B
Berichte / Rapports

Gabriela Fettes​* | Lea Pessina​**

Am 31. Oktober 2014 fand in Olten das von den PatentanwaltsverbĂ€nden VIPS und VESPA gemeinsam organisierte Herbstseminar zum Thema «Was gehört zum Stand der Technik?» statt. Der Hauptfokus galt dabei der jĂŒngeren Rechtsprechung des EuropĂ€ischen Patentamts und der Novellierung des US-amerikanischen Patentgesetzes.

Die Frage nach dem Stand der Technik mag auf den ersten Blick trivial erscheinen. Die VortrĂ€ge von Robert Cramer, Dr. Julius S. Cohen und Alan J. Kasper zeigten in der Folge aber einige SpezialitĂ€ten und Fallstricke auf, die in der Praxis leicht ĂŒbersehen werden könnten.

In seinem Vortrag unter dem Titel «The term â€čavailable to the publicâ€ș in light of recent decisions of the EPO» berichtete Robert Cramer, Mitglied der juristischen Beschwerdekammern des EuropĂ€ischen Patentamts, ĂŒber jĂŒngere Entscheidungen der technischen Beschwerdekammern, die Fragen in Zusammenhang mit dem Stand der Technik betrafen.

In seine Berichte liess Herr Cramer immer wieder Schilderungen seiner eigenen Erfahrungen einfliessen. Gerade bei der Beurteilung von Zeugenaussagen scheinen die Beschwerdekammern einen kritischen Massstab anzulegen, wenn es darum geht, die GlaubwĂŒrdigkeit von Aussagen ĂŒber teilweise viele Jahre zurĂŒckliegende Geschehnisse zu bewerten.

GemĂ€ss Artikel 54(2) EPÜ bildet den Stand der Technik alles, was vor dem Anmeldetag der europĂ€ischen Patentanmeldung der Öffentlichkeit durch schriftliche oder mĂŒndliche Beschreibung, durch Benutzung oder in sonstiger Weise zugĂ€nglich gemacht worden ist. Daraus ergibt sich, dass der Stand der Technik alle Kenntnisse umfasst, die vor dem Anmeldetag in irgendeiner Weise der Öffentlichkeit zugĂ€nglich gemacht worden sind.

Durch das Internet und die modernen Kommunikationstechnologien wurde eine Vielzahl neuer Möglichkeiten geschaffen, erfindungsrelevante Informationen zu veröffentlichen. Zum einen bieten Internetseiten eine bequeme Plattform, Erfindungen zum Zwecke einer Defensiv-Veröffentlichung rasch, kostengĂŒnstig und administrativ einfach zugĂ€nglich zu machen. Zum anderen haben neue papierlose Kommunikationswege wie E-Mail, Twitter, Skype, Blogs, Chatrooms, Videoportale (z.B. youtube) oder Profilseiten (z.B. Facebook) viele weitere KanĂ€le fĂŒr eine – gewollte oder ungewollte – Verbreitung von Informationen eröffnet.

Allerdings bestehen zwischen elektronischen Dokumenten, wie etwa Webseiten, und herkömmlichen schriftlichen Dokumenten grundlegende Unterschiede, weshalb Veröffentlichungen im Internet im Hinblick auf ihre Zurechnung zum Stand der Technik diverse Fragen zur Beweislast und des zu fordernden Beweismassstabes aufwerfen: WĂ€hrend herkömmliche schriftliche Dokumente der unmittelbaren Betrachtung zugĂ€nglich sind, erfordern elektronische Dokumente, die auf einem DatentrĂ€ger abgespeichert sind, GerĂ€te zur Auslesung und zur Darstellung des Inhalts. Ausserdem sind Änderungen an elektronischen Dokumenten hĂ€ufig und weniger leicht zu erkennen als bei einem herkömmlichen Dokument, insbesondere da VorgĂ€ngerversionen von Internetseiten im Gegensatz zu Ă€lteren Auflagen eines Buches in der Regel nicht mehr auffindbar sind. So kann es unter UmstĂ€nden schwierig oder gar unmöglich sein, zu einem spĂ€teren Zeitpunkt den genauen Inhalt und das genaue Datum der Veröffentlichung zu beweisen.

Der zweite Vortrag des Herbstseminars befasste sich mit elektronisch offenbartem Stand der Technik. Dr. Julius S. Cohen, EuropĂ€ischer Patentanwalt bei Philips International B.V., lieferte einen lebhaften Bericht ĂŒber die im Rahmen einer durch die Confederation of Netherlands Industry and Employers (VNO-NCW) initiierten Zusammenarbeit von AkzoNobel, DSM, Shell und Philips konstruierten FĂ€lle zum Stand der Technik aus E-Mails bzw. Internet, die schliesslich zu den grundlegenden Entscheidungen T 1553/06 und T 2/09 der Beschwerdekammern des EuropĂ€ischen Patentamts fĂŒhrten.

Dank seiner aktiven Rolle bei der DurchfĂŒhrung konnte Dr. Cohen diese TestfĂ€lle aus erster Hand prĂ€sentieren, von der ursprĂŒnglichen Idee und Planung ĂŒber die Ausarbeitung der Patentanmeldungen und E-Mail- bzw. Internet-«Publikationen» bis hin zu den Erteilungs-, Einspruchs- und Beschwerdeverfahren.

In den vorgestellten Entscheidungen T 1553/06 und T 2/09 kam die Technische Beschwerdekammer zum Schluss, dass die ZugĂ€nglichkeit von Internetveröffentlichungen und Printmedien grundsĂ€tzlich unterschiedlich zu beurteilen seien: Anders als bei physischen Dokumenten kann in Bezug auf Internetveröffentlichungen nach Meinung der Kammer die rein theoretische Möglichkeit des Zugangs keine Zugehörigkeit zum Stand der Technik begrĂŒnden. Vielmehr ist ein direkter, eindeutiger Zugang gefordert. Ein solcher liege im Wesentlichen dann vor, wenn ein Dokument im Internet

  • – durch Eingabe eines in Bezug auf den Inhalt des Dokuments relevanten Suchbegriffs in eine öffentliche Suchmaschine auffindbar ist, und
  • – «ausreichend lange» online verfĂŒgbar ist, um von einem Mitglied der Öffentlichkeit gefunden werden zu können.

In Bezug auf die ZugĂ€nglichkeit von per E-Mail versandten Informationen vertrat die Beschwerdekammer die Meinung, dass E-Mails nicht per se zum Stand der Technik gehören, unabhĂ€ngig davon, ob sie verschlĂŒsselt sind oder nicht.

In der anschliessenden Diskussion wurde deutlich, dass mit den vorgestellten Entscheidungen T 1553/06 und T 2/09 das Thema Internetveröffentlichungen keineswegs abschliessend beurteilt werden konnte, sondern vielmehr Anlass gibt fĂŒr weiterfĂŒhrende Fragen. So wurde von den Anwesenden etwa die Frage aufgeworfen, wie lange ein Dokument nachweislich auffindbar sein muss, damit das Kriterium der «ausreichend langen» VerfĂŒgbarkeit erfĂŒllt ist. Weiterer Diskussionspunkt war unter anderem die unterschiedlichen MassstĂ€be fĂŒr die Zugehörigkeit zum Stand der Technik, die fĂŒr Veröffentlichungen im Internet gegenĂŒber gewöhnlichen Printmedien angewendet werden.

FĂŒr traditionelle Papierveröffentlichungen gilt nach etablierter Rechtsprechung, dass eine öffentliche ZugĂ€nglichkeit bereits dadurch begrĂŒndet wird, dass lediglich ein einziges Mitglied der Öffentlichkeit die theoretische Möglichkeit zum Zugang zu einer Information hatte und nicht zur Geheimhaltung verpflichtet war. Die Frage, ob ein Mitglied der Öffentlichkeit besagte Information tatsĂ€chlich je zur Kenntnis genommen hat, ist hingegen irrelevant (siehe z.B. T 381/87; Punkt 4(4)(b) der BegrĂŒndung). Bei Internetveröffentlichungen sollen nun nach Auffassung der Beschwerdekammer andere Anforderungen gelten, wonach diese nicht nur theoretisch, sondern auch «praktisch» auffindbar sein mĂŒssen, um zum Stand der Technik zu zĂ€hlen.

Aus Sicht der Teilnehmer schien es einerseits zwar nachvollziehbar, dass fĂŒr Informationen aus dem Internet eine EinschrĂ€nkung notwendig ist; andererseits muss man sich aber auch damit abfinden, dass der absolute Neuheitsbegriff in Bezug auf das Internet relativiert wird. Diese unterschiedlichen MassstĂ€be bei der Beurteilung der Zurechnung einer Information zum Stand der Technik dĂŒrften in naher Zukunft noch zu einigen kontroversen Diskussionen fĂŒhren, die hoffentlich durch weitere grundlegende Entscheide der Beschwerdekammern geklĂ€rt werden können.

Zum Abschluss des Tages widmete sich Alan J. Kasper, US-Rechtsanwalt, dem Thema «Shifts in the definition of the prior art in the course of the America Invents Act». Dabei ging er insbesondere auf die Übergangsbestimmungen zum AIA sowie auf Ausnahmeregelungen und Besonderheiten ein, was mit Hilfe vieler Beispiel-Szenarien und konkreten Vergleichen zwischen dem AIA und den davor gĂŒltigen Bestimmungen veranschaulicht wurde.

Mit dem America Invents Act wurde das US-amerikanische Patentrecht revolutioniert. Insbesondere wurde damit der Schritt vom «First-to-Invent»- zum «First-to-File»-Prinzip vollzogen. Aber auch andere wichtige Neuerungen, wie die Abschaffung der sogenannten Hilmer-Doktrin oder die Harmonisierung des Stands der Technik mit Europa und Asien, wurden umgesetzt. Die wichtigsten Neuerungen sind in der abgebildeten Tabelle kurz zusammengefasst.

Durch den Übergang vom «Firstto-Invent»- zum «First-to-File»-Prinzip konnte das komplizierte und oft extrem kostenaufwendige Interference-Verfahren, das bisher zur Ermittlung des Erfindungszeitpunkts verwendet wurde, abgeschafft werden. Auch die Ausmusterung der Hilmer-Doktrin per 16. MĂ€rz 2013 fĂŒhrte zu einer weiteren Harmonisierung mit europĂ€ischem Recht: Erst ab diesem Zeitpunkt kann eine nationale US-Anmeldung oder eine Anmeldung mit Bestimmung der USA wirklich vollumfĂ€nglich vom PrioritĂ€tsrecht einer fremdsprachigen auslĂ€ndischen Anmeldung profitieren, sodass eine zwischen dem PrioritĂ€tstag und dem Anmeldetag fĂŒr die USA eingereichte andere US- oder PCT-Anmeldung keinen Stand der Technik mehr bildet.

Vorher: Nachher:
First-to-Invent:

Recht auf Patent gebĂŒhrt dem frĂŒheren Erfinder; Anmeldetag ist irrelevant

First-to-File:

Recht auf Patent gebĂŒhrt dem frĂŒheren Anmelder; Zeitpunkt der Erfindung ist irrelevant

EinjĂ€hrige Neuheitsschonfrist unabhĂ€ngig davon, wer die Erfindung der Öffentlichkeit zugĂ€nglich gemacht hat EinjĂ€hrige Neuheitsschonfrist gilt nur dann, wenn die Erfindung vom Erfinder selbst der Öffentlichkeit zugĂ€nglich gemacht wurde oder von jemandem, der direkt oder indirekt vom Erfinder davon erfahren hat
Hilmer-Doktrin:

US-Patentanmeldungen und Erfindungen, die in den USA gemacht wurden, werden gegenĂŒber solchen im Ausland bevorzugt; Vorbenutzung im Ausland gilt nicht als Stand der Technik; US-Anmeldungen mit auslĂ€ndischer PrioritĂ€t bilden erst ab dem US-Anmeldetag Stand der Technik

Ausweitung der Definition des Stands der Technik:

Keine sprachliche und geografische EinschrĂ€nkungen mehr; Vorbenutzung und sonstige ZugĂ€nglichmachung ist Stand der Technik; auslĂ€ndische PrioritĂ€t ergibt effektiven Anmeldetag; dafĂŒr TĂ€tigkeit im Geheimen nicht mehr relevant

Ein wichtiger Unterschied zum EuropĂ€ischen PatentĂŒbereinkommen bleibt jedoch auch weiterhin bestehen: Nachveröffentlichter Stand der Technik mit einem frĂŒheren effektiven Anmeldetag wird in den USA nicht nur fĂŒr die Frage der Neuheit, sondern auch der erfinderischen TĂ€tigkeit beachtet. Allerdings wird die erfinderische TĂ€tigkeit nach dem AIA nun nicht mehr zum Zeitpunkt der Erfindung («at the time the invention was made») sondern des effektiven Anmeldetags («before the effective date of the claimed invention») beurteilt. Eine gewisse AnnĂ€herung hat also auch hier bereits stattgefunden.

Daneben wurde auch die Neuheitsschonfrist durch den AIA beibehalten – wenn auch in beschrĂ€nkter Form. Eine Eigenheit der Neuheitsschonfrist gemĂ€ss USC § 102(b)(1)(A) und (B) liegt zum Beispiel darin, dass im Falle zweier unabhĂ€ngiger Erfinder, die dieselbe Erfindung weniger als 12 Monate vor dem jeweiligen Anmeldetag veröffentlicht haben, derjenige ein Patent erhĂ€lt, der die Erfindung zuerst öffentlich gemacht hat, und nicht derjenige mit dem frĂŒheren Anmeldetag. Dies gilt aber natĂŒrlich nur im Umfang dessen, was tatsĂ€chlich veröffentlicht wurde.

Der America Invents Act wurde am 16. September 2011 in Kraft gesetzt und beinhaltet eine Übergangsfrist von 18 Monaten, also bis zum 16. MĂ€rz 2013. US- oder PCT-Anmeldungen mit Bestimmung der USA, die vor diesem Datum eingereicht wurden, fallen noch unter das alte Regime; Anmeldungen mit PrioritĂ€ts- und Anmeldetag nach diesem Datum unterliegen dem AIA. Richtig komplex wird es bei solchen Anmeldungen, deren PrioritĂ€tstag im Ausland vor dem 16. MĂ€rz 2013 und deren US-Anmeldetag danach liegt: Hier kommt es darauf an, ob sĂ€mtliche AnsprĂŒche tatsĂ€chlich prioritĂ€tsberechtigt sind oder nicht. Nur dann, wenn dies auf alle AnsprĂŒche zutrifft – und unabhĂ€ngig davon, was sonst noch in der Anmeldung enthalten ist – kommen die frĂŒheren Bestimmungen zur Anwendung, unter anderem das «First-to-Invent»-Prinzip. Das HinzufĂŒgen oder Ändern eines Anspruchs kann also dazu fĂŒhren, dass die Bestimmungen gemĂ€ss AIA zur Anwendung kommen oder nicht. Zudem muss der Anmelder in FĂ€llen, bei denen die PrioritĂ€tsberechtigung nicht offensichtlich ist, ein entsprechendes Statement abgeben. Die Auswirkungen eines zu Unrecht abgegebenen oder unterlassenen Statements sind zum jetzigen Zeitpunkt noch völlig unklar, dĂŒrften aber angesichts der Rechtstradition in den USA durchaus heikel sein.

Mit dem AIA wurde ein neues Vindikationsverfahren, sog. «Derivation Proceedings», eingefĂŒhrt. Ein solches kann nur von jemandem beantragt werden, der selbst eine eigene anhĂ€ngige Patentanmeldung zur fraglichen Erfindung besitzt, und dies nur innerhalb von einem Jahr ab der ersten Veröffentlichung der Streitanmeldung. Der Antrag ist jedoch selbst dann zulĂ€ssig, wenn die eigene Anmeldung erst nach dem Veröffentlichungstag der Streitanmeldung eingereicht worden ist. Der Antragsteller muss fĂŒr jeden Anspruch belegen, wann die Erfindung gemacht wurde, dass der andere Anmelder Zugang dazu hatte und dass die Anmeldung unberechtigt erfolgt ist. Zudem muss er mit einer eidesstattlichen ErklĂ€rung bekrĂ€ftigen, dass die Erfindung dem anderen Anmelder mitgeteilt wurde. Dieses letzte Erfordernis dĂŒrfte oft die grösste HĂŒrde darstellen.

Die VortrĂ€ge und Diskussionen zur Rechtslage in Europa haben vor allem deutlich gemacht, dass bei der Beurteilung der Zurechnung einer Information zum Stand der Technik auch immer die speziellen UmstĂ€nde des Einzelfalls berĂŒcksichtigt werden mĂŒssen. Was dieser «Grundsatz der freien BeweiswĂŒrdigung» in der Praxis bedeutet, wurde von Robert Cramer mit einer Anekdote aus der Entscheidung T 229/06 auf den Punkt gebracht: Diese Entscheidung befasste sich mit der Frage, ob ein Kellner, der beim Bedienen zweier GesprĂ€chspartner Kenntnis von einer Erfindung hĂ€tte erlangen können, als Mitglied der Öffentlichkeit i. S. d. Art. 54(2) EPÜ zu betrachten ist. Die Frage wurde von der Kammer verneint, mit der BegrĂŒndung, dass eine Bedienung in einem «besseren Lokal» zur Diskretion gegenĂŒber den GĂ€sten und damit zur impliziten Geheimhaltung verpflichtet sei.

Daneben hat das diesjĂ€hrige Herbstseminar auch verdeutlicht, dass insbesondere in Bezug auf den anzulegenden Massstab der BeweiswĂŒrdigung bei elektronischem Stand der Technik noch viel KlĂ€rungsbedarf besteht.

Mit dem America Invents Act und insbesondere der EinfĂŒhrung des «Firstto-File»-Prinzips und der Abschaffung der Hilmer-Doktrin hat die USA einen wichtigen Schritt in Richtung einer Harmonisierung der westlichen Patentsysteme unternommen. Fragen betreffend Neuheitsschonfrist und Relevanz von nachveröffentlichtem Stand der Technik dĂŒrften in Zukunft aber noch zu weiteren kontroversen Diskussionen fĂŒhren.

Fussnoten:
*

Dr. sc., Dipl. Chem. ETH, EuropĂ€ische und Schweizer PatentanwĂ€ltin, ZĂŒrich.

**

MSc ETH, Patentingenieurin, ZĂŒrich.