen und bewertet werden mĂŒssen. Das Gericht hĂ€tte dann zum Schluss kommen können, dass eine Urheberrechtsverletzung bezĂŒglich dieser einzelnen AbsĂ€tze vorliegt.
Alesch Staehelin, Rechtsanwalt in ZĂŒrich, berichtete zunĂ€chst zur Judikatur in Bezug auf Softwareschutz und Urheberrecht in der Schweiz. Zuerst widmete sich Staehelin den sog. SchĂŒttelgefĂ€sswaagenentscheiden. ZunĂ€chst handelte es sich um einen Massnahmenentscheid des Handelsgerichtes St. Gallen (HGer SG vom 24. Januar 2020, HG.2019.32-HGP,), der bestĂ€tigte, dass Computerprogramme mit einer gewissen KomplexitĂ€t i.d.R. urheberrechtlich geschĂŒtzt sind. Im Entscheid wurden aber auch die Substanziierungsanforderungen bei der Geltendmachung einer Urheberrechtsverletzung an einem Softwareprogramm thematisiert. Der KlĂ€ger muss seine Rechtsinhaberschaft am originĂ€ren Code und die Ăbernahme konkreter Codeteile glaubhaft machen. Der Fall gelangte sodann ans BGer (BGer vom 22. Septemner 2020, 4A_115/2020). Dieses fĂŒhrte aus, dass bei der Geltendmachung von unerlaubter Verwendung und Weitergabe von neu entwickelter Software davon auszugehen ist, dass ein nicht leicht wiedergutzumachender Nachteil gemĂ€ss Art. 93 Abs. 1 lit. a BGG glaubhaft gemacht werden kann.
Staehelin wandte sich danach dem Thema der kĂŒnstlichen Intelligenz (KI) zu. Laut Staehelin verfolgen die EU und die Schweiz hierzu unterschiedliche AnsĂ€tze. Denn ausser sieben Richtlinien des Bundesrates zum Umgang von KI in der Bundesverwaltung gebe es im Schweizer Recht bislang keinen regulatorischen Rahmen. Indessen werde auf die Regelungen im revidierten Datenschutzgesetz verwiesen. Die EU sei hingegen bereits in der Entwurfsphase einer Verordnung ĂŒber KI-Systeme. GemĂ€ss dieser sollen KI-Systeme sicher, transparent, ethisch, unparteiisch und unter menschlicher Kontrolle sein. Die Verordnung soll zudem eine Definition fĂŒr KI-System enthalten. Ausserdem werde ein risikobasierter Ansatz angestrebt, indem zwischen drei Arten von KI-Systemen unterschieden wird, basierend auf deren Risiko. Wie bei der DSGVO solle sich die Verordnung auf alle erstrecken, die KI in der EU oder in Bezug auf EU-BĂŒrger einsetzen. Zugleich seien Bussen bei Missachtungen vorgesehen.
Des Weiteren sprach StaehelinÂ ĂŒber das totalrevidierte DSG, welches am 1. September 2023 in Kraft treten soll. Er hielt fest, dass die im Rahmen der DSGVO bereits ergangen Entscheide in diesem Zusammenhang von Vorteil seien, da sie bei der Revision berĂŒcksichtigt werden können. Er fĂŒhrte aus, dass die DSGVO zur Abwehr der Datenverarbeitung durch US-amerikanische Technologieunternehmen erlassen wurde, was sich schliesslich vor allem durch die seit 2018 ergangene Rechtsprechung auszeichne (v.a. Schremms-Entscheide), wobei zurzeit zudem auch Google Analytics in Diskussion stehe. Entscheide aus Ăsterreich und Frankreich sowie Aussagen der niederlĂ€ndischen Datenschutzbehörde liessen darauf schliessen, dass ein rechtlich einwandfreier Gebrauch von Google Analytics nicht mehr möglich sei. Staehelin fĂŒhrte dazu aus, dass Unternehmen, die stets auf dieses Tool angewiesen sind oder es weiterhin benutzen wollen, eine andere Lösung finden oder interne regulatorische Massnahmen treffen mĂŒssen, um im Falle einer ĂberprĂŒfung beweisen zu können, dass sie sich mit der Problematik auseinandergesetzt haben.
Zuletzt sprach Staehelin vom Google v. Oracle Entscheid des US Supreme Court vom 5. April 2021. Oracle warf Google vor, unberechtigt kopierten Computer-Code von Oracles urheberrechtlich geschĂŒtzten Java-SE-Computerplattform zu verwenden. Konkret ging es um 37 Java-API-Codestellen (mehr als 11’000 Zeilen Code). Java-API von Oracle wird nicht nur von Google, sondern weltweit verbreitet von Programmierern genutzt. Der Supreme Court hatte sodann zu beurteilen, ob die Nutzung des Java-API-Codes von Oracle durch Google eine Urheberrechtsverletzung darstellt und ob allenfalls die «Fair Use» Doctrine die Nutzung rechtfertigt. Bei den kopierten Codezeilen handelt es sich um Teile von Benutzerschnittstellen, sog. API (Application Programming Interface). Durch API können Programmierer vorgefertigte Rechenaufgaben zur Verwendung in ihren eigenen Programmen aufrufen. Weil Computerprogramme primĂ€r eine Funktion erfĂŒllen, ist es gemĂ€ss Supreme Court schwierig, traditionelle Urheberrechtskonzepte fĂŒr diese Technologien anzuwenden. Sodann bietet die Fair Use Doctrine ein Korrektiv gegen die Ăbermonopolisierung von Urheberrecht fĂŒr Computerprogramme. Aus prozessökonomischen GrĂŒnden hielt der Supreme Court zunĂ€chst fest, dass der Code grundsĂ€tzlich urheberrechtsfĂ€hig ist. Im Weiteren widmete er sich dem 4-Faktoren Test der Fair Use Doctrine.
Beim ersten Faktor wird die Art des urheberrechtlich geschĂŒtzten Werks beurteilt. Als Teil einer Schnittstelle sind die kopierten Zeilen von Natur aus mit nicht urheberrechtlich geschĂŒtzten Ideen (die Gesamtorganisation der API) und der Schaffung eines neuen kreativen Ausdrucks (des von Google unabhĂ€ngig geschriebenen Codes) verbunden. GemĂ€ss dem Supreme Court ist API zwar ein Code, aber kein Computerprogramm, da API keine Aufgabe ausfĂŒhrt. Der zweite Faktor befasst sich mit dem Zweck und Charakter (Art) der Nutzung. Der Supreme Court befand, dass das Kopieren kein Selbstzweck darstellt. Die API sollten lediglich genutzt werden, um etwas Neues zu schaffen. Zum dritten Faktor, mit welchem die Menge/Umfang und Wesentlichkeit des verwendeten Teils im VerhĂ€ltnis zum urheberrechtlich geschĂŒtzten Werk beurteilt werden, wurde festgehalten, dass die 11.5 Tausend kopierten Zeilen bloss 0.4% des API ausmachen. Der letzte Faktor beurteile die Auswirkungen der Nutzung auf dem potenziellen Markt. Die neue Smartphone-Plattform von Google stelle kein Marktersatz fĂŒr Java SE dar. Oracle wĂŒrde sogar von der Neuimplementierung ihrer Schnittstelle profitieren. Schliesslich wĂŒrde die Durchsetzung des Urheberrechts auf der Grundlage dieser Tatsachen die Gefahr bergen, dass der Ăffentlichkeit «kreativitĂ€tsbezogene SchĂ€den» entstehen. Es wurde deshalb keine Urheberrechtsverletzung erkannt. In der Dissenting Opinion Ă€usserte Justice Thomas, dass drei der Faktoren eigentlich gegen Google sprechen und insbesondere sowohl qualitativ als auch quantitativ erhebliche Code-Teile kopiert wurden. GemĂ€ss Staehelin hĂ€tte aber eine Durchsetzung der Urheberrechte von Oracle zu weltweiten Konsequenzen gefĂŒhrt. Es werde vermutet, dass ca. 70% der Smartphones hiervon betroffen gewesen wĂ€ren, was zu enormen Schadenersatzklagen gefĂŒhrt hĂ€tte.
Staehelin fĂŒhrte aus, dass in der Schweiz die SchĂŒtzbarkeit von APIs (Schnittstellen) in einem Entscheid vom BVGer vom 18. Dezember 2018 diskutiert wurde. GemĂ€ss dem BVGer befinden sich Softwareschnittstellen an den ĂbergĂ€ngen der technischen Verbindungen, die benötigt werden, um die wechselseitige Interaktion zwischen den verschiedenen Komponenten eines IT-Systems zu ermöglichen. Zwecks Verbindung mĂŒssen Schnittstellen entweder besondere Computerprogramme, in Form eigenstĂ€ndiger Funktionsprogramme oder als besondere Teile von Computerprogrammen ausgestaltet sein. In den allermeisten FĂ€llen ist eine Schnittstelle kein eigenstĂ€ndiges Computerprogramm, sondern Bestandteil eines urheberrechtlich geschĂŒtzten Computerprogrammes. Die Frage, die sich stellte, war, ob eine Schnittstelle selbst urheberrechtlich geschĂŒtzt werden kann. GrundsĂ€tzlich befand das BVGer, dass Schnittstellen nur dann urheberrechtlich geschĂŒtzt sind, wenn diese selbst ĂŒber eine ausreichende schöpferische IndividualitĂ€t verfĂŒgen. GemĂ€ss BVGer ist nach ĂŒberwiegender Ansicht eine ausreichende schöpferische IndividualitĂ€t bei Schnittstellen nicht gegeben, da es sich dabei bloss um Ideen und GrundsĂ€tze der InteroperabilitĂ€t handelt, denen der Urheberrechtsschutz verwehrt ist. Staehelin erwĂ€hnte sodann, dass Schnittstellendefinitionen grundsĂ€tzlich nicht als Computerprogramme geschĂŒtzt seien, da sie nicht direkt ausfĂŒhrbar, sondern bloss eine Ansammlung von unstrukturierten Daten seien.
In der anschliessenden Diskussion hielt Ritscher fest, dass die Merger Doctrine auch in der Schweiz existiere, da diese in der WIPO Copyright Convention in Art. 2 enthalten sei, weshalb er bezweifle, dass APIs keine Programme sind, immerhin könnten sie auch eine Funktion erfĂŒllen. Darin liege eine Funktion eines aktiven Programmes und keine passive Schnittstelle. Sodann fragte Beat Weibel, Patentanwalt in MĂŒnchen, Staehelin, wie die Tatsache zu beurteilen sei, wenn Computerprogramme automatisch generiert, indem mehrheitlich bereits bestehende Codeblöcke zusammenfĂŒgt werden. Es stelle sich somit die Frage, ob das Programm dann noch urheberrechtlichen Schutz geniesse. Staehelin hielt fest, dass in den allermeisten kontinentaleuropĂ€ischen Rechtsordnungen und in den USA ein menschliches Element benötigt werde, um Urheberrechtsschutz zu bejahen, weshalb in den genannten Beispielen von Weibel, wahrscheinlich argumentiert werden mĂŒsse, ein menschlicher Input sei im Output der Maschine erkennbar.
Sylvia Anthamatten, RechtsanwĂ€ltin in ZĂŒrich, stellte zwei relevante Bundesgerichtsentscheide im Kennzeichenrecht vor.
ZunĂ€chst prĂ€sentierte Anthamatten den neusten «Nespresso-Entscheid» (BGE 147 III 517), der sich mit der Formmarke der Kaffeekapsel befasste. Nachdem bereits das Kantonsgericht Waadt zum Beschluss kam, dass kein Markenschutz besteht, da es sich um Zeichen im Gemeingut handelt (Art. 2 lit. a MSchG), kam nun auch das BGer zum selben Ergebnis, wenn auch mit einer anderen BegrĂŒndung. Das BGer stĂŒtzte sich bei seiner Argumentation auf die technische Notwendigkeit (Art. 2 lit. b MSchG) der Kapselform, welche es mittels des Alternativformtests prĂŒfte. Dabei muss eine Alternativlösung gleichwertig sein, darf keine höheren Herstellungskosten mit sich bringen und muss sich genĂŒgend vom ursprĂŒnglichen Produkt unterscheiden. Das BGer stellte sich auch der Frage der Notwendigkeit der KompatibilitĂ€t von Konkurrenzprodukten mit den Maschinen von Nespresso. Anthamatten fĂŒhrte aus, dass widersprĂŒchliche Rechtsprechung dazu existiere, ob das Interesse, kompatible Ersatzteile anzubieten, eine technische Notwendigkeit begrĂŒnden kann. Das BGer bejahte im vorgestellten Entscheid die Frage der KompatibilitĂ€t, da das Interesse der Verbraucher an einem Wettbewerb zwischen mit Nespresso-Maschinen kompatiblen Kapseln offenkundig sei, und verwies dabei auf den hohen Preis der Kapseln und den niedrigen Preis der Maschine. Das BGer kam schliesslich zum Ergebnis, dass es keine zumutbaren Alternativlösungen gibt, die fĂŒr die Konkurrenten keine Nachteile mit sich bringen und sich genĂŒgend von den Nespresso-Kapseln unterscheiden. Anthamatten fasste zusammen, dass dieser Entscheid aus wettbewerbspolitischer Sicht im Ergebnis die gewĂŒnschte Wirkung erreiche. Sie stellte jedoch in Frage, ob das Markenrecht geeignet ist, um Fragen rund um eine Systemmonopolisierung abzuhandeln.
Anschliessend prĂ€sentierte Anthamatten den Entscheid des BGer zum markenrechtlichen Streit zwischen dem internationalen Fussballverband FIFA und dem Sportartikelhersteller Puma im Zusammenhang mit der bevorstehenden WM 2022 (Fussball-Weltmeisterschaft 2022) in Qatar (BGer vom 6. April 2022, 4A_518/2021 und 4A_526/2021). FIFA klagte auf Nichtigkeit der zwei Marken von Puma mit den Inhalten «PUMA WOLRD CUP QATAR 2022» und «PUMA WORLD CUP 2022» mit der BegrĂŒndung, die Marken seien irrefĂŒhrend. Daraufhin erhob Puma Widerklage gegen die beiden von FIFA hinterlegten Marken «QATAR 2022» und «WORLD CUP 2022» wegen Gemeingutcharakters. Das HGer ZH wies beide Klagen ab, woraufhin beide Parteien Beschwerde beim BGer erhoben. Das BGer hielt fest, dass die Zeichenbestandteile «WOLRD CUP QATAR 2022» und «WORLD CUP 2022» bei den angesprochenen Verkehrskreisen die Erwartung einer besonderen Beziehung zwischen Puma und der Veranstalterin der WM weckt. Mangels tatsĂ€chlicher Beziehung zwischen der Veranstalterin der WM und Puma werden die massgeblichen Verkehrskreise in ihren geweckten Erwartungen enttĂ€uscht. Das BGer ordnete deshalb die Löschung der beiden irrefĂŒhrenden Marken von Puma an. Die Frage, ob sich PUMA durch die reine Benutzung von «PUMA WOLRD CUP QATAR 2022» und «PUMA WORLD CUP 2022» auch unlauter im Sinne des UWG verhĂ€lt, lies das BGer offen, und es wies die Sache in dieser Frage zurĂŒck an die Vorinstanz. Betreffend die beiden Marken der FIFA hielt das BGer fest, dass die Beurteilung von Eventmarken den allgemeinen Bestimmungen unterliegt und keine geringeren Anforderungen gelten. Es folgerte daraus, dass die beiden FIFA-Marken fĂŒr die Sportveranstaltung selbst als auch fĂŒr die mit ihrer DurchfĂŒhrung verbundenen Waren und Dienstleistungen unmittelbar beschreibend sind. Das Publikum verbinde die Marken mit dem Sportereignis als solchem und sehe darin keinen Hinweis auf deren Veranstalter bzw. die Herkunft der damit bezeichneten Produkte. Die beiden Marken der FIFA sind deshalb laut BGer mangels originĂ€rer Unterscheidungskraft als Marken nicht schutzfĂ€hig und aus dem Markenregister zu löschen.
Abschliessend bemerkte Anthamatten, dass ein gewisser Widerspruch zwischen den Feststellungen im Entscheid zur Hauptklage und dem zur Widerklage bestehe Die Feststellung des BGers im Rahmen der Hauptklage weisen auf die grosse Bekanntheit der WM hin, sodass eine Bezugnahme von Pumas Marken auf die Veranstaltung selbst ausser Frage stehe. Gleichzeitig gehe es davon aus, dass bei FIFA Marken kein Bezug zur Veranstalterin der WM gemacht wird.
Eric Meier, Vizedirektor und Leiter Abteilung Marken & Designs beim IGE, berichtete ĂŒber Aktuelles aus dem Markenbereich des IGE. Meier referierte zunĂ€chst ĂŒber die neue Praxis im Bereich der geografischen EinschrĂ€nkung von Waren- und Dienstleistungslisten mit Herkunftsangaben, die im MĂ€rz 2022 in Kraft trat. Zuvor galt noch, dass bei Marken mit Herkunftsangabe die Waren- und Dienstleistungsliste grundsĂ€tzlich eingeschrĂ€nkt werden musste. Der neue Ansatz stellt einen Paradigmenwechsel von der abstrakten zur offensichtlichen IrrefĂŒhrungsgefahr dar. Damit wird die deutsche bzw. die Praxis vom EUIPO ĂŒbernommen. Als GrĂŒnde fĂŒr die PraxisĂ€nderung nannte Meier insbesondere die Ănderung der internationalen Gegebenheiten, die fehlende Voraussehbarkeit der Entscheide und die KomplexitĂ€t der alten Praxis. Zu beachten bleibe, dass die PraxisĂ€nderung den Schutzausschlussgrund der Zugehörigkeit zum Gemeingut nicht tangiert. Herkunftsangaben und geografische Angaben in Alleinstellung bzw. mit weiteren nicht unterscheidungskrĂ€ftigen Elementen seien unverĂ€ndert von der Markeneintragung ausgeschlossen. Die Umsetzung der neuen Praxis verlĂ€uft gemĂ€ss Meier seitens des IGE sehr gut.
Anschliessend stellte Meier die laufenden Projekte im Bereich Richtlinien und Markenpraxis vor. GemĂ€ss Meier prĂŒft das IGE weitere Vereinfachungsmöglichkeiten bei den Herkunftsangaben, bei durch spezielle Gesetze geschĂŒtzten Zeichen (z.B. Wappenschutzgesetz) und bei der PrĂŒfung von Waren- und Dienstleistungslisten. Des Weiteren wĂŒrden die IGE-Richtlinien fĂŒr Marken, Designs und Patente harmonisiert und die materiellen Richtlinien in Markensachen aktualisiert, wobei ein Inkrafttreten bis Mitte 2023 angestrebt ist. Zudem wirke das IGE an diversen Projekten des Konvergenzprogramms EUIPO mit.
Meier berichtete weiter, dass die Genfer Akte des Lissabonner Abkommens ĂŒber Ursprungsbezeichnungen und geografische Angaben seit dem 1. Dezember 2021 in Kraft ist. Mit der Genfer Akte wurde ein System geschaffen, das die vereinfachte internationale Registrierung von Ursprungsbezeichnungen und geografischen Angaben ermöglicht. Beim IGE seien bisher drei Gesuche um internationale Registrierung eingereicht worden, wovon zwei an die WIPO weitergeleitet (AOP «TĂȘte de Moine» und AOC «Valais/Wallis») wurden. Die Mitgliedstaaten der Genfer Akte, hĂ€tten nun ein Jahr Zeit, um eine allfĂ€llige Schutzverweigerung zu erlassen. Das IGE selbst habe bereits sieben erste SchutzgewĂ€hrungen erteilt und im Bundesblatt wurden ĂŒber 454 internationale Registrierungen publiziert.
Meier berichtete, dass es trotz der Pandemie einen Rekord an Markeneintragungsgesuchen im letzten GeschĂ€ftsjahr in der Höhe von 36’168 gab. Insbesondere verzeichnet das IGE eine massive Zunahme an internationalen Markenregistrierungen. Meier geht davon aus, dass sich die Markeneintragungsgesuche in Zukunft auf einem hohen Niveau stabilisieren werden, und erwartet im GeschĂ€ftsjahr von Juli 2021 bis Juni 2022 einen erneuten Rekord mit knapp 38’000 Registrierungen. BezĂŒglich der Behandlungsfristen versuche das IGE die PrĂŒfungsfristen bei Schweizer Markenanmeldungen zu kĂŒrzen. Die ErstprĂŒfungsfrist sei bereits um zwei Wochen gesenkt worden. Zuletzt hielt Meier in Bezug auf Digitalisierungsprojekte in der Schutzrechtsverwaltung fest, dass das IGE zum Ziel habe, raschere Verfahren zu entwickeln und eine erhöhte QualitĂ€t, höhere Transparenz sowie eine Steigerung der Effizienz anzustreben Erste Schritte seien dabei mit der Datenbank, den elektronischen Eingaben, der eĂbermittlung sowie mit dem Benutzerkonto bereits unternommen worden.
Lukas Abegg-Vaterlaus, Gerichtsschreiber am Bundesverwaltungsgericht, referierte zu zwei Themenbereichen aus der Markenrechtsprechung des BVGers.
Zuerst widmete sich Abegg-Vaterlaus dem Themenbereich rund um Verfahrensfragen. Dazu berichtete er ĂŒber die BeschwerdebegrĂŒndung im Widerspruchsverfahren anhand von zwei BVGer Entscheiden. Im ersten Fall (BVGer vom 7. Juli 2021, B-4552/2020) wurde die Beschwerdeschrift rechtzeitig eingereicht, die materielle BegrĂŒndung wurde hingegen nach Ablauf der Beschwerdeschrift nachgereicht. GemĂ€ss Art. 52 VwVG muss die BegrĂŒndung in der Beschwerdeschrift enthalten sein, ansonsten kann eine Nachfrist gewĂ€hrt werden. Die bundesgerichtliche Rechtsprechung und Lehre haben diese Bestimmung weiter prĂ€zisiert, so dass eine BegrĂŒndung dann nachgereicht werden kann, wenn sie unbewusst oder unverschuldeterweise unterlassen wurde. Im vorliegenden Fall konnte die BeschwerdefĂŒhrerin das unverschuldete Nachreichen nicht darlegen, und auch die Akten gaben hierfĂŒr keinen Hinweis, weshalb auf die Beschwerde nicht eingetreten wurde. Anschliessend widmete sich Abegg-Vaterlaus der Frage, wann ein Widerspruchsverfahren aufgrund eines Parallelverfahrens sistiert werden kann. In zwei kĂŒrzlich ergangenen FĂ€llen (BVGer vom 2. MĂ€rz 2022, B-5546/2021 und B-303/2022) mit Ă€hnlichem Sachverhalt lag keine eindeutige Zustimmung der Gegenseite zu einer Sistierung vor. Die Tatsache, dass möglicherweise prĂ€judizierende Parallelverfahren laufen, stellt gemĂ€ss dem BVGer keinen hinreichenden Grund fĂŒr die BeschwerdefĂŒhrerin dar, auf eine BegrĂŒndung verzichten zu dĂŒrfen. Das BVGer befand, dass es sich dabei vielmehr um eine Verzögerungstaktik Seitens der BeschwerdefĂŒhrerin handelt, die nicht ĂŒber eine Nachfrist geschĂŒtzt werden darf, weshalb auf die Beschwerde nicht eingetreten wurde. Offen sei nach diesen Entscheiden gemĂ€ss der Ansicht von Abegg-Vaterlaus, ob im Sinne eines Umkehrschlusses davon ausgegangen werden kann, dass bei Vorliegen eines expliziten EinverstĂ€ndnisses der Gegenpartei auf eine BegrĂŒndung verzichtet werden darf.
Das zweite Thema innerhalb des Verfahrensrechts widmete sich dem Rechtsmissbrauch im Löschungsverfahren. Abegg-Vaterlaus stellte dazu als erstes den Entscheid BVGer vom 4. Januar 2022, B-65/2021, «Visartis». Die zentrale Frage war, ob es rechtsmissbrĂ€uchlich ist, wenn nach dem ein Widerspruchsverfahren eingeleitet wurde, zusĂ€tzlich auch ein Löschungsverfahren eingeleitet wird. Das BVGer hielt fest, dass es sich beim Widerspruchs- und Löschungsverfahren um zwei voneinander unabhĂ€ngige Verfahren handelt; entsprechend kann im Antrag auf eine Löschung kein Rechtsmissbrauch gesehen werden. In einem zweiten Entscheid (BVGer vom 18. Januar 2022, B-2382/2020, «Pierre de Coubertin») musste sich das BVGer mit der Frage beschĂ€ftigen, ob fĂŒr ein Löschungsantrag ein spezielles Rechtsschutzinteresse seitens der Antragstellerin bestehen muss. Das Gericht stellte fest, dass es fĂŒr den Löschungsantrag kein spezielles Rechtsschutzinteresses bedarf, da die Bereinigung des Markenregisters auf ein öffentliches Interesse abstellt.
Abegg-Vaterlaus setzte seine PrĂ€sentation um den Themenbereich der Gleichartigkeit fort. Dazu stelle er zuerst das Urteil BVGer vom 17. Februar 2022, B-361/2021 vor, worin Valser Widerspruch gegen die Marke «Valser Bier â Das Original Bernstein OberbrĂ€u» erhob, welche fĂŒr Bier beansprucht wurde. Valser selbst ist als Marke fĂŒr Mineralwasser im Verkehr durchgesetzt. Der Widerspruch wurde vom IGE abgewiesen, wogegen Beschwerde erhoben wurde. Die Vorinstanz argumentierte, Valser habe sich nur fĂŒr Mineralwasser durchgesetzt, nicht aber fĂŒr Bier, entsprechend mĂŒsse die Ware Bier fĂŒr das Zeichen Valser nach wie vor dem Gemeingut zugerechnet werden. Das BVGer hielt fest, dass durchgesetzte und nicht durchgesetzte Marken einen Anspruch auf den Schutz gegenĂŒber verwechselbar Ă€hn|lichen Marken haben, die gleichartige Waren oder Dienstleistungen beanspruchen. Schliesslich kommt das BVGer zum Schluss, dass eine Verwechslungsgefahr nicht auszuschliessen und die angefochtene Marke daher aus dem Markenregister zu löschen ist.
Weiter ging Abegg-Vaterlaus auf die Gleichartigkeit bezĂŒglich Beratungsdienstleistungen und Dienstleistungen an sich ein. Im Entscheid BVGer vom 13. Juli 2021, B-6432/2019 war die Widerspruchsmarke fĂŒr Unternehmensverwaltung und die angefochtene Marke fĂŒr Beratung in Bezug auf die Verwaltung eingetragen. Die Vorinstanz erkannte auf Gleichartigkeit, wogegen sich die BeschwerdefĂŒhrerin wehrte. Obwohl die Frage bereits in mehreren Urteilen thematisiert wurde, Ă€usserte sich das BVGer in diesem Entscheid differenziert dazu. Es hielt fest, dass die Beratung zu einer TĂ€tigkeit und die TĂ€tigkeit selbst nicht per se gleichartig sein mĂŒssen. Im vorliegenden Fall hielt das BVGer allerdings fest, dass die Verwaltung eines Unternehmens und die Beratung in Bezug auf Verwaltung, von der TĂ€tigkeit selbst und von den entsprechenden Abnehmerkreisen, sehr nahe zueinander stehen, weshalb eine Gleichartigkeit bejaht wurde.
Zuletzt prĂ€sentierte Abegg-Vaterlaus einen Entscheid (BVGer vom 6. Juli 2021, B-5422/2019), bei dem die Widerspruchsmarke «Canna», die fĂŒr «flĂŒssigen DĂŒnger auch fĂŒr die Erde» eingetragen war. Die angefochtene Marke «Cannatonic» war fĂŒr «rohe und nicht verarbeitete Samenkörner und SĂ€mereien» sowie «Samenkörner als Pflanzengut» eingetragen. Die Gleichartigkeit und die ZeichenĂ€hnlichkeit der Marken wurden im vorliegenden Entscheid bejaht. Bei der Bestimmung der Kennzeichnungskraft wurde allerdings vom Gericht festgestellt, dass «Canna» die lateinische Bezeichnung fĂŒr Blumenrohr und damit freihaltebedĂŒrftig ist. Da die Marke «Cannatonic», ihre Kennzeichnungskraft aus dem Wortelement «tonic» gewinnt und die Marke «Canna» nur fĂŒr DĂŒnger hinterlegt ist, bestand zwischen den Marken gemĂ€ss BVGer trotz entfernter Gleichartigkeit und ZeichenĂ€hnlichkeit keine Verwechslungsgefahr.
Der fachliche Teil der Tagung wurde anschliessend mit der AnkĂŒndigung der Folgeveranstaltung am 4. Juli 2023 abgeschlossen.