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Berichte / Rapports

Bericht über die INGRES-Tagung vom 29. Januar 2018 in Zürich

Kilian Schärli* | Stefan Schröter**

Die diesjährige Wintertagung des Instituts für gewerblichen Rechtsschutz INGRES zur Praxis des Immaterialgüterrechts in der Europäischen Union fand im Anschluss an den traditionellen Skiausflug im Hotel «Zürichberg» statt. Geleitet wurde die Tagung von Dr. Michael Ritscher, während Dr. Christoph Gasser für die Organisation verantwortlich war.

I. Patentrecht

1. Aktuelle Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs zum Patentrecht

Dr. Klaus Grabinski, Richter am Bundesgerichtshof (BGH), stellte drei wichtige Entscheide des BGH vor.

Zunächst präsentierte Grabinski den Entscheid «Abdichtsystem», bei dem sich der BGH mit der Frage befasste, ob die Anordnung des Rückrufs und des endgültigen Entfernens sowie die Bejahung der Patentverletzung durch Handlungen im Ausland möglich sind (Akten-Nr. X ZR 120/15). Der Antrag der Klägerin gegen die in Italien ansässige Beklagte bezog sich auf Lieferungen der patentverletzenden Produkte sowohl unmittelbar nach Deutschland als auch an im Ausland ansässige Dritte, von denen die Beklagte wisse, dass jene auch nach Deutschland liefern.

Der BGH stellte zuerst fest, dass sich die Ansprüche auf Rückruf und auf endgültiges Entfernen nicht gegenseitig ausschliessen, sondern einander ergänzen. Der Patentinhaber kann wahlweise beide oder nur einen von beiden Ansprüchen geltend machen. Ferner stellte der BGH fest, dass der Anspruch auf Rückruf nicht bereits deshalb ausgeschlossen ist, weil der Verletzer im Ausland ansässig ist.

Anschliessend befasste sich der BGH mit der Frage, ob eine Mithaftung für die Belieferung von Abnehmern im Ausland mit patentverletzenden Erzeugnissen bejaht werden könne. Aus der früheren Rechtsprechung des BGH ergibt sich, dass eine Mithaftung für eine Patentverletzung im Inland nicht nur bei vorsätzlicher, sondern auch bei fahrlässiger Beteiligung im Ausland in Betracht kommt. Voraussetzung für eine Beteiligung an der Patentverletzung ist die Verletzung einer Schutzpflicht durch den Lieferanten im Ausland. Eine Schutzpflicht besteht nach der Rechtsprechung des BGH nicht nur, wenn der Lieferant weiss, dass der Abnehmer die gelieferte Ware in das Inland weiterliefert, wofür es nach den Feststellungen des Berufungsgerichts an hinreichendem Vorsatz der Klägerin fehlte, sondern auch dann, wenn es für den Lieferanten konkrete Anhaltspunkte gibt, die eine patentverletzende Weiterlieferung ins Inland naheliegend erscheinen lassen. In einer solchen Konstellation ist der Lieferant zu einer Überprüfung verpflichtet, etwa durch Nachfrage beim Abnehmer nach Lieferungen und Angeboten in das Inland. Der Referent wies diesbezüglich darauf hin, dass die Schutzpflicht dogmatisch eine Art Garantenstellung sei.

Daraufhin präsentierte Grabinski den Fall «Raltegravir», in welchem die Möglichkeit der Erteilung einer vorläufigen patentrechtlichen Zwangslizenz zum weiteren Vertrieb eines Medikaments infrage stand (Akten-Nr. X ZB 2/17). Die Antragstellerin vertrieb i.c. das Arzneimittel «Isentress®» (welches den zur Behandlung von HIV eingesetzten und vom Patent der Antragsgegnerin beanspruchten Wirkstoff Raltegravir beinhaltet). Die Voraussetzungen für die Erteilung einer Zwangslizenz durch eine einstweilige Verfügung ergaben sich aus § 85 i.V.m. § 24 De-PatG. Der BGH bejahte insb. das Vorliegen eines öffentlichen Interessens an der Erteilung einer Zwangslizenz (§ 24 Abs. 1 |Nr. 2 De-PatG): Verglichen mit dem Arzneimittel der Antragstellerin bestand bei den alternativen Mitteln die erhöhte Gefahr von Wechselwirkungen und zum Teil konnten sogar keine alternativen Mittel empfohlen werden. Bezüglich des Erfordernisses der Dringlichkeit beim Erlass einer einstweiligen Verfügung (§ 85 Abs. 1 De-PatG) merkte der BGH an, dass die Antragstellerin i.c. ihren Antrag gestützt auf einen Sachverhalt gestellt hatte, der schon geraume Zeit vor der Antragstellung zutage getreten war. Allerdings, so anerkannte der BGH, stand diesem Aspekt das überwiegende öffentliche Interesse an einer alsbaldigen Erteilung der Erlaubnis entgegen.

Schliesslich widmete sich Grabinski dem Entscheid «Borrelioseassay» (Akten-Nr. X ZR 11/15), in welchem der BGH sich mit der Frage der ausführbaren Offenbarung eines In-vitro-Verfahrens auseinandersetzte. Der Kläger hatte i.c. Nichtigkeitsklage gegen die Inhaberin eines europäischen Patents erhoben und u.a. den Nichtigkeitsgrund der unzureichenden Offenbarung geltend gemacht. Der BGH hatte den streitgegenständlichen Patentanspruch 16, insb. den Satz «Erhalten eines Antikörpers, der 1) immunologisch an ein Polypeptid bindet, 1.1) für das […], und 1.2) das spezifisch an Antikörper bindet, die gegen ein Polypeptid erzeugt wurden, das zumindest die Sequenz Nr. 2 aufweist» auszulegen. Dabei stellte der BGH fest, dass unter einem Polypeptid nicht nur ein Polypeptid mit der Sequenz Nr. 2 in Volllänge zu verstehen ist. Darunter sind vielmehr auch Polypeptide zu verstehen, die an einen Antikörper i.S.d. Merkmals 1.1. immunologisch binden. Der BGH stellte somit fest, dass das Polypeptid nicht durch seine Sequenzlänge, sondern durch seine spezifische Bindungsfähigkeit mit einem Antikörper i.S.d. Merkmals 1.1. charakterisiert ist. Es lag somit eine ausführbare Offenbarung vor, welche nicht nur den Schutz eines In-vitro-Verfahrens rechtfertigt, in dem das Polypeptid mit der Sequenz Nr. 2 in Volllänge verwendet wird, sondern auch den Schutz von Verfahren, die sich eines Fragments dieses Peptids bedienen.

2. Wichtige Entscheidungen der Beschwerdekammern des EPA

Dr. Fritz Blumer, Mitglied der Juristischen Beschwerdekammer des Europäischen Patentamts (EPA), referierte über die Zulässigkeit von Disclaimern, die Übertragung von Prioritätsrechten, die Rechtsprechung zum Stand der Technik im Internet sowie über die Patentierbarkeit von Pflanzen und ging entsprechend auf einige relevante Entscheide ein.

Zunächst fasste Blumer die bisherige Praxis der Beschwerdekammern des EPA zu den Disclaimern zusammen, bestehend insb. aus den Entscheiden G 1/03 und G 2/10. Anschliessend ging der Referent auf einen neuen Entscheid (G 1/16) ein, in welchem sich die Frage stellte, ob der Goldstandard aus G 2/10 auch für «undisclosed disclaimers» gilt und, falls ja, ob die in G 1/03 genannten Ausnahmen nicht mehr gelten. Die grosse Beschwerdekammer des EPA kam dabei zum Schluss, dass für die Beurteilung, ob ein durch die Einfügung eines ursprünglich nicht offenbarten Disclaimers geänderter Patentanspruch unter Artikel 123(2) EPÜ zulässig ist, der Disclaimer einer der in Punkt 2.1 der Entscheidungsformel von G 1/03 enthaltenen Kriterien erfüllen muss. Ferner fügte die grosse Beschwerdekammer hinzu, dass die Einführung eines Disclaimers keinen technischen Beitrag zu dem in der ursprünglichen Anmeldung offenbarten Gegenstand leisten darf. Insbesondere darf er nicht relevant sein oder relevant werden für die Beurteilung der erfinderischen Tätigkeit oder der zureichenden Offenbarung.

Sodann referierte Blumer über die Übertragung von Prioritätsrechten. Prioritätsrechte ergeben sich aus Art. 87 EPÜ und gelten gemäss dieser Vorschrift entweder für den Patentanmelder oder für dessen Rechtsnachfolger. Blumer zeigte auf, welche Fragen sich im Zusammenhang mit der Übertragung der Priorität auf Rechtsnachfolger stellen. Ferner widmete sich Blumer der Frage des Beweismasses bezüglich des Stands der Technik im Internet. In einem neuen Entscheid (T 545/08) kam der Beweismassstab der «balance of probabilities» zur Anwendung. Im erwähnten Entscheid stellte die Beschwerdekammer auch fest, dass strikte Regeln zum Beweismass im Hinblick auf das Prinzip der freien Beweiswürdigung problematisch sein können. Aus anderen Entscheiden (T 353/14 und T 1711/11) ergibt sich ferner, dass der Standard «beyond any reasonable doubt» nicht angewendet werden muss und dass der Massstab «balance of probabilites» auch für Internet-Offenbarungen gilt.

Schliesslich referierte Blumer über die Patentierbarkeit von Pflanzen gemäss neuerer Rechtsprechung und Gesetzgebung. Auslöser für die Diskussion sowohl auf nationaler als auch auf EU-Ebene waren die Verfahren «Broccoli / Tomaten I und II». Dies hat im Juli 2017 zur Änderung der Regel 27 b) AO EPÜ (patentierbare biotechnologische Erfindungen) sowie zur Einführung einer neuen Regel 28 AO EPÜ (Ausnahmen von der Patentierbarkeit) geführt.

3. Neue Entwicklungen im österreichischen Patentrecht

Dr. Martin Müllner, Patentanwalt in Wien, stellte die neuesten Entwicklungen im österreichischen Patentsystem vor.

Zuerst ging der Referent auf die im August 2017 in Kraft getretenen Änderungen im österreichischen Patentgesetz ein, welche eine Erleichterung für die Nachweiserbringung einer erfolgten Übertragung des Patentrechts vorsehen.

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Anschliessend ging Müllner kurz auf die EuGH-Rechtsprechung über die Laufzeit von Schutzzertifikaten ein. Massgeblicher Zeitpunkt der ersten Genehmigung für das Inverkehrbringen in der EU ist die Zustellung des Beschlusses über die Genehmigung. Es ist anzumerken, dass der in der Zertifikatsanmeldung enthaltene Zeitpunkt der ersten Zulassung bis zum Ende der Laufzeit des betreffenden Zertifikats berichtigt werden kann, wenn er unrichtig ist. Der Referent wies darauf hin, dass, auch wenn der Unterschied nur einige Tage beträgt, dies in der Pharma-Industrie aufgrund der erheblichen Umsätze sehr relevant sein kann.

Sodann ging Müllner auf die neueste österreichische Rechtsprechung zu den Ansprüchen auf Rückruf ein. Im Fall 4Ob141/16p vom 21. Februar 2017 wurde die Beklagte vom OGH dazu angehalten, ihre Abnehmer «ernsthaft aufzufordern», die Erzeugnisse an sie zurückzugeben. Der OGH stellte dabei fest, dass die fehlende rechtliche Verfügungsmacht an den Eingriffsgegenständen nicht zur Verneinung des Anspruchs an sich führt, weil eine «ernsthafte Aufforderung» keine Verfügungsmacht voraussetzt.

Im erwähnten Fall 4Ob141/16p stellte der OGH ferner fest, dass die österreichischen Bestimmungen zum Beseitigungsanspruch und zu den einstweiligen Verfügungen richtlinienkonform im Sinne der Richtlinie 2004/48/EG zur Durchsetzung der Rechte des geistigen Eigentums auszulegen sind. Dies bedeutet insbesondere, dass der Rückruf der Waren aus den Vertriebswegen im Abschnitt 5 dieser Richtlinie über Massnahmen aufgrund einer Sachentscheidung, nicht aber im Abschnitt 4 über einstweilige Massnahmen und Sicherungsmassnahmen vorgesehen ist. Laut Müllner stellt dies ein Problem dar, weil in Österreich das Hauptverfahren oft sehr lange dauert. So sind am Ende des Hauptverfahrens kaum noch Eingriffsgegenstände zurückrufbar, selbst wenn in Österreich im Patentwesen die Dringlichkeit keine Voraussetzung ist und eine einstweilige Verfügung also auch jederzeit während des Hauptverfahrens beantragt werden kann. Die Eingriffsgegenstände sind entweder schon alle verkauft oder das Patent ist bereits abgelaufen.

Ferner widmete sich Müllner der Angleichung des österreichischen Verfahrens an die Praxis des EPA. Seit 2014 bestehen neue Instanzen im Rechtsmittelweg, was zu teilweise wesentlichen Änderungen der ständigen Praxis geführt hat. Dies ist z. B. im Entscheid OLG 34R163/15p vom 14. April 2016 zu sehen, bei welchem die Möglichkeit für den Einsprecher bejaht wurde, im Einspruchsverfahren nach der Gegenschrift neues Material einzuführen. Das OLG stellte aber im erwähnten Entscheid auch fest, dass im Rechtsmittelverfahren kein zweiter Schriftenwechsel möglich ist.

4. Übersicht zu den letzten Entwicklungen im europäischen Patentsystem

Dr. Stefan Luginbühl, Jurist in der Direktion für Europäische und Internationale Rechtsangelegenheiten des EPA, fokussierte in seinem Referat insb. auf die letzten Entwicklungen im EU-Patentsystem.

Zunächst berichtete Luginbühl über die am 1. Oktober 2017 in Kraft getretene Änderung der Regeln 32 und 33 EPÜ, mit welchen eine neue Lösung vorgesehen wurde, um den Zugang zu hinterlegtem biologischem Material über einen Sachverständigen zu erleichtern. Konkret wird dies durch die Abschaffung des mit grossem administrativem Aufwand verbundenen Verzeichnisses der anerkannten Sachverständigen erreicht und der gleichzeitigen Einführung der Möglichkeit, jede natürliche Person, welche die vom EPA-Präsidenten festgelegten Anforderungen und Verpflichtungen erfüllt, als Sachverständigen zu benennen, ohne dass die Zustimmung des Anmelders eingeholt werden muss. Ferner erörtert wurden die am 1. Juli 2017 in Kraft getretenen Änderungen der Regeln 27 b) und 28 EPÜ (Ausschluss der Patentierbarkeit von Erzeugnissen [Pflanzen und Tiere bzw. Pflanzen- und Tierteile], die durch im Wesentlichen biologische Verfahren gewonnen werden) sowie die Änderungen der Gebührenordnung, welche am 1. April 2018 in Kraft treten werden.

Sodann berichtete der Referent kurz über den Stand der Vereinbarungen betreffend die «Patent Prosecution Highway (PPH)»-Programme und Validierungsabkommen zur Erweiterung der Wirkung eines europäischen Patents auf aussereuropäische Staaten.

Zentrales Thema des Vortrages stellten die letzten Entwicklungen im Einheitspatentsystem dar. Bezüglich des Standes der Einführung des Einheitspatentsystems berichtete der Referent über zwei Sitzungen des engeren Ausschusses im Jahre 2017, in welchen die Schweiz nur Beobachterstatus hat. Es ging bei den Diskussionen vor allem um die Umsetzung des Einheitspatentsystems auf nationaler Ebene, insb. in Bezug auf die nachträgliche Validierung des klassischen europäischen Patents bei Abweisung des Antrags auf einheitliche Wirkung und die heftig diskutierte geplante Zulassung des Doppelschutzes durch ein EU-Einheitspatent und ein nationales Patent in gewissen EU-Mitgliedstaaten.

Luginbühl wies anschliessend darauf hin, dass das neue System im Laufe des Jahres 2018 operationell werden könnte. Bezüglich der noch fehlenden Ratifizierungen des Übereinkommens über ein Einheitliches Patentgericht (EPGÜ) erklärte er, dass das Vereinigte Königreich sehr wahrscheinlich bereits im Februar 2018 die letzten erforderlichen Schritte im Rahmen seines parlamentarischen Ratifizierungsverfahrens vornehmen werde. In |Deutschland wurde hingegen das entsprechende Verfahren Mitte 2017 abgeschlossen. Allerdings hat der deutsche Bundespräsident die Unterzeichnung des Vertragsgesetzes aufgrund einer anhängigen Verfassungsklage bisher nicht vollzogen. In der Annahme, dass die Verfassungsklage nicht angenommen wird, ist zu erwarten, dass Deutschland dann die Ratifikationsurkunde hinterlegen wird. Schliesslich bemerkte der Referent, dass die Umsetzungs- und Vorbereitungsarbeiten für das EPGÜ-System auch im Jahre 2018 weitergeführt werden.

In der anschliessenden lebhaften Diskussion wurde vom Publikum nicht zuletzt die Frage gestellt, warum nicht auch Mitglieder der Beschwerdekammern als mögliche Richter beim Einheitlichen Patentgericht vorgesehen seien. Dazu erklärte der Referent, dass eine Mehrheit der EPGÜ-Staaten den Wunsch der Entwicklung einer von den Beschwerdekammern unabhängigen Rechtsprechung durch das EPG geäussert habe und deshalb trotz des vorhandenen grossen Fachwissens in den Beschwerdekammern darauf verzichtet worden sei, deren Mitglieder als Richter im EPGÜ vorzusehen.

5. Podiumsdiskussion

Zum Abschluss des patentrechtlichen Teils der Tagung fand eine Paneldiskussion statt, an welcher, neben den oben erwähnten Referenten, auch Dr. Mark Schweizer (Präsident des Schweizer Bundespatentgerichts) und Dr. Tobias Bremi (zweiter hauptamtlicher Richter am Schweizer Bundespatentgericht) teilnahmen.

Schweizer stellte zuerst die Frage, wie ein Entfernen aus den Vertriebswegen in Deutschland konkret beantragt werden solle, nämlich ob der Kläger konkrete Massnahmen beantragen oder pauschal «alles Zumutbare» verlangen müsse, und wie das Dispositiv des Entscheids lauten müsse. Grabinksi hielt dazu fest, dass man als Kläger möglichst konkret sein müsse, um die Vollstreckung des Urteils bei allfälliger Nichtbefolgung zu ermöglichen. Aus dem Publikum kam diesbezüglich der Input, dass man den Beklagten auffordern müsse, sich als Patentverletzter auszuweisen, und man die Rücksendung der Produkte verlangen solle. Grabinski fügte ferner hinzu, dass es einzelfallabhängig sei, wie ein Urteil umgesetzt wird: Die Produkte können entweder zurück an den Verletzter geschickt oder an einen dazu bereiten Gerichtsvollzieher geliefert werden, welcher dann die Vernichtung durchführt.

Bremi stellte sodann die Frage, ob in Österreich die Möglichkeit eines einzigen Schriftenwechsels vor der Rechtsmittelinstanz wirklich konsequent umgesetzt werden könne im Lichte des Erfordernisses der Wahrung des rechtlichen Gehörs. Die Praxis des EGMR wird vom Schweizer Bundesgericht nämlich so interpretiert, dass jede Partei immer die Möglichkeit haben muss, sich zu einer Eingabe der Gegenpartei zu äussern. Müllner erklärte, dass man in Österreich einen zweiten Schriftenwechsel beantragen könne. Grundsätzlich sei aber nicht allzu problematisch, dass die Parteien im Rechtsmittelverfahren nur eine Möglichkeit für Stellungnahmen haben. Auf den Hinweis, dass in Deutschland die Parteien die eigene Stellungnahme an der Hauptverhandlung darlegen können, antwortete Schweizer, dass dies eigentlich auch in der Schweiz denkbar wäre, obwohl dies dort aufgrund der weitverbreiteten Schriftlichkeit der Verfahren eher unüblich sei. Bremi fügte hinzu, dass in der Schweiz in Patentstreitigkeiten ein Fachrichtervotum eingeholt werde, zu welchem die Parteien dann wiederum schriftlich Stellung nehmen könnten, und dass wegen des meist zwingenden Fachrichtervotums vor der Hauptverhandlung die Wahrnehmung des rechtlichen Gehörs nach dem Schriftenwechsel an der Verhandlung nicht sinnvoll möglich sei.

Aus dem Publikum kam die Wortmeldung, dass Patentstreitigkeiten, welche grundsätzlich schnell geklärt werden sollten, leider aufgrund der zahlreichen Schriftenwechsel immer langsamer werden. Unter diesem Aspekt sei das Verfahren vor dem EUIPO, dank seinen verfahrensstraffenden Regeln, viel besser. Eine zügige Rechtsfindung habe oft Vorteile für die Parteien.

Aus dem Publikum kam ferner die kritische Bemerkung, dass der Rückruf der Waren aus den Vertriebswegen eigentlich als Anspruch auf Unterlassung zu verstehen sei. Daher müsse dieser auch als einstweilige Massnahme beantragt werden können. Grabinski erwiderte, dass diese Frage offen sei​1.

Bremi kritisierte anschliessend die Praxis des EPA, wonach bei der Frage der Beurteilung der Rechtsnachfolge bei der Geltendmachung von Prioritätsansprüchen, wenn Voranmelder und Nachanmelder auseinanderfallen, schwierige kollisionsrechtliche Überlegungen ohne Rechtsgrundlage im EPÜ angestellt werden. Dabei stellte er fest, dass noch nicht klar sei, in welche Richtung sich die diesbezügliche Praxis des EPA entwickeln werde.

Schweizer stellte ferner die Frage, wie die Beweismassregeln zum Stand der Technik im Internet vom Einheitlichen Patentgericht (EPG) übernommen werden sollten, da es keine Regeln zum Beweismass gebe. Grabinski antwortete darauf, dass dies möglich sei, dass aber die Frage des Beweismasses oft nur theoretischer Natur sei, weil Ge-|richte unabhängig von theoretischen Methoden zur eigenen Überzeugung kommen.

Ritscher bedankte sich bei den Podiumsgästen und schloss damit den patentrechtlichen Teil der Veranstaltung ab.

II. Urheberrecht

Dr. Reinhard Oertli, Rechtsanwalt und Partner bei Meyerlustenberger Lachenal in Zürich, eröffnete das Nachmittagsprogramm und stellte dem Publikum die wegweisenden Entscheide zum Urheberrecht aus dem Jahr 2017 vor. Dabei war der umstrittene Begriff der öffentlichen Wiedergabe nach Art. 3 Abs. 1 der Urheberrechtsrichtlinie eine wiederkehrende Kernfrage in der vorgestellten Kasuistik.

So wurde der Verkauf einer Set-Top-Box namens «Filmspeler» im EuGH-Entscheid vom 26. April 2017 (C 527/15) als unzulässig erklärt, weil die Nutzer mit dem Gerät auf urheberrechtlich unzulässig verfügbar gemachte Quellen zugreifen konnten. Bereits der Verkauf eines solchen Geräts erfülle dabei sowohl das Tatbestandsmerkmal der Wiedergabehandlung als auch das der Öffentlichkeit. Oertli betonte, dass die weite Auslegung der öffentlichen Wiedergabe auch dem Umstand geschuldet sei, dass die Gerichte nicht auf Teilnahmetatbestände zurückgreifen könnten. Dadurch würden die Gerichte wohl eher dazu tendieren, das Vorliegen einer öffentlichen Wiedergabe zu bejahen. Auch im «VCAST»-Urteil vom 29. November 2017 sei der EuGH seiner bisherigen Linie der weiten Auslegung der öffentlichen Wiedergabe treu geblieben. In diesem Fall ging es um die urheberrechtliche Einordnung eines Online-Services, der die Speicherung von ausgestrahlten Sendungen in einer Cloud ermöglicht (sog. Cloud-Recorder). Gemäss EuGH hätten solche Recorder eine Doppelfunktion, da sie sowohl eine Vervielfältigung als auch ein öffentliches Zugänglichmachen der gespeicherten Sendungen erlaubten. Mit Blick auf die Wiedergabehandlung erfordere jede Weiterverbreitung, die nach einem spezifischen technischen Verfahren erfolgt, eine Zustimmung des Urhebers, da sie sich an ein neues Publikum wende. Weiter genüge die Gesamtheit der Personen, an die sich das Angebot von VCAST richte, um das Tatbestandsmerkmal der Öffentlichkeit zu erfüllen. Oertli bemängelte am Entscheid, dass der EuGH letztlich gar nicht auf alle Vorlagefragen eingegangen sei. Insbesondere wäre eine vertiefte Auseinandersetzung mit dem Begriff der Privatkopierfreiheit wünschenswert gewesen.

Demgegenüber wurde das Vorliegen einer öffentlichen Wiedergabe im Urteil des deutschen BGH vom 21. September 2017, ZR 11/16, «Vorschaubilder III» verneint. Darin ging es um die Frage, ob Miniaturansichten (sog. Thumbnails) von urheberrechtlich geschützten und illegal (wieder) hochgeladenen Bildern in einer Internetsuchmaschine eine Verletzung des Rechts an der öffentlichen Zugänglichmachung darstellten. In Anlehnung an die «GS Media»-Rechtsprechung hänge die Frage der Urheberrechtsverletzung davon ab, ob der Linksetzer die Rechtswidrigkeit der Veröffentlichung der Werke auf der verlinkten Website nicht kannte oder vernünftigerweise nicht kennen konnte. Obwohl die Kenntnis nach dieser Rechtsprechung vermutet wird, wenn der Linksetzer mit Gewinnerzielungsabsicht handelt, greife diese Vermutung – so der BGH – bei Internetsuchdiensten wegen ihrer besonderen Bedeutung gerade nicht. Vom Anbieter einer automatisierten Suchfunktion könne nicht erwartet werden, dass die verlinkten Bilder vorgängig auf ihre Rechtmässigkeit überprüft werden.

Abschliessend berichtete der Referent über den aktuellen Stand der Richtlinie über das Urheberrecht im digitalen Binnenmarkt. Es gebe momentan verschiedene Problempunkte und Kompromissvorschläge. Neben Themenfeldern wie Data-Mining, Nutzung zu Schulungszwecken, Kulturerbe und Schutz der Presseveröffentlichungen würden die Meinungen vor allem im Hinblick auf den sog. Value Gap deutlich auseinandergehen. Man habe mit der entsprechenden Value-Gap Bestimmung Onlineplattformen wie Youtube im Visier, die mit nutzergenerierten Inhalten Gewinne erwirtschaften. In der Diskussion gehe aber nach Oertli teilweise unter, dass viele Künstler am Anfang ihrer Karriere durch die vielen – an sich zwar urheberrechtsverletzenden – Uploads ihrer Songs in ihrer Bekanntheit geradezu vorangetrieben werden und in diesem Stadium ihrer Karriere wohl gar kein Interesse an einem takedown ihrer Songs hätten.

III. Designrecht

Dr. Felix Hauck, Rechtsanwalt und Partner der Kölner Kanzlei dompatent von Kreisler Selting Werner, widmete sein Referat der Praxis des EuGH zum Gemeinschaftsgeschmacksmusterrecht im Jahr 2017.

Nach einer Skizzierung der wichtigsten Eckpunkte des «Duschabflussrinne»-Entscheids des EuGH vom 21. September 2017 (C-361/15 P und C-405/15 P) setzte sich Hauck eingehend mit dem EuGH-Entscheid in Sachen «Nintendo / Big Ben» (C-24/16 und C-25/16) auseinander. Der EuGH kam in diesem Urteil zum Schluss, dass die Abbildung von geschmacksmusterrechtlich geschützten Produkten – in casu auf der Webseite eines Herstellers von «Nintendo»-kompatiblen Produkten – eine erlaubte Zitierung darstelle. Während dieser Entscheid in prozessualer Hinsicht vor allem für die Unionsmarke von grosser Bedeutung ist (siehe hierzu das Referat Hackbarth in Kap. |IV. 1.), kritisierte Hauck in materieller Hinsicht die Auffassung des EuGH im Hinblick auf das Zitierrecht. Namentlich teile er die angewandte Ausweitung des Zitierrechts auf die Wiedergabe fremder Designs nicht, da die blosse Abbildung der geschmacksmusterrechtlich geschützten Spielkonsole auf der Produktewebsite des Drittherstellers kaum unter das Zitierrecht subsumiert werden könne. Zumal werde bei einem herkömmlichen Zitat schliesslich auch eine inhaltliche Auseinandersetzung vorausgesetzt. Es bestehe hierfür im Übrigen auch kein wirtschaftliches Bedürfnis, da das gleiche Ziel auch ohne Weiteres mit der Nennung der kompatiblen Typenbezeichnung erreicht werden könne.

Als letzten Entscheid nahm Hauck den «Doceram»-Fall des EuGH in Bezug, der diesem vom OLG Düsseldorf zur Vorabentscheidung vorgelegt worden war (C-395/16). Im Kern geht es dabei um die Frage, wann einem Geschmacksmuster – im vorliegenden Fall für einen Zentrierstift – wegen seiner technischen Bedingtheit der Schutz verwehrt werden kann. Dieser entscheidenden Frage liegen zwei gegenüberstehende Theorien zugrunde: die Vielfalts- und die Kausalitätstheorie. Nach der Vielfaltstheorie liegt ein Ausschlussgrund nach Art. 8 Abs. 1 GGV nur dann vor, wenn für dieselbe technische Funktion keine Designalternative zur Verfügung steht. Dagegen liegt ein Ausschlussgrund nach der Kausalitätstheorie bereits dann vor, wenn das gewählte Design kausal durch die technische Funktion vorgegeben wird. Hauck betonte diesbezüglich die praktische Bedeutung der Diskrepanz zwischen dem technischen Zeichner und dem Produktedesigner. Während sich der Erstere auf die technische Darstellungsform beschränke, strebe der Designer eine besondere Note an.

Da der Entscheid des EuGH im Zeitpunkt der Tagung noch nicht ergangen war​2, setzte sich Hauck in seinem Tagungsreferat mit den bereits erschienenen Schlussanträgen des Generalanwalts Saugmandsgaard Øe auseinander. Der Generalanwalt hat sich im Streit zwischen der Vielfalts- und der Kausalitätstheorie deutlich für Letztere positioniert. In seinen Schlussanträgen stellte er sich auf den Standpunkt, dass sich das Geschmacksmuster von der nächstliegenden Darstellungsform abheben muss, um schutzfähig zu sein.

In der anschliessenden Diskussion wurde insbesondere die Kausalitätstheorie kritisiert, da sie zu stark auf die subjektive Sicht des technischen Zeichners abstelle. Dem entgegnete der Referent, dass dieser sich allenfalls zur Entstehungsgeschichte äussern könne, letztlich aber eine objektive Betrachtungsweise erfolge. Ein Votum aus dem Publikum forderte angesichts der zeitlichen Begrenzung der designrechtlichen Monopolisierung eine – insbesondere gegenüber dem Markenrecht – grosszügigere Haltung bei der Frage der Schutzfähigkeit. Hauck hofft, dass die Diskussion um den Schutzausschluss aufgrund technischer Bedingtheit auf Unionsebene noch im Jahr 2018 mit dem entsprechenden EuGH Entscheid beendet werde.

IV. Markenrecht

1. EU-Rechtsprechung im Markenrecht 2017

Dr. Christina Hackbarth, Rechtsanwältin und Partnerin bei BEITEN BURKHARDT in München, stellte den Tagungsteilnehmern verschiedene bedeutsame Entscheide zum Markenrecht aus dem Jahr 2017 vor. Die Referentin eröffnete ihren Vortrag mit einigen Ausführungen zum EFTA-Entscheid E-5/16, «Vigeland». Das Gericht setzte sich in diesem Fall mit der Schutzfähigkeit von Markenanmeldungen der Stadt Oslo auseinander, die zweidimensionale Darstellungen von Kunstwerken des norwegischen Bildhauers Gustav Vigeland darstellten. Hinter der Anmeldung stand wohl das Ziel, nach Ablauf der urheberrechtlichen Schutzfrist die Kontrolle über die kommerzielle Verwertung über das Markenrecht zu sichern. Das Gericht kam zum Schluss, dass die Markeneintragung gemeinfreier Werke nicht per se einen Verstoss gegen die guten Sitten und die öffentliche Ordnung darstelle; in Ausnahmefällen könne ein Verstoss gegen die öffentliche Ordnung im Falle einer solchen Markenanmeldung jedoch angenommen werden. Hackbarth hob weiter interessante Ausführungen des Urteils u. a. zum Ausschlussgrund der wertverleihenden Formgebung und der fehlenden Unterscheidungskraft hervor. Der EuGH, der bislang noch nicht über den Markenschutz gemeinfreier Werke entschieden hat, hätte, wenn überhaupt, die Anmeldung aber eher an der fehlenden Unterscheidungskraft oder an dem im norwegischen Markengesetz nicht vorliegenden Schutzausschliessungsgrund der Bösgläubigkeit der Markenanmeldung scheitern lassen. Der Entscheid des Gerichts, bei gemeinfreien Werken den Weg über den Schutzausschlussgrund des Verstosses gegen die öffentliche Ordnung zu ermöglichen, sei im markenrechtlichen Kanon gemischt aufgenommen worden.

Anschliessend beleuchtete Hackbarth kurz die beiden EuGH Urteile vom 8. Juni 2017, C-689/15, «Baumwollzeichen» sowie vom 20. September 2017, C-673/15 P bis C-676/15 P, «The Tea Board». Die beiden Entscheidungen seien auch für die erst 2017 eingeführte Unionsgewährleistungsmarke nach Art. 83 ff. der Unionsmarkenverordnung wegweisend. Die Referentin betonte, dass sich der Schutzzweck der Unionsgewährleistungsmarke grundlegend von jenem der Individual- sowie |der Kollektivmarke unterscheide, deren Hauptfunktion jeweils die Herkunftshinweisfunktion sei.

Sodann beleuchtete Hackbarth im Detail die prozessrechtliche Bedeutung des bereits erwähnten «Nintendo / Big Ben»-Entscheids des EuGH. Der EuGH kam in diesem wegweisenden Urteil zum Schluss, dass im Rahmen der Auslegung von Art. 8 ROM II-VO zu den Sanktionen einheitlich an ein einziges nationales Recht angeknüpft werden könne; abgestellt werden müsse auf das Recht des Staates, in dem die ursprüngliche Verletzungshandlung begangen wurde. Bei Angeboten auf einer Webseite sei dies zentral dort, wo die Veröffentlichung in Gang gesetzt wurde. Der EuGH habe sich somit im Lehrstreit zwischen der Mosaik- und der Einheitstheorie zur Überraschung einiger Markenrechtler für Letztere ausgesprochen. Hackbarth begrüsste diese Positionierung des EuGH, da sie zu einer enormen Stärkung der Unionsmarke beitragen könne.

Dieser Euphorie habe der BGH mit dem Urteil vom 9. November 2017 in Sachen «Parfummarken» (I ZR 164/16) jedoch einen deutlichen Dämpfer verpasst, indem der BGH die Grundsätze zum anwendbaren Recht aus der Entscheidung «Nintendo / Big Ben» auch auf die internationale Zuständigkeit angewendet hat. Demnach sei ein deutsches Gericht für eine Klage wegen Verletzungen von Unionsmarken dann nicht im deliktischen Gerichtsstand zuständig, wenn die Beklagte die markenverletzenden Waren aus einem anderen europäischen Land versandt und dort den Prozess der Veröffentlichung des Angebots in Gang gesetzt habe. Der Entscheid löste auch unter den Tagungsteilnehmern eine angeregte Diskussion aus. Laut Hackbarth gebe es, wenn man immer an den Ort der ursprünglichen Verletzungshandlung anknüpfe faktisch keinen deliktischen Gerichtsstand mehr; denn dieser würde dann immer mit der allgemeinen Sitzzuständigkeit des Beklagten zusammenfallen. Dies wiederum hätte zur Folge, dass man gegen Verletzer, die in Ländern ihren Sitz haben, in denen Verfahren beispielsweise langwierig sind, nur schwer vorgehen könne. Wolle man in dem Land am deliktischen Gerichtsstand vorgehen, in dem auch tatsächlich die Verletzungen stattfinden, benötigte man dafür eine nationale Marke. Die nationale Marke sei durch diese Entscheidung gegenüber der Unionsmarke wieder deutlich aufgewertet. In der anschliessenden Diskussion im Plenum schien man sich einig zu sein, dass der Kläger durch die «Parfummarken»-Rechtsprechung deutlich schlechter gestellt werde. Es wurde die Ansicht vertreten, dass dem praktisch nur der Gesetzgeber entgegentreten könne.

2. Ausgewählte Entscheidungen der Beschwerdekammer des EUIPO

Christoph Bartos, Mitglied der Beschwerdekammer des EUIPO, gab im Rahmen seines Referats einen umfangreichen Überblick über die Tätigkeit der Beschwerdekammern im Jahr 2017. Unterteilt in die Themenblöcke Verfahrensfragen, absolute bzw. relative Eintragungshindernisse, Bösgläubigkeit und ernsthafte Benutzung schnitt er insgesamt knapp 80 Entscheidungen der Beschwerdekammern an. Im Verhältnis zur Gesamtsumme der im Jahr 2017 behandelten Fälle wurde die Anzahl der vorgestellten Entscheide jedoch deutlich relativiert: Laut Bartos wird im Durchschnitt alle 5 Stunden ein Entscheid gefällt.

Im Themenblock zu den Verfahrensfragen wurde die Frage der Wiedereinsetzung kontrovers diskutiert. Anlass dazu gab die Ablehnung eines Antrags auf Wiedereinsetzung im Entscheid R0101/2017-1. Die Antragsteller begründeten die Wiedereinsetzung damit, dass die entsprechende Zahlung wegen einer – bisher tadellos arbeitenden – Sekretärin des zuständigen Anwalts vergessen gegangen sei. Von einigen Tagungsteilnehmern wurde daraufhin die Frage aufgeworfen, wann bei einem Missgeschick dieser Art überhaupt mit einer Wiedereinsetzung gerechnet werden könne. Bartos führte aus, dass auf jeden Fall plausibel dargelegt werden müsse, dass der entsprechende Fehler trotz Bestehens eines an sich funktionierenden Kontrollsystems des Anwalts unterlaufen sei. Von den Antragstellern werde regelmässig zu ungenau umschrieben, wo sich der konkrete Fehler ereignet habe und welche Massnahmen allgemein getroffen werden, um solche Fehler zu vermeiden. Viele Kanzleien scheinen zudem ganz grundsätzlich vor solchen Anträgen zurückzuschrecken, weil eine Ablehnung des Antrags als Beleg für eine nachlässige Kanzleiorganisation verstanden werden könnte. Bartos könne nachvollziehen, dass diese Praxis durchaus als streng empfunden werde. Besser stünden die Chancen für eine Wiedereinsetzung, wenn die vergessene Zahlung bereits wenige Tage später bemerkt werde.

V. Schadenersatzrecht

Zum Abschluss der diesjährigen Tagung gab Prof. Dr. Benjamin Raue, Professor für Zivilrecht an der Universität Trier, den Tagungsteilnehmern einen erhellenden Einblick in seine 2017 erschienene Habilitationsschrift mit dem Titel «Die dreifache Schadensberechnung – Eine Untersuchung zum deutschen und europäischen Immaterialgüter-, Lauterkeits- und Bürgerlichen Recht». Anlässlich der immaterialgüterrechtlichen Interessen des Publikums beleuchtete Raue die unterschiedliche Umsetzung der Durchsetzungsrichtlinie 2004/48/EG in einzelnen Mitgliedstaaten. Obwohl die Richtlinie darauf abziele, einen gleichwertigen Schutz des geistigen Eigentums in den Mitgliedstaaten |zu gewährleisten und den «IP-Schadenersatz» zu harmonisieren, lasse die Richtlinie den Mitgliedstaaten für die Umsetzung einen grossen Spielraum. So ermögliche sie den Mitgliedstaaten, in ihrer nationalen Umsetzung auf den tatsächlichen Schaden oder auf einen Pauschalbetrag abzustellen. Bereits dadurch bestehen in den Mitgliedstaaten teilweise enorm unterschiedliche Regelungen. Raue zeigte insbesondere die dogmatischen Unterschiede im deutschen, französischen und englischen IP-Schadenersatzrecht auf. So könne in Frankreich und in England – im Unterschied zum Modell in Deutschland – neben der Lizenzanalogie auch der Ersatz für blosse Gewinnchancen durchgesetzt werden. Obwohl zumindest in der Theorie auch in Deutschland weitere Posten geltend gemacht werden könnten, scheitere deren Durchsetzung in der Praxis. Am weitesten gehen laut Raue die französischen Richter, die regelmässig neben dem entgangenen Gewinn und der Lizenzanalogie noch weitere Schadensposten zusprechen. Eine Besonderheit des französischen Modells sei dabei die sog. banalisation sowie die fehlende Möglichkeit der isolierten Herausgabe des Verletzergewinns. Unterschiede gebe es zudem bei der Durchführung der Schadensberechnung: Während die Schadensberechnung in England vom Gericht vorgenommen werde, erfolge dies in Frankreich oftmals unter Beiziehung von Sachverständigen.

Obwohl sich seine Habilitationsschrift nur in einem Exkurs mit dem Schweizer Recht befasst, teilte Raue auch einige seiner Gedanken zu den helvetischen Besonderheiten im IP-Schadenersatzrecht mit dem Publikum. Die Lizenzanalogie und der Verletzergewinn dienen Klägern in der Schweiz lediglich zur Bezifferung eines vorher darzulegenden Schadens. Weitere Schadensposten hätten kaum Erfolgschancen. Generell sei in der Schweiz eine besonders zurückhaltende Praxis bei der Zusprechung von IP-Schadenersatz zu verzeichnen. Die grundsätzlich zwar gesetzlich vorgesehene Schätzungskompetenz des Gerichts komme – anders als in England und in Frankreich – kaum zur Anwendung. Die schwerfällige Durchsetzung der Schadensposten sei zudem auch klar dem Prozessrecht geschuldet, dem ein Discovery-Verfahren fremd sei. Diese hohen Hürden zur Durchsetzung des IP-Schadenersatzes seien äusserst stossend, da die Rechtsordnung die Immaterialgüterrechte explizit anerkenne und mithin auch der Eingriff in diese Rechte kompensiert werden müsse.

Raue betonte abschliessend, dass die Durchsetzungsrichtlinie die Einführung von Strafschadenersatz auf nationaler Ebene keinesfalls ausschliesse. Der Strafschadenersatz werde insofern aber durch das Verhältnismässigkeitsprinzip begrenzt. Im Hinblick auf die künftige Schadenersatzpraxis der Unionsgerichte geht Raue davon aus, dass sich diese am französischen Modell orientieren dürfte. Er leite diese Annahme aus der EU-Rechtsprechung zum Schadenersatz aus Amtshaftung ab. Mit dieser interessanten These beendete Raue den Einblick in seine Habilitationsschrift sowie die INGRES-Wintertagung 2018.

Fussnoten:
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Dr. iur., LL.M., Rechtsanwalt und Notar, Zug.

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Dr. iur., LL.M., Rechtsanwalt, Zürich.

1

Zwischenzeitlich ist dazu der Beschluss des I. Zivilsenats des BGH vom 11. Oktober 2017, I ZB 96/16, GRUR 2018, 292 – Produkte zur Wundversorgung, veröffentlicht worden, wonach die Verpflichtung zur Unterlassung einer Handlung, durch die ein fortdauernder Störungszustand geschaffen wurde, auch dann, wenn sie in einer einstweiligen Verfügung enthalten ist, mangels abweichender Anhaltspunkte dahin auszulegen ist, dass sie neben der Unterlassung auch die Vornahme möglicher und zumutbarer Handlungen zur Beseitigung des Störungszustands umfasst.

2

Zwischenzeitlich hat der EuGH in der Rechtssache C-395/16 entschieden und sich dem Schlussantrag des Generalanwalts angeschlossen.