Bericht über die INGRES-Tagung vom 31. Januar 2022

Auch dieses Jahr konnte aufgrund der COVID-19-Pandemie die alljährliche INGRES-Tagung zur Praxis des europäischen Immaterialgüterrechts nur virtuell stattfinden. Dennoch nahmen an der durch Dr. Michael Ritscher konzipierten und geleiteten Tagung zahlreiche in- und ausländische Vertreter von Gerichten, Behörden, der Industrie sowie der Anwaltschaft teil, um sich über die aktuellsten Entwicklungen im Immaterialgüterrecht in Europa auszutauschen.

Cette année encore, la conférence annuelle de l’INGRES sur la pratique du droit européen de la propriété intellectuelle n’a pu avoir lieu que virtuellement en raison de la pandémie COVID-19. Néanmoins, de nombreux représentants nationaux et étrangers des tribunaux, des autorités, de l’industrie et de la profession juridique ont participé à ce colloque conçu et présidée par Dr. Michael Ritscher, afin d’échanger sur les développements les plus récents du droit de la propriété intellectuelle en Europe.

Adrian Eugster,
M.A. HSG in Law and Economics.

Julia Pugliese,
MLaw, Luzern.

Sebastian Suter,
MLaw, Zürich.

I. Patentrecht
1. Praxis des BGH

Dr. Klaus Grabinski, Richter am Deutschen Bundesgerichtshof, stellte vier für die weitere Rechtsentwicklung relevante Entscheidungen des Deutschen Bundesgerichtshofs (BGH) vor.

Die erste Entscheidung (BGH vom 2. Februar 2021, X ZR 170/18, «Anhängerkupplung») befasste sich mit der Auslegung eines Patentanspruchsmerkmals unter der Berücksichtigung der Ausführungsbeispiele. Konkret betrifft das Klagepatent eine Anhängerkupplung, bei der das Anhängerelement um eine schräg im Raum stehende Schwenkachse gegenüber dem Lagerelement verschwenkbar ist, wodurch diese in einfacher Weise bei unterschiedlichsten Raumverhältnissen einsetzbar ist. Dies wird mittels eines dreiachsig schwenkbaren Gelenks realisiert. Im Verletzungsstreit ging es um die Frage, ob ein Gelenk zur Begründung einer Patentverletzung zwei oder drei Freiheitsgrade aufweisen muss. Die Vorinstanzen waren unterschiedlicher Ansicht. Der BGH stellte im Rahmen seines Urteils auf die Darstellungen der Ausführungsbeispiele ab, bei denen die Ausgestaltung mit drei Freiheitsgraden lediglich als «bevorzugte» Ausführungsform beschrieben wird. Insoweit genügte eine Verschwenkbarkeit um zwei Achsen, weil sich die Ausrichtung jeder Schwenkachse bei einer Verschwenkung um eine andere Achse verändert. Ausserdem muss ein dreiachsiges Gelenk im Raum gemäss Beschreibung um drei orthogonale Achsen verschwenkbar sein, was auch bei einem Gelenk, welches lediglich zwei Freiheitsgrade aufweist, möglich ist. Auf seine bekannte Rechtsprechung abstellend, dass ein Patentanspruch im Zweifel so auszulegen ist, dass alle als erfindungsgemäss bezeichneten Ausführungsbeispiele unter diesen Patentanspruch fallen, bejahte der BGH die Patentverletzung schliesslich.

Die zweite Entscheidung (BGH vom 2. März 2021, X ZR 17/19, «Schnellwechseldorn») bezog sich auf die Auslegung des Patentanspruchs und die Abgrenzung zum Stand der Technik. Das Streitpatent betrifft dabei einen Schnellwechseldorn, der geeignet ist, einen Bohrer und koaxial dazu eine Lochsäge zu halten und eine Befestigung an einer Bohrmaschine zu ermöglichen, wodurch ein vereinfachter Dorn zur Verfügung gestellt werden kann. Entscheidend bei dem Patent ist, dass die Teile vereinfacht befestigt bzw. gelöst werden können, wodurch die Teile bei jedem Einsatz des Geräts – und nicht wie bisher nur zu Reparaturzwecken – gewechselt werden können. Der BGH trug diesem Umstand Rechnung und stellte bei seiner Entscheidung darauf ab, dass die Patentbeschreibung den aktuellen Stand der Technik nicht bloss begrüsst und lediglich verbessern will, sondern diesen als nachteilhaft bezeichnet und ein im Patentanspruch vorgesehenes Merkmal als Mittel zur Überwindung dieses Nachteils hervorhebt.

Bei der dritten Entscheidung (BGH vom 8. Juni 2021, X ZR 47/19, «Ultraschallwandler») ging es um eine Patentverletzung durch Belieferung eines im Ausland ansässigen Abnehmers. Das Klagepatent betrifft dabei Ultraschallwandler, die als Teil von Einparkhilfesystemen für Kfz eingesetzt werden. Die Beklagte stellte in Taiwan Ultraschall|wandler her und lieferte diese an den Automobilhersteller Renault/Dacia, der in Marokko (ausserhalb der EU) produzierte. In der Annahme einer Patentverletzung bat die Klägerin die Beklagte, schriftlich darzulegen, weshalb sie berechtigt sei, das Klagepatent benutzen zu dürfen. Gemäss bisheriger Rechtsprechung des BGH hat nicht nur derjenige, der sich vorsätzlich an der Benutzung eines Patents durch einen Dritten beteiligt, für eine Patentverletzung einzustehen, sondern auch derjenige, der eine Benutzung des geschützten Gegenstands durch einen Dritten durch eigenes pflichtwidriges Verhalten ermöglicht. Eine solche Zurechnung setzt aber die Verletzung einer Überprüfungs- oder Überwachungspflicht des Handelnden voraus. Von diesen Pflichten ging der BGH im Fall X ZR 120/15 «Abdichtsystem» vom 16. Mai 2017 bei Vorliegen konkreter Anhaltspunkte aus, die eine Weiterlieferung des Erzeugnisses in das patentgeschützte Inland naheliegend erscheinen lassen. Konkrete Anhaltspunkte sind dabei etwa, dass der Lieferant von der Weiterlieferung Kenntnis erlangt hat oder die abgenommene Menge so gross ist, dass sie schwerlich nur auf schutzfreien Märkten vertrieben werden kann. Vorliegend ergaben sich die Anhaltspunkte für eine Weiterlieferung aus dem Schreiben der Beklagten an den Kläger sowie aufgrund der geografischen Lage der Produktionsstätte in Marokko, bei der eine Lieferung der Fahrzeuge mit den Wandlern in die EU nahelag.

Der vierte Entscheid (BGH vom 20. April 2021, X ZR 40/19, «Zahnimplantat») betraf die bildliche Darstellung als Ausgangspunkt für technische Überlegungen. Das Streitpatent betrifft dabei ein Schraubimplantat zur Befestigung von Zahnersatz am Kiefer. Mit Blick auf die Entgegenhaltungen stellte sich insbesondere die Frage, ob es sein kann, dass im Hinblick auf den relevanten Stand der Technik technische Merkmale allein durch die in einer Patentanmeldung enthaltenen Zeichnungen offenbart sein können. Gemäss BGH kann sich ein vergleichbarer Offenbarungsgehalt auch aus Zeichnungen oder bildlichen Darstellungen in den veröffentlichten Unterlagen eines eingetragenen Designs ergeben. So kann im Einzelfall als Ausgangspunkt für technische Überlegungen Anlass bestehen, nicht nur auf am Markt erhältliche Erzeugnisse zurückzugreifen, sondern auch auf Abbildungen solcher Erzeugnisse in den Unterlagen eines eingetragenen Designs.

Konstantin Schallmoser merkte zum Fall «Ultraschallwandler» an, dass es in Frankreich Urteile gebe, die dem Fall «Abdichtsystem» des BGH widersprächen und wollte wissen, ob sich der BGH mit diesen Entscheidungen auseinandergesetzt habe. Grabinski verneinte diese Frage unter dem Hinweis, dass die Heranziehung voraussetzt, dass die Parteien diese Rechtsprechung vorlegen und entsprechende Fragen aufwerfen würden, was hier nicht erfolgt sei. Peter Thomsen stellte zum gleichen Fall die Frage, ob die Produzentin aus Taiwan die Überprüfungs- bzw. Überwachungspflicht hätte vermeiden können, wenn sie bei der Lieferung an den Autoproduzenten explizit darauf aufmerksam gemacht hätte, dass die Ultraschallwandler nicht in Fahrzeuge für einen patentgeschützten Markt eingesetzt werden dürfen. Gemäss Grabinski reicht bei Vorliegen anderer Anhaltspunkte ein blosser Hinweis nicht aus. Bei Vorliegen einer Vermutung des Exports in patentgeschützte Märkte muss man sich explizit erkundigen, ob dies tatsächlich der Fall ist, und es sind entsprechende Vorkehrungen zu treffen (z.B. durch vertragliche Abmachungen).

2. Rechtsprechung der Beschwerdekammern des EPA

Anschliessend präsentierte Dr. Fritz Blumer, Mitglied einer der Juristischen Beschwerdekammern des Europäischen Patentamts in München, ausgewählte Rechtsprechung des EPA. Blumer ging zunächst auf die rechtlichen Entwicklungen im Verfahrensrecht der Beschwerdekammer aufgrund von COVID-19 ein. In der Anfangs 2020 (vor der Corona-Krise) angepassten Verfahrensordnung wurden Verhandlungen per Videokonferenz (ViKo) explizit nicht vorgesehen. Nach dem ersten Lockdown im März 2020 war jedoch ein Verzicht auf ViKo nicht mehr möglich: Bereits am 8. Mai 2020 wurde die erste Videoverhandlung abgehalten; bis heute wurden ca. 1’500–2’000 solcher Verhandlungen durchgeführt, wobei der Anteil dieser Durchführungsart momentan 70–80% aller mündlichen Verhandlungen in Prüfungs- und Einspruchsverfahren beträgt, obwohl Anfangs die Durchführung einer ViKo nur mit Zustimmung der Parteien möglich war. Mit Ergänzung der Verfahrensordnung der Beschwerdekammern per 1. April 2021 wurde eine rechtliche Grundlage für die virtuelle Durchführung von Verhandlungen geschaffen, insbesondere auch für den Fall, dass eine der Parteien nicht zustimmen will. Vor Inkrafttreten der neuen Bestimmung wurde diese zur Prüfung ihrer Vereinbarkeit mit Art. 116 EPÜ (Recht auf mündliche Verhandlung) der grossen Beschwerdekammer im Sinne einer Rechtsfrage grundsätzlicher Bedeutung vorgelegt (Verfahren G 1/21). Im Entscheidungstenor wurde klargestellt, dass ViKo mündliche Verhandlungen seien, die Wahrnehmung des rechtlichen Gehörs ermöglichten und die einzige Möglichkeit darstellten, um die Funktion der Beschwerdekammer aufrechtzuerhalten, solange klassische Verhandlungen nicht möglich seien. Da diese aber dennoch nicht gleichwertig mit Verhandlungen mit persönlicher Anwesenheit seien, wurden für die Anordnung einer ViKo gegen den Willen einer Partei drei Voraussetzungen aufgestellt: (1) Die ViKo muss eine geeignete, wenn auch nicht gleichwertige Alternative zur mündlichen Verhandlung darstellen; (2) es müssen spezifische Umstände vorliegen, die die Anordnung einer ViKo rechtfertigen (z.B. allgemeine Reisebeschränkungen; nicht verwaltungstechnische Überlegungen); (3) die Entscheidung über die Anordnung einer ViKo ist eine Ermessensentscheidung der ladenden Kammer im Einzelfall nach Anhörung der Parteien. Ziel sollte aber sein, dass es sich dabei lediglich um eine Übergangslösung handelt.

Darauffolgend erläuterte Blumer das Thema künstliche Intelligenz als Erfinder. Konkret ging es in dem vorgestellten Fall um Lebensmittelbehälter mit einem fraktalen Grundriss, der eine einfachere Verpackung mehrerer Behälter und das Einsparen von Verpackungsmaterial ermöglicht. Die |Neuigkeit der Idee soll von einer Software erkannt worden sein. Gemäss EPÜ ist in der Anmeldung eines Patents, unter Einhaltung gewisser auf natürliche Personen zugeschnittenen Formvorschriften (Vorname, Name, Adresse), der Erfinder zu nennen. Da diese Formvorschriften von der Software als Erfinder nicht eingehalten werden konnten, wurde die Anmeldung von der Eingangsstelle zurückgewiesen. Auch in der mündlichen Verhandlung vor der juristischen Beschwerdekammer wurde die Anmeldung zurückgewiesen und man wollte die Sache auch nicht der grossen Beschwerdekammer vorlegen. Dies wurde damit begründet, dass der Rechtserwerb Art. 60 EPÜ zu genügen habe, wonach der benannte Erfinder eine rechtsfähige Person sein müsse. Die schriftliche Begründung ist noch ausstehend.

Zuletzt thematisierte Blumer die Rechtsprechung über die Patentierbarkeit computerimplementierter Erfindungen (CII). Im konkreten Fall geht es um die Simulation der Bewegung einer autonomen Einheit durch eine Umgebung. Eine Vielzahl von Fussgängern soll von einem Start- zu einem Zielort gehen, wobei Wände und andere Fussgänger im Weg stehen. Solche Simulationen werden etwa zur Berechnung einer optimalen Evakuierung eines Flughafen-Terminals oder Bahnhofs verwendet. Die Rechtslage für CII beinhaltet zwei Hürden unter dem EPÜ: 1) Die Qualifikation als patentierbare Erfindung gemäss Art. 52 EPÜ und 2) dass bei der erfinderischen Tätigkeit nach Art. 56 EPÜ nur diejenigen Merkmale zu berücksichtigen sind, die zum technischen Charakter der beanspruchten Erfindung beitragen, wobei die Zielsetzung der Erfindung auch in einem nichttechnischen Gebiet liegen kann (COMVIK-Rechtsprechung, T 641/00). Die beantworteten Vorlagefragen waren nur vor dem Hintergrund dieser COMVIK-Rechtsprechung zu verstehen und ergaben Folgendes: 1) Nummerische Simulationen sind wie jede andere computerimplementierte Erfindung zu behandeln und können zu einem technischen Charakter beitragen, 2) es ist irrelevant, ob ein technisches oder ein nicht-technisches System oder Verfahren simuliert wird und 3) die Vorlagefragen sind nach den gleichen Kriterien zu beantworten, wenn die Simulation Teil eines Entwurfsverfahrens ist.

Betreffend das Verfahren über die Durchführung von Verhandlungen via ViKo erkundigte sich Beat Weibel, ob die Entscheidung auch die mündlichen Verhandlungen vor der Einspruchs- und Prüfungsabteilung betraf. Blumer wies darauf hin, dass die grosse Beschwerdekammer die Frage auf die Beschwerdeverhandlung begrenzte, auch deshalb, weil der zeitliche Druck sehr gross war.

3. Entwicklungen aus der Sicht des EPA; das EPG

Auch Dr. Stefan Luginbühl (Direktion Internationale Rechtsangelegenheiten des Europäischen Patentamts) berichtete zunächst über die Auswirkungen der Pandemie auf seine Tätigkeit. Seit Januar bzw. Juli 2021 und vorerst bis Ende Mai 2022 werden alle mündlichen Verhandlungen vor den Einspruchsabteilungen bzw. vor der Eingangsstelle und der Rechtsabteilung als Videokonferenz durchgeführt. Weiter wurden digitale Einrichtungen etabliert, etwa ein digitales Einreichungs-Tool. Entsprechend musste der Rechtsrahmen, insbesondere mit Blick auf Formerfordernisse, angepasst werden.

Anschliessend machte Luginbühl Ausführungen zum Konvergenzprogramm des EPA. Dabei geht es darum, Unterschiede bei den administrativen Praktiken der Patentämter Europas zum Vorteil der Nutzer zu verringern bzw. gänzlich abzubauen. Am 19. Januar 2022 startete die Periode der vorläufigen Anwendbarkeit des EPGÜ (Übereinkommen über ein einheitliches Patentgericht). Nach heutigem Stand sollte das neue Patensystem Ende dieses oder spätestens anfangs nächsten Jahres in Kraft treten können. Luginbühl erläuterte kurz das Konzept des Einheitspatents, einem europäischen Patent, dem auf Antrag des Patentinhabers nach dessen Erteilung einheitliche Wirkung zuerkannt wird, was einen vereinfachteren und breiteren Patentschutz zu niedrigeren Kosten ermöglicht. Um die Aufnahme des Einheitspatents zu erleichtern, wird es einerseits möglich sein, die Entscheidung über die Erteilung des europäischen Patents auf Antrag aufzuschieben, bis das neue System in Kraft ist, und andererseits können Anträge auf einheitliche Wirkung bereits jetzt gestellt werden, auch wenn das System noch nicht in Kraft ist. Das Amt wird dann die Eintragung erst vornehmen, wenn das EPGÜ-System in Kraft getreten ist. Die Eintragung der einheitlichen Wirkung ist an materielle und formelle Voraussetzungen geknüpft. Materiell muss das europäische Patent für alle 25 teilnehmenden Mitgliedstaaten mit demselben Anspruchssatz erteilt worden sein und formell muss der Antrag in der Verfahrenssprache innerhalb eines Monats eingereicht werden. Die Kosteneffizienz des Einheitspatent resultiert daraus, dass das Amt für die Prüfung des Antrags auf einheitliche Wirkung und die Eintragung im Register keinerlei Gebühren erhebt, dass keine Übersetzungen mehr eingereicht werden müssen (nach der Übergangszeit) und dass es nur noch ein Verfahren mit einer Frist, einer Jahresgebühr und einer Währung gibt. In der Folge gab Luginbühl einen Überblick über das EPG, ein neu geschaffenes, internationales Gericht für die Durchsetzung und Nichtigerklärung sowohl von Einheitspatenten als auch von klassischen europäischen Patenten. Dabei gibt es zwei europäische Instanzen: Die erste Instanz besteht aus Lokal- und Regionalkammern sowie einer Zentralkammer. Demgegenüber ist die Berufungsinstanz in Luxemburg zentralisiert.

Zur Frage der Vertretung der Schweiz in der europäischen Patentorganisation führte Luginbühl aus, dass auch in diesem Jahr der Bestand der Schweizer im EPA – trotz zahlreicher Bewerbungen – weiter abnahm und per Ende 2020 nur noch 57 betrug. Im Vergleich dazu stellt Deutschland 1’766 und Frankreich 1’186 Personen in Amt (zusammen rund 50%). Aber auch kleinere Staaten stellen wesentlich mehr Vertreter, so etwa die Niederlande deren 420, Belgien deren 306, Österreich deren 191, Griechenland deren 186 und Portugal deren 107. Noch bemerkenswerter sind diese Zahlen, wenn man sie ins Verhältnis der Patentanmeldungen setzt: So kamen 2020 aus den 38 Vertragsstaaten |5% oder 8’112 Anmeldungen aus der Schweiz. Damit kommt die Schweiz nach Deutschland und Frankreich mit 14% bzw. 6% aller Anmeldungen an dritter Stelle der EPÜ-Vertragsstaaten. Diese Personalentwicklungen seien aus Sicht der Schweiz dramatisch, insbesondere da statutarisch eine gehörige Vertretung aller Vertragsstaaten sichergestellt werden müsste und es durchaus auch im Interesse von Frankreich und Deutschland sein sollte, dass die Schweiz als einer der wichtigsten Kunden des EPA, in einer wohlbemerkt europäischen (und nicht EU-) Institution, gehörig vertreten ist.

4. Praxis der nationalen Gerichte zum EPÜ

Wolrad Prinz zu Waldeck und Pyrmont, Rechtsanwalt in Düsseldorf, stellte vier wichtige Entscheide nationaler Patentgerichte vor.

Zunächst präsentierte Prinz zu Waldeck und Pyrmont den Entscheid Nokia v. Oppo ([2021] EWHC 2952 (Pat) vom 4. November 2021) des englischen High Court, bei dem sich das Gericht mit der Frage der Zuständigkeit für die Festsetzung globaler FRAND-Rates beschäftigte. Nach dem Scheitern der Verhandlungen über die Verlängerung einer Lizenz erhob Nokia Klage wegen Patentverletzung gegen mehrere in- und ausserhalb Englands ansässige Gesellschaften des Oppo-Konzerns. Das Gericht bestätigte, dass eine internationale Zuständigkeit für die Festlegung einer FRAND-Rate besteht, wenn in- und ausländische Patente mitbetroffen sind und die Bedingungen für die Zustellung der Klage an eine Gesellschaft mit Sitz ausserhalb des UK gemäss CPR 6.36 und 6.37 gegeben sind. Weiter war strittig, ob das Verfahren auszusetzen sei, da gleichzeitig ein Verfahren in Chongqing (VRC) anhängig war, welches sich ebenfalls mit globalen FRAND-Rates beschäftigte. Das Gericht erkannte die suboptimale Situation, in der parallel zwei Verfahren geführt werden müssen, hielt jedoch fest, dass das Verfahren nicht ausgesetzt werden könne, solange es keinen internationalen Mechanismus zur Koordination gebe.

Im Anschluss befasste sich Prinz zu Waldeck und Pyrmont mit der Entscheidung Vestel v. Philips (NL), (Rechtbank Den Haag vom 15. Dezember 2021, C/09/604737/HA ZA 20–1236), in welcher das Gericht zu entscheiden hatte, ob zusammen mit der niederländischen Phillips auch drei ausländische Gesellschaften eines Patentpools verklagt werden können. Das Gericht stellte fest, dass die ZPO (NL) im Unterschied zur EuGVVO vorsehe, dass mehrere Personen an einem für einen Beklagten örtlich zuständigen Gericht verklagt werden können, wenn die Forderungen gegen die Beklagten in einem solchen Zusammenhang stehen, dass es zweckmässig erscheint, sie gemeinsam zu verhandeln und zu entscheiden. Das niederländische Recht gehe somit weiter als die EuGVVO, in der eine gemeinsame Verhandlung angezeigt ist, sofern eine gemeinsame Verhandlung geboten erscheint, um widersprechende Entscheidungen zu vermeiden. Das Gericht bejahte vorliegend eine ausreichend enge Verknüpfung, da die Beklagten ein abgestimmtes Klageverhalten an den Tag legten.

Im dritten Entscheid, High Point v. KPN (Rechtbank Den Haag vom 15. Mai 2021, C/09/598504/HA ZA 20-843), war das Zusammenspiel von EPA und nationalem Verfahren zu klären. Das Distriktgericht Den Haag hatte im Jahr 2010 ein europäisches Patent von High Point für nichtig erklärt und seine Verletzungsklage zurückgewiesen. Im anschliessenden Berufungsverfahren verteidigte High Point das Patent mit neuen Ansprüchen, welche vom Gericht als prozessual verspätet zurückgewiesen wurden. Daraufhin beantragte High Point beim EPA eine Beschränkung des strittigen Patents, welche das EPA im Jahr 2017 gewährte. Im Anschluss verlangte High Point beim Berufungsgericht die Weiterverhandlung basierend auf den zentral beschränkten Ansprüchen. Das Berufungsgericht lehnte dies jedoch ab. Daraufhin gelangte die Frage an den Hoge Raad. Dieser stellte im Februar 2020 fest, dass die Zurückweisung der Berufung zulässig war, jedoch keine sachliche Entscheidung über den Rechtsbestand der zentral eingeschränkten Ansprüche beinhalte, weshalb es High Point unbenommen bleibe, den Rechtsbestand der eingeschränkten Ansprüche in einem neuen Verfahren zur Überprüfung zu stellen. High Point leitete daraufhin das hier vorgestellte neue Verfahren ein und beantragte bei der Rechtsbank Den Haag die Überprüfung des Rechtsbestands der eingeschränkten Ansprüche. Die Rechtsbank Den Haag liess das Verfahren zu mit der Begründung, dass die Nichtigerklärung des ursprünglichen Patents erst 2020 – somit nach Abschluss des Beschränkungsverfahrens im Jahr 2017 – rechtskräftig geworden sei und die rechtskräftige Nichtigerklärung des erteilten Patents keine Aussage zum Rechtsbestand des zentral beschränkten Patents beinhalte.

Zuletzt stellte Prinz zu Waldeck und Pyrmont noch den Entscheid Menzis v. AstraZeneca (Gerechtshof Den Haag vom 14. Oktober 2020, C/09/541261/HA ZA 17-1084) des Gerechtshof Den Haag vor. Nach der Aufrechterhaltung des Patents in erster Instanz wurde das streitauslösende Patent von AstraZeneca im Berufungsverfahren für nichtig erklärt. Im Anschluss an das erstinstanzliche Urteil hielt der Patentinhaber andere Wettbewerber mit einstweiligen Verfügungen vom Eintritt in den Markt ab. Die Klägerin Menzis, eine Krankenversichererin, war der Ansicht, dass sich AstraZeneca so zu ihrem Nachteil ungerechtfertigt bereichert habe, da sie ihren Kunden anstelle der günstigeren Generika die teureren AstraZeneca-Produkte zu erstattet hatte. Nachdem das Bezirksgericht ab dem Zeitpunkt der Zustellung der einstweiligen Verfügung eine ungerechtfertigte Bereicherung bejahte, gelangte die Beklagte an den Gerechtshof Den Haag, welcher der Berufung stattgab. Dieser verneinte eine Haftung für Schäden bei der Durchsetzung von Patenten, welche später für ungültig erklärt werden. Daran ändert auch nichts, dass Menzis als Krankenversicherer sich nicht selbst über das Patent hinwegsetzen konnte. Eine ungerechtfertigte Bereicherung lehnte das Gericht ebenfalls ab, da das Patent während der Durchsetzung in Kraft war.

5. Diskussion

In der Folge leiteten Mark Schweizer und Dr. Tobias Bremi, beide Richter am Bundespatentgericht, eine Diskussion zu aktuellen Themen im Patentrecht.

Zu Beginn wies Bremi auf eine Entscheidung hin, in der festgestellt wurde, dass keine Rechtsgrundlage für die Anpassung der Patentbeschreibung durch die Beschwerdekammer bestehe. Bremi wollte von Blumer wissen, ob ein Patentinhaber von der Beschwerdekammer verlangen könne, dass diese die Sache direkt an die Einspruchsabteilung zurückschicke, ohne die Beschreibung anzupassen. Blumer stellte fest, dass die Kammer die Beschreibung nicht selbst anpasse, sondern diese an die Einspruchsabteilung mit der Massgabe zurückschicke, die Beschreibung sei «falls nötig» anzupassen. Zurzeit sei jedoch noch nicht klar, wohin sich diese Rechtsprechung entwickle.

Die Diskussion ging anschliessend über zu Fragen der Einschränkung des Patentes während des Prozesses. Schweizer führte aus, das Bundesgericht habe entschieden, dass eine zentrale Einschränkung nach Aktenschluss nicht mehr berücksichtigt werde, da es sich in der Regel um ein unechtes Novum handle. Bremi führte aus, dass nach schweizerischer Rechtsprechung nicht klar sei, ob nach Erledigung des Verfahrens ein Patentinhaber erneut mit einer eingeschränkten Fassung ans Gericht gelangen könne. Er wies auf Rechtsprechung hin, welche besagt, dass alle Ansprüche gegen einen Verletzer in einem Verfahren geltend gemacht werden müssen. Bremi fragte die deutschen Diskussionsteilnehmer, wie dies in Deutschland gehandhabt werde, wenn parallel ein Nichtigkeitsverfahren beim Bundespatentgericht und ein Verletzungsverfahren vor den Zivilgerichten stattfindet. Prinz zu Waldeck und Pyrmont führte aus, dass ein Urteil im Verletzungsverfahren die Parteien meist dazu bewege, einen Vergleich abzuschliessen und es deshalb keine Entscheidung im Nichtigkeitsverfahren gebe. Wenn sich am Ende des Nichtigkeitsverfahrens herausstellte, dass das Patent nicht aufrechterhalten werden könne, gebe es die Möglichkeit, ein Wiederaufnahmeverfahren zu starten, sofern klar sei, dass die Verletzungsform nicht mehr vom Patent erfasst ist. Grabinski wies auf die Möglichkeit hin, in solchen Fällen eine Nichtzulassungsbeschwerde beim BGH zu erheben, mit dem Antrag, die Beschwerde sei auszusetzen.

Bremi schilderte das Unbehagen des Schweizer Bundespatentgerichts im Umgang mit Patentinhabern, welche nach Aktenschluss ein zentrales Beschränkungsverfahren anstreben. Bremi fragte, wie die Erkenntnisse eines Beschränkungsverfahrens in Deutschland berücksichtigt würden. Grabinski erklärte, dass in Deutschland der Hinweis nach § 83 Patentgesetz eine wichtige Rolle spiele. Falle der Hinweis zu Ungunsten des Patentinhabers aus, so müsse dieser alle Hilfsanträge stellen. Nur wenn der Hinweis dem Patentinhaber einen Verfahrensausgang zu seinen Gunsten prognostiziere, brauche der Pateninhaber keine Hilfsanträge zu stellen und könne seine Hilfsanträge im späteren Berufungsverfahren bringen. Schweizer warf ein, dass das Gericht mit dem Fachrichtervotum streng genommen ein zweites Mal die Streitsache kommentiere. In der Instruktionsverhandlung erörtere der Fachrichter in der Regel seine Position ein erstes Mal. Dies diene einem ähnlichen Zweck wie der Hinweis, dass die Möglichkeit bestehe, nach dem Fachrichtervotum Hilfsanträge einzureichen.

II. Marken- und Designrecht
1. Praxis der Beschwerdekammer des EUIPO und des EuGH

Elisabeth Fink, Mitglied der Beschwerdekammern des EUIPO, stellte vier Entscheide im Marken- und zwei weitere Entscheide im Designrecht vor.

Thema der ersten Entscheidung (GBK vom 10. Juni 2021, R 368/2016, «Inmobiliaria Portixol») war die Schutzfähigkeit von geografischen Herkunftsangaben in Fällen, in denen es sich um ein sehr kleines geografisches Gebiet handelt. Die zentrale Frage war, welche Voraussetzungen gegeben sein müssen, um davon ausgehen zu dürfen, dass eine Ortsbezeichnung einem erheblichen Teil der relevanten Verkehrskreise bekannt ist. «Portixol» sei ein Stadtteil von Palma de Mallorca, der touristisch sehr begehrt und deshalb sehr bekannt sei, weshalb die Ortsangabe den relevanten Verkehrskreisen in der EU bekannt sei. Da der Nachweis weder für Spanien noch für die EU erbracht werden konnte, wurde der negative Entscheid der Vorinstanz gestützt.

Die nächste Entscheidung der Beschwerdekammer (GBK vom 26. März 2021, R 551/2018, «Device») thematisierte die Verwechslungsgefahr bei Einzelbuchstaben. Die erste Instanz hat einem Widerspruch stattgegeben, mit der Begründung, beide Bildelemente zeigten ein A, wodurch sich bildlich, klanglich und begrifflich eine Verwechslungsgefahr ergebe. Die grosse Beschwerdekammer erkannte keine Verwechslungsgefahr und hob die Entscheidung auf. Sie begründete dies damit, dass keine Zeichenähnlichkeit bestehe, da der Querbalken eines A fehle. Der visuelle Gesamteindruck sei zudem grafisch unterschiedlich. Das Gericht folgerte daraus, dass, wenn man den Grossbuchstaben A nicht erkenne, auch der Klang nicht ähnlich sei.

In der dritten Entscheidung (EuGH vom 16. Juli 2020, C-714/18, «tigha/TAIGA»), welche Fink vorstellte, hatte das Gericht die Möglichkeit, seine Rechtsprechung zur Frage der teilweisen Benutzung nochmals zu erläutern. Eine bereits ältere Marke war für die Kategorien «Bekleidung» und «Oberbekleidung» eingetragen. Die Widerspruchsgegnerin strebte eine Neueintragung ihres Zeichens für die Waren der Unterkategorie «Wetterschutzoberbekleidung nur zum Schutz gegen Kälte, Wind und/oder Regen» an. Zumal in Bezug auf die relevanten Kriterien zur Bestimmung einer als selbständig qualifizierenden Untergruppe der Zweck und die Bestimmung der fraglichen Waren oder Dienstleistungen wesentliche Kriterien darstellen, ist das Gericht in diesem Fall von einem einheitlichen Zweck der Waren der Kategorie «Bekleidung» und «Oberbekleidung» ausgegangen, da alle Kleider/Oberbekleidung zur Bedeckung resp. zum Schutz des Körpers dienen. Die Kategorie «Wetterschutzbekleidung» |sah das Gericht deshalb nicht als selbstständige Untergruppe an und bejahte eine Verwechslungsgefahr.

Im letzten Urteil zum Markenrecht (EuGH vom 11. November 2020, C-809/18, «MAGIC MINERALS BY JEROME ALEXANDER/MINERAL MAGIC») hatte das Gericht eine Streitigkeit im Zusammenhang mit einer sog. Agentenmarke zu beurteilen. Die Inhaberin der Widerspruchsmarke hatte gestützt auf Art. 8 UMV Widerspruch gegen die neu angemeldete Marke «MINERAL MAGIC» eingelegt. Die Beschwerdekammer vertrat die Auffassung, dass gestützt auf Art. 8 die Eintragung untersagt werden könne, wenn die Zeichen ähnlich sind. Das erstinstanzliche Gericht war hingegen der Auffassung, dass nur bei Identität der Zeichen die Eintragung gestützt auf Art. 8 UMV verwehrt werden könne. Auf Klage des EUIPO hin hob der EuGH das Urteil auf. Der Wortlaut des Art. 8 UMV sei nicht klar, weshalb aus der fehlenden Bezugnahme zum Begriff der Ähnlichkeit nicht geschlossen werden könne, dass nur identische Marken gemeint sind.

Im ersten Urteil zum Designrecht (GBK vom 24. März 2021, T-515/19) war das Design eines Lego-Steins umstritten. Die Beschwerdekammer hatte dem Löschungsantrag gestützt auf die Technizität stattgegeben. Der Gerichtshof hob die Anordnung mit der Begründung auf, die Nichtigkeitserklärung setze voraus, dass alle Erscheinungsmerkmale technisch bedingt sind. Die Beschwerdeführerin habe die glatte Oberseite des Bausteins nicht als Erscheinungsmerkmal berücksichtigt und damit nicht alle Merkmale geprüft.

Im zweiten und letzten Urteil (GBK vom 14. April 2021, T-579/19) zum Designrecht wurde thematisiert, inwiefern eine Sammelanmeldung mit einer Priorität einer PCT-Anmeldung in Anspruch genommen werden kann. Der Prüfer hatte die Anmeldung gestützt auf Art. 41(1) GGV zurückgewiesen, da diese länger als sechs Monate zurückliege. Die Entscheidung wurde vom Gerichtshof mit der Begründung aufgehoben, das Gesetz sehe keine Regelung zur Inanspruchnahme einer Patentanmeldung vor, weshalb es sich um eine Regelungslücke handle, welche zu ergänzen sei. Das Gericht kam letztendlich zum Schluss, dass das Prioritätsrecht nach dem älteren Recht zu bestimmen sei. Die Zurückweisung des Prioritätsanspruchs sei deshalb fehlerhaft.

2. Praxis der Unionsmarkengerichte

Im Anschluss referierte Prof. Dr. Ulrich Hildebrandt, Rechtsanwalt in Berlin, über die Praxis der Unionsmarkengerichte.

Vor dem Hintergrund des nach wie vor bestehenden Bedarfs nach Harmonisierung ging er in der Folge zunächst auf Art. 123 UMV (Unionsmarkengerichte) und Art. 124 UMV (Zuständigkeit für Klagen betreffend Verletzung und Rechtsgültigkeit) ein und skizzierte insbesondere redaktionelle Fehler im Gesetzestext.

Dazu veranschaulichte Hildebrandt anhand eines kurzen Falles (Rechtbank Rotterdam vom 20. Februar 2020, C/10/590180/KG ZA 20-65), dass die ausschliessliche Gerichtsbarkeit der Unionsmarkengerichte bereits aufgrund von Art. 131 UMV nicht absolut sei, weshalb es durchaus rechtmässig sein könne, auch in Unionsmarkenstreitigkeiten das nationale Gericht anstelle des Unionmarkengerichtes anzurufen.

In seinen weiteren Ausführungen machte Hildebrandt auf die seit langem umstrittene Frage aufmerksam, ob aus eingetragenen, schutzunfähigen Zeichen Ansprüche abgeleitet werden können. Trotz gegenteiligem Ergebnis einer von der EU in Auftrag gegebenen Abklärung und entsprechender Amtspraxis haben weder der EuG noch der EuGH bislang bestätigt, dass aus schutzunfähigen Zeichen keine Ansprüche abgeleitet werden können. Vielmehr halten die beiden Gerichte an ihrer uneinheitlichen Entscheidungspraxis fest, was nunmehr auch den deutschen Bundesgerichtshof in Abweichung zu seiner bisherigen Praxis dazu veranlasst hat, grundsätzlich schutzunfähigen Zeichen Schutz zuzusprechen (BGH vom 14. Februar 2019, I ZB 34/17, «KNEIPP»).

In den beiden darauffolgenden, von Hildebrandt vorgetragenen Fällen ging es insbesondere um Fragen des harmonisierten Rechts und den in diesem Zusammenhang fehlenden Austausch in der EU. So entschied zum Beispiel ein rumänisches Gericht, dass eine Gesellschafterhaftung in jenen Fällen denkbar ist, in denen die Gesellschafter einen aktiven Beitrag zur Markenrechtsverletzung leisten (Tribunal Bucharest vom 6. Oktober 2020, 26303/3/2019), oder dass gegen einen Markenrechtsverletzer in jedem Fall ein Unterlassungsanspruch besteht, selbst wenn die Verletzung beendet ist (Tribunal Bucharest vom 22. Juli 2020, 3663/3/2019). Angewendet wurde in diesen Fällen nationales Recht, obwohl der Begriff der «Verletzung» bzw. der «drohenden Verletzung» harmonisiertes Recht darstellt.

Hildebrandt setzte seinen Vortrag fort mit zwei Fällen, mittels welchen er die grossen Hürden für Ansprüche aus Unionsmarken erläuterte. So zeigte er zunächst anhand des Falls «conectabalear» (Alicante Provincial Court vom 25. April 2019, 538/2019) auf, wie Art. 16 UMV beinahe zur Vernichtung des Unterlassungsanspruchs der Unionsmarke führt, da ein Unionsmarkenrechtsinhaber aufgrund der Zuständigkeitsregelung nur dann auf Unterlassung der Benutzung einer in einem anderen Land eingetragenen Marke klagen kann, wenn er in dem jeweiligen Land vorab erfolgreich die Feststellung der Nichtigkeit der Marke erwirkt hat. Anhand des Falles «LEDARE» (Gerechtshof Den Haag vom 28. September 2021, 200.289.220/01) erläuterte Hildebrandt im Anschluss die Problematik, dass Art. 132 und 128 UMV einem Unionsmarkenrechtsverletzer die Möglichkeit eröffnen, jedes Verfahren stoppen und aussetzen zu lassen.

Ritscher und Hildebrandt kamen anschliessend zum gemeinsamen Schluss, dass einerseits die Durchsetzung einer Unionsmarke ausgesprochen schwierig ist. Es bestünden dabei insbesondere in prozessualer Hinsicht nach wie vor derart viele systemimmanente «Bremsklötze», dass ein Obsiegen im Unionsmarkenrechtsverfahren beinahe unmöglich geworden sei, weshalb auch die Empfehlung klar dahin gehen müsse, Marken immer auch auf nationaler |Ebene anzumelden. Andererseits sollten sich nationale Gerichte und Anwälte dringend mit dem Unionsmarkenrecht vertraut machen, da es durchaus vorkommen könne, dass ausländisches Recht und damit auch Unionsmarkenrecht angewendet werden müsse.

III. Urheberrecht: Praxis des EuGH und der nationalen Gerichte

Prof. Dr. Thomas Dreier, Professor und Institutsleiter am Karlsruher Institut für Technologie (KIT), referierte zur urheberrechtlichen Praxis des EuGH und der nationalen Gerichte.

Zunächst wies Dreier darauf hin, dass das Urheberrecht zwar wie alle anderen IP-Rechte auch im europäischen Mehrebenensystem verankert ist, es im Gegensatz zum Gemeinschaftsmarken- oder Designrecht jedoch kein Gemeinschaftsurheberrecht gibt. Unterschiede, die sich aus der nationalen Gesetzgebung ergeben, seien deshalb grundsätzlich hinzunehmen. Zwar wurde seit 1991 eine ganze Reihe sog. Harmonisierungs-Richtlinien auf dem Gebiet des Urheberrechts und der verwandten Schutzrechte verabschiedet, welche dazu dienen sollten, das Urheberrecht anzugleichen und Unterschiede in den Rechtsordnungen der einzelnen Mitgliedsstaaten zu verringern oder aufzuheben. Dass daraus in absehbarer Zeit ein Gemeinschaftsurheberrecht entstehen wird, sei jedoch nahezu ausgeschlossen. Dreier erklärte weiter, dass in der Praxis deshalb insbesondere dem EuGH eine entscheidende Rolle zukomme, wenn es darum geht, das Urheberrecht der EU-Länder einander anzugleichen. Der EuGH werde aufgrund des strikten Anwendungsvorrangs des EuGH-Rechts immer dann von den nationalen Gerichten angerufen, wenn es um die Auslegung der europäischen Vorgaben geht. Es sei dabei jedoch zwischen dem nicht (vollständig) harmonisierten und dem (voll- und teil-)harmonisierten Bereich zu unterscheiden. Dabei nehme der EuGH im Bereich der Vollharmonisierung die volle Auslegungskompetenz für sich in Anspruch, einschliesslich der Anwendung der europäischen Grundrechte. Zur methodischen Vorgehensweise des EuGH führte Dreier weiter aus, dass sich der Gerichtshof bei der Auslegung europäischer Rechtsbegriffe stark an den korrespondierenden Rechtsbegriffen internationaler Konventionen orientiere, seiner Auslegung Wortlaut, Ziel und Verhältnismässigkeit zugrunde lege sowie die Erwägungsgründe zu den verschiedenen Richtlinien heranziehe und damit, trotz fehlendem Gemeinschaftsurheberrecht, eine mit dem Markenrecht vergleichbare Lage schaffe. Im Anschluss erläuterte Dreier im Detail vier Trends im Sinne gemeinsamer Grundkriterien, welche sich aus den mittlerweile doch zahlreichen urheberrechtlichen Entscheidungen des EuGH herausbilden lassen: (1) Vereinheitlichung statt (nur) Harmonisierung, (2) inhaltliche Konsolidierung, (3) Heranziehung der Grundrechte und (4) Berücksichtigung der Verhältnismässigkeit. Damit schaffe man die Möglichkeit, schon vorgängig besser abschätzen zu können, wie der EuGH aller Vermutung nach entscheiden würde.

IV. IP in Osteuropa

Zum Abschluss der Tagung ging Michael Woller, Rechtsanwalt in Wien, auf das Thema IP in Osteuropa ein.

Woller begann sein Referat mit Ausführungen zu den teils verkürzten Verjährungsfristen bei Dauerdelikten in osteuropäischen Ländern und dem damit einhergehenden Erfordernis erhöhter Aufmerksamkeit. Er verwendete dazu einen Beispielfall aus Ungarn, welcher von einer aus Abwandlung eines Musikstücks resultierenden Urheberrechtsverletzung handelte, und zeigte auf, dass Zahlungsansprüche aufgrund der in Ungarn geltenden Vorschriften zur allgemeinen Verjährungsfrist – mit Ausnahme der Klage innert eines Jahres ab erstmaliger Kenntnisnahme – nur für Eingriffshandlungen der letzten fünf Jahre bestehen. Deshalb sollten sich Urheberrechtsinhaber schon frühzeitig mit der Abwendung allfälliger Verletzungen befassen.

Als nächstes griff Woller das Thema fremdsprachige Begriffe in der Werbung (inkl. Werbeslogans) auf. Er ging in diesem Zusammenhang auf die in den meisten osteuropäischen Ländern vorhandene Einschränkung ein und erläuterte, dass die Verwendung fremdsprachiger Begriffe – da gesetzlich nicht bzw. nur beschränkt erlaubt – allenfalls zur Verhängung von Verwaltungsstrafen führen kann. Erlaubt ist die Verwendung fremdsprachiger Begriffe meist nur dann, wenn die Begriffe für den Verbraucher leicht verständlich (z.B. «pizzeria» oder «pub») oder zusätzlich in die jeweilige Landessprache übersetzt sind, wobei dann keine Übersetzung notwendig ist, wenn der Werbeslogan bereits als Marke registriert ist.

Woller setzte seine Präsentation mit drei Fällen zur Durchsetzung von Farb- und Ausstattungsmarken fort. Er begann mit einer Entscheidung des obersten Kassationsgerichtshofs Serbiens, aus der hervorgeht, dass Verwechslungs- und Assoziationsgefahr in Serbien als Rechtsfrage vom Gericht selbst und nicht durch einen Sachverständigen zu beurteilen sind. Anhand eines aus Bulgarien stammenden Falls zum Thema Durchsetzung von Farb- und Ausstattungsmarken zeigte Woller ferner auf, dass es in vielen osteuropäischen Ländern eine «Toolbox» gibt, die weit über das hinausgehen kann, was aus der eigenen Heimatjurisdiktion bekannt ist. So kann die Durchsetzung von Farb- und Ausstattungsmarken in Bulgarien beispielsweise nicht nur auf gerichtlichem Wege, sondern auch über die Wettbewerbsbehörde oder das Patent- und Markenamt erfolgen. Der dritte von Woller behandelte Fall handelte von einem Tankstellendesign in Albanien, mit welchem eine Assoziationsgefahr einherging, obwohl in Albanien selbst kein vergleichbares Tankstellendesign bestand. Das Design der Tankstelle war aber jenem eines Anbieters aus der zentralöstlichen und südöstlichen europäischen Region sehr ähnlich und deshalb Fernfahrern, Urlaubern und Geschäftsreisenden aus Nachbarländern bekannt und somit geeignet, eine Assoziationsgefahr hervorzurufen.

Zuletzt widmete sich Woller dem Thema Erschöpfung des Markenrechts und in diesem Zusammenhang unter anderem dem Fall «SILHOUETTE» (EuGH vom 16. Juli 1998, |C-355/96), in welchem der EuGH entschieden hatte, dass es im Markenrecht nur eine EWR- und keine weltweite Erschöpfung gibt. Dennoch geht das oberste Kassationsgericht Bulgariens von einer weltweiten Erschöpfung aus. Im Fall «DIAGEO» (EuGH vom 16. Juli 2015, C-681/13) stellte der EuGH klar, dass der Umstand, dass eine in einem Mitgliedsstaat ergangene Entscheidung gegen das Unionsrecht verstösst, nicht grundsätzlich die Versagung der Anerkennung dieser Entscheidung in einem anderen Mitgliedstaat aufgrund eines Verstosses gegen den ordre public dieses Staates rechtfertigt. Die Geltendmachung eines allfälligen Verstosses gegen den ordre public setze ohnehin die vorgängige Beschreitung des gesamten Rechtswegs im jeweiligen Land voraus.