Die diesjährige, wiederum von Michael Ritscher konzipierte und geleitete sowie von Christoph Gasser organisierte INGRES-Tagung zur Praxis des Immaterialgüterrechts in der Schweiz fand wieder in alter Frische als persönliche (und auch virtuell zugängliche) Veranstaltung mit fast 200 Teilnehmerinnen und Teilnehmern im Lake Side Zürich statt. Die Teilnehmerschaft setzte sich aus Vertretern von Gerichten und Behörden, Hochschuleinrichtungen sowie der Anwaltschaft und Wirtschaft zusammen.
Le colloque INGRES de cette année sur la pratique en matière de droit de la propriété intellectuelle en Suisse, à nouveau conçu et dirigé par Michael Ritscher et organisé par Christoph Gasser, s’est déroulé avec le même dynamisme qu’à l’accoutumée. Également accessible virtuellement, il s’est tenu au Lake Side de Zurich et a réuni près de 200 participants. L’assistance était composée de représentants des tribunaux et des autorités, d’établissements de l’enseignement supérieur ainsi que du barreau et de l’économie.
Synthia Bastron,
MLaw, LL.M., Zürich.
Lara Burkhalter,
MLaw, LL.M., Zürich.
Rachel Pawlik,
M.A. HSG in Law.
Torben Müller, Patentanwalt in Basel, präsentierte zwei Urteile des Bundespatentgerichts (BPatGer), die in der Folge an das Bundesgericht (BGer) weitergezogen wurden.
Das BPatGer würdigte im Entscheid «Injektionspen» (BPatGer vom 9. Juni 2021, O2020_001), ob anlässlich einer verbalen Einschränkung ein Merkmal unzulässig aus seinem Kontext herausgegriffen wurde und dabei einen gegenüber der ursprünglichen Offenbarung breiteren Schutz beanspruchte. Das BPatGer analysierte, wo das Merkmal in der ursprünglichen Anmeldung offenbart wurde, und kam zum Ergebnis, dass sich einzig aus dem Ausführungsbeispiel eine Offenbarung ergab. Allerdings, so das BPatGer, war dieses Merkmal funktional und strukturell untrennbar mit den anderen Merkmalen verbunden. Der Einwand der Patentinhaberin, dass es grundsätzlich auch andere funktionelle Lösungen gebe, wurde vom BPatGer als nicht massgeblich erachtet, weshalb es letztlich beschloss, dass das isoliert herausgegriffene Merkmal unzulässig ist. Das Urteil wurde vom BGer bestätigt. Insbesondere hielt das BGer fest, dass es nicht darauf ankommt, ob das Merkmal erfindungswesentlich ist, was die Patentinhaberin ohnehin nicht aufzeigen konnte.
Das Urteil «Sägeblätter» (BPatGer vom 30. August 2021, O2019_012) beschäftigte sich ebenfalls mit dem Thema des isolierten Herausgreifens, allerdings in Form einer kaskadenartigen Beschreibung der Einschränkungen betreffend das Produkt, insbesondere betreffend das Sägeblatt und dessen Elemente. Die Beklagte behauptete, dass eine Kaskade von vorteilhaften und vorzugsweisen Einschränkungen existiere, beginnend mit «sternartig» und dann «vorzugsweise in Form eines sternförmigen Polygons», gefolgt von «vorzugsweise (wurde interpretiert als eine weitere Einschränkung) mit Abrundungen». Die Beklagte versuchte, geltend zu machen, dass die Abrundungen nur im Kontext von «sternartig» offenbart sind, weil durch die darauffolgenden Worte «insbesondere, vorzugsweise, vorzugsweise» eine Kaskadierung oder eine Konkretisierung der Merkmale vorgenommen wird. Das BPatGer stellte klar, dass eine Kaskade grundsätzlich einen funktionellen strukturellen Zusammenhang begründen kann, kam aber gleichzeitig zum Schluss, dass vorliegend nicht eindeutig eine Kaskade vorliegt, da die benutzten Wörter «vorzugsweise» und «sternartig» auf gleiche oder unterschiedliche Ebenen deuten können. Aufgrund des unklaren Wortlauts hielt das BPatGer fest, dass die Abrundungen grundsätzlich andere Merkmale betreffen als die Antriebsflächen selbst, weshalb es im Ergebnis festhielt, dass aufgrund eines entsprechenden Hinweises in der Beschreibung die Abrundungen auch auf andere Formen übertragbar sind, weshalb das Merkmal mit den Abrundungen auch isoliert herausgegriffen werden kann.
Müller wies darauf hin, dass es für die Praxis des Patentanwalts von Bedeutung ist, dass Offenbarungen in die Beschreibung aufgenommen werden und Pointer gesetzt werden, um auf die Kombinierbarkeit von Merkmalen hinzuweisen und so separate Ansprüche klar darzustellen. Bezüglich Art. 229 ZPO und des Nachreichens von Patentansprüchen nach Aktenschluss gilt, dass es sich hierbei um einen neuen Sachverhalt handelt. Im konkreten Fall (ebenfalls Urteil «Sägeblätter») wurde festgestellt, dass die Klägerin fälschlicherweise einen Textabschnitt gestrichen hatte, aber ausnahmsweise eine nachträgliche Korrektur zugelassen werden konnte, da sich aus anderen Stellen der klare Hinweis eines Fehlers ergab. Dieser Auffassung folgte auch das BGer. Abschliessend fragte Müller anhand der zwei dargestellten Entscheide kritisch, ob sich damit Tor und Tür für nachträgliche Änderungen nach Aktenschluss öffne.
Julian Schwaller, Rechtsanwalt in Zürich, fokussierte sich in seinem Vortrag auf Entscheide zu den Themen des Teilverzichts, des Novenrechts, der materiellen Rechtskraft und der Zollhilfe.
Der erste Themenblock begann mit dem Thema der Einschränkung von Patenten in einer späten Phase des Prozesses und der Frage, ob es zulässig ist, das Patent in eingeschränkter Fassung zur Verteidigung von Nichtigkeitsangriffen zu verwenden. Die zentrale Norm hierzu ist Art. 229 ZPO und die Unterscheidung zwischen echten und unechten Noven. Der Entscheid (BGE 146 III 416 – «Gelenkpfanne») unterscheidet sich von den anderen präsentierten Entscheiden, dass nicht nur eine Verbaleinschränkung mit Wirkung zwischen den Parteien des Prozesses erklärt wurde, sondern, dass nach Abschluss des zweiten Schriftenwechsels ein Fachrichtervotum zur Stellungnahme vorgelegt wurde und die Patentinhaberin anschliessend einen Antrag auf Teilverzicht beim IGE gestützt auf Art. 24 PatG einreichte. Sie beabsichtigte damit, in einer späteren Phase – mit Stattgabe des IGE – das eingeschränkte Patent als echtes Novum ins Verfahren einzubringen. Das BPatGer liess dieses Vorgehen zu. Der Entscheid des BPatGer wurde allerdings vom BGer wieder aufgehoben. Das BGer räumte zwar ein, dass es bei der Auslegung von Art. 229 ZPO auf den Entstehungszeitpunkt des Novums ankomme, aber bei einer wörtlichen Auslegung dieser Bestimmung der Eventualmaxime zu wenig Beachtung geschenkt würde. Hinzu kommt, dass ein Teilverzicht nach Aktenschluss ein sog. Potestativ-Novum ist, dessen Entstehung allein vom Willen der Patentinhaberin abhängt. Laut BGer resultiert daraus, dass ein Teilverzicht nur unter den Voraussetzungen eines unechten Novums in das Verfahren eingebracht werden kann. I.c. war der Teilverzicht zwar zu spät, wurde aber vom BPatGer dennoch berücksichtigt, weil das Patent in der ursprünglichen Fassung untergegangen war. Das BGer argumentierte, dass einerseits die eingeschränkte Fassung des Patents nicht mehr in das Verfahren eingebracht worden war und anderseits kein Entscheid auf Basis eines untergegangenen Patents gefällt werden konnte, weshalb ein Abschreibungsentscheid zu ergehen hatte. Im Ergebnis, und weil es sich nur um ein Prozessurteil handelt, kann nachträglich ein zweiter Patentverletzungsprozess auf Basis des eingeschränkten Patents geführt werden.
Der jüngste BGer Entscheid (BGer vom 31. Januar 2022, 4A_500/2021) behandelte ebenfalls die Stellungnahme zum Fachrichtervotum mit der Besonderheit, dass gleichzeitig ein Sistierungsantrag der Patentinhaberin gestellt wurde. Diese argumentierte, dass parallel ein Einspruchsverfahren vor dem EPA hängig sei und dort das Patent möglicherweise nur in einer eingeschränkten Fassung erhalten bleibe. Das Ziel war, das Verfahren bis zum Abschluss des Einspruchsverfahrens zu sistieren, sodass das eingeschränkte Patent noch im schweizerischen Prozess eingebracht werden kann. Das BPatGer lehnte den Sistierungsantrag ab und fällte das Urteil, ohne das Verfahren vor dem EPA abzuwarten. Das BGer führt hierzu aus, dass ein Verfahren nur ausgesetzt werden kann, wenn die Gültigkeit eines europäischen Patents strittig ist und wenn eine Partei nachweist, dass ein Einspruch noch möglich oder bereits erhoben ist und dieses Verfahren noch hängig ist. Die Norm bezweckt zu verhindern, dass die potenzielle Verletzerin zu einer finanziellen Wiedergutmachung auf der Basis eines Patentes verurteilt wird, das nach Abschluss des schweizerischen Patentverfahrens vor dem EPA hinterher widerrufen wird. Es wurde offengelassen, ob es sich tatsächlich um ein echtes oder unechtes Novum handelt. Laut Schwaller lässt sich aber durchaus argumentieren, dass wegen einer noch möglichen Einschränkung durch das EPA diese nicht nur allein vom Willen der Patentinhaberin abhängt und somit nicht wie ein unechtes Novum behandelt werden soll. Des Weiteren stellte das BGer klar, dass für den Fall, dass das Schweizer Verfahren nicht sistiert wird, es nicht wegen der materiellen Rechtskraft verwehrt bleibt, eine zweite Verletzungsklage gestützt auf das Patent in der eingeschränkten Fassung zu erheben (= neue Anspruchsgrundlage).
Im zweiten Themenblock referierte Schwaller über die Haftung für Schäden, die durch die Zurückbehaltung von Waren aufgrund von Zollhilfemassnahmen entstehen. Dieses Thema wurde durch das BPatGer erstmals behandelt. Betroffen waren dieselben Parteien wie im Entscheid «Injektionspen», wobei eine Zivilklage auf Basis von Art. 86k Abs. 2 PatG für Schäden durch Zurückbehalten von mit Wirkstoff befüllten Waren erhoben wurde. Wird eine Zollmassnahme beantragt, die bei der Zollverwaltung einen Verdacht auf Patentverletzung begründet, besteht eine Frist von zehn Werktagen, um vorsorgliche Massnahmen zu erwirken. Diese Frist kann einmal erstreckt werden. Wird keine vorsorgliche Massnahme angeordnet, muss der Antragsteller den Schaden ersetzen, der durch das Zurückbehalten der Ware entstanden ist. Das BPatGer hielt fest, dass es sich dabei um eine verschuldensunabhängige Kausalhaftung ohne Exkulpationsmöglichkeit handelt. Es besteht also keine Reduktionsmöglichkeit, und es spielt auch keine Rolle, ob die zurückbehaltende Ware patentverletzend ist oder nicht. Auch die von der Lehre angebrachte Zulässigkeit einer «kurzen» Zurückbehaltung von drei Tagen wurde vom BPatGer verworfen, da hier die Haftung gleichartig greift. Schwaller betonte, dass der Antragsteller möglicherweise mit einer scharfen Kausalhaftung konfrontiert wird, wenn die vorsorgliche Massnahme nicht erteilt oder aufgehoben wird.
Mark Schweizer, Präsident des BPatGer, stellte den Geschäftsbericht 2021 vor. Insgesamt gab es mehr Eingänge im summarischen Verfahren (neun) und gleich viele ordentliche Verfahren (18) im Vergleich zum Vorjahr. Die Einnahmen waren im Jahr 2021 höher (CHF 895'000) als im vorangehenden Jahr (CHF 797'000). Das Defizit (CHF 713'000) sank im Vergleich zum Vorjahr (CHF 777'000) aufgrund der hohen Einnahmen durch die guten Erledigungen etwas. Die Erledigungen im ordentlichen Verfahren (17 resp. 14 im Vorjahr) und summarischen Verfahren (fünf resp. drei im Vorjahr) befanden sich im langjährigen Durchschnitt. Es bestehen 25 Pendenzen im ordentlichen Verfahren (resp. 24 im Vorjahr) und fünf Pendenzen im summarischen Verfahren (resp. eine im Vorjahr). Schliesslich fand das 10-jährige Jubiläum des BPatGer statt, anlässlich dessen eine Tagung zum europäisch harmonisiertem Patentrecht und dem nationalen Patentgericht abgehalten wurde.
Schweizer behandelte die novenrechtliche Problematik in Kontext von Massnahmeverfahren anhand des Urteils «Sorafenibtosylat» (BPatGer vom 26. April 2022, S2021_006), das er als «Gutachterschlacht» – einem Massnahmeverfahren mit 15 Gutachten – titulierte. Die Hauptfrage in diesem Summarverfahren war, welche dieser Gutachten nach dem Novenrecht nach Aktenschluss berücksichtigt werden können und dürfen. Strittig war, ob die Klägerin ihre Nichtigkeitsargumente, die im Übrigen bereits aus Parallelverfahren im Ausland bekannt waren, nicht erst mit der Stellungnahme – da kein zweiter Schriftenwechsel angeordnet wurde – sondern mit dem Gesuch hätte vorbringen können und müssen, womit diese Argumente, vorgebracht mittels Stellungnahme, verspätet eingereicht worden wären. Das Gericht überzeugte dies nicht, denn die Klägerin darf abwarten, welche Argumente im Verfahren vorgebracht werden, um dann kausal darauf zu reagieren. Allerdings führte das Gericht – unter Hinweis auf BGE 146 III 55 E. 2.5.2 «Durchflussmessfühler» – aus, dass später aufgestellte Behauptungen und Beweismittel zu berücksichtigen sind, wenn diese unverzüglich und in Reaktion auf eine zu berücksichtigende Behauptung der Gegenpartei eingereicht werden. Dies – so Schweizer – ist allerdings im Massnahmeverfahren problematisch und wurde hier durch analoge Anwendung der unverzüglichen Reaktion gelöst. Das Diskussionsplenum war sich einig, dass ein Aktenschluss auch in Summarverfahren notwendig und für die Prozessökonomie von Bedeutung ist.
Schliesslich referierte Schweizer zum strittigen Zeitpunkt des Einreichens von Massnahmegesuchen vor Patenterteilung. In beiden diskutierten Entscheiden wurde ein Massnahmegesuch nach der «notice of allowance» (also in Aussichtstellung der Erteilung des EPA), aber vor der «publication of grant» (Veröffentlichung der Erteilung) eingereicht. Im ersten Entscheid (BPatGer vom 4. Januar 2022, S2021_007) reichte allerdings zeitgleich eine Drittpartei eine Abtretungsklage betreffend das Patent mit dem Ziel ein, dass die Erteilung durch das EPA ausgesetzt und das Ergebnis der Abtretungsklage abgewartet wird. Trotz des Versuches auf Grundlage von Art. 72 Abs. 2 PatG – einer mittlerweile aufgehobenen Bestimmung – einen provisorischen Schutz vor Erteilung zu erlangen, scheiterte dies durch Anwendung von Art. 111 PatG, der statuiert, dass die veröffentlichte Patentanmeldung dem Anmelder keinen vorläufigen Schutz nach Art. 64 PatG gewährt, weil es vor Erteilung eines Patents keine vorsorglichen Massnahmen gibt. Folglich werden Erteilungen während längerer Zeit blockiert, und es ist während dieser Zeit unklar, ob die Klägerin überhaupt Patentinhaberin bleibt. Im Ergebnis wurde das Massnahmeverfahren sistiert. Im zweiten Entscheid «Fingolimod» (BPatGer vom 2. Juni 2022, S2022_002) war bedeutend, dass die Einspruchsabteilung am Patentanspruch nichts mehr ändern, sondern nur an den Beschreibungen arbeiten kann. Die Gültigkeit der Patentansprüche können somit nicht mehr in Frage gestellt werden. Es genügte vorliegend, wenn das Patent im Urteilszeitpunkt erteilt ist (wenn dieses als echtes Novum betrachtet wird) bzw. mit einer Erteilung zu rechnen ist. Folglich wurde das Massnahmeverfahren nicht sistiert, sondern weitergeführt, als wäre das Patent erteilt, und die Gesuchstellerin bzw. Patentinhaberin war schliesslich erfolgreich.
Christoph Gasser, Rechtsanwalt in Zürich, präsentierte den von Marc Wullschleger (kurzfristig ausgefallen), Rechtsanwalt in Zürich, ausgewählten und zur Besprechung vorbereiteten Entscheid «Hotelartikel» des Handelsgerichts Zürich (HGer ZH vom 25. Januar 2022Nr. HG210105-O). Die Verfasserin des Artikels «500 Hotels suchen Käufer» reichte Klage wegen Urheberrechtsverletzung gegen die Beklagte ein. Diese publizierte einen Tag nach dem Artikel der Klägerin einen Artikel auf blick.ch, der nicht nur stark am Artikel der Klägerin angelehnt war, sondern auch wesentliche Sätze des ursprünglichen Artikels übernommen hatte. Die Klage wurde vom HGer ZH gutgeheissen. Gasser wies darauf hin, dass die Urheberrechtsverletzung bloss von drei Gerichtsmitgliedern bejaht wurde, während sich eine Minderheit von zwei Gerichtsmitgliedern gegen die Verletzung aussprach und dazu eine Dissenting Opinion verfasste. Offenbar einstimmig bejahten alle Richterinnen und Richter den Werkscharakter des klägerischen Artikels und verneinten die Anwendbarkeit der Schrankenbestimmungen.
Das Gericht beurteilte zunächst, ob es sich beim Artikel der Klägerin um ein Sprachwerk i.S.v. Art. 2 Abs. 2 Bst. a URG handelt, weil insbesondere der Wiedergabe von blossen Tatsachen keinen Werkcharakter zukommt. Für die Erstellung des Artikels wurden gewisse Recherchen im Hintergrund betrieben. Dabei wurden die Ergebnisse nicht ohne Bearbeitung wiedergegeben, sondern selektioniert und zusammengefasst und erst in einem zweiten Schritt in den Artikel integriert. Das Gericht sprach dem Text unter einer Gesamtbetrachtung urheberrechtlichen Schutz zu, hielt allerdings auch fest, dass für journalistische Beiträge ein bescheideneres Schutzniveau besteht. Gasser wies in diesem Zusammenhang darauf hin, dass gemäss Dissentin Opinion die Hürde zur Individualität wohl nur mit Mühe erreicht wurde.
Bei der Beurteilung, ob ein Eingriff in das Urheberrecht seitens der Beklagten vorlag, verglich das Gericht die beiden Artikel und stellte zahlreiche Paraphrasierungen seitens der Beklagten fest. Das Paraphrasieren eines Textes oder wesentliche Teile dessen sei keine eigenständige Neugestaltung, auch dann, wenn die Reihenfolge von Sätzen teilweise umgestellt werde. Die einzelnen Sätze wurden vom Gericht nicht isoliert auf ihre urheberrechtliche Schutzfähigkeit gewürdigt. Gleichwohl stellte das HGer ZH insgesamt 14 Sätze des Werkes der Klägerin den paraphrasierten Sätzen der Beklagten gegenüber, um das Werk in einer Gesamtbetrachtung zu beurteilen und kam zum Schluss, dass sich der Artikel der Beklagten nicht genügend vom Text der Klägerin unterscheidet. Zuletzt prüfte das Gericht die Anwendbarkeit allfälliger Schrankenbestimmungen. In Frage kamen die Berichterstattung über aktuelle Ereignisse (Art. 28 Abs. 2 URG) sowie das Zitatrecht (Art. 25 URG). Da es sich beim Artikel der Beklagten nicht um einen kurzen Ausschnitt des ursprünglichen Artikels handelt und auch keine Quelle über die Urheberschaft angegeben wurde, fiel die Anwendbarkeit von Art. 28 Abs. 2 URG ausser Betracht. Sodann setzt sich der Artikel der Beklagten nicht mit dem Artikel der Klägerin auseinander, sondern übernimmt Letzteren grundsätzlich, womit das Zitatobjekt (Text der Klägerin) nicht als Belegfunktion eingesetzt wurde. Auch der Namen der Verfasserin des ursprünglichen Textes wurde nie erwähnt, weshalb die Beklagte sowohl gegen das materielle wie auch gegen das formelle Zitatrecht verstiess.
In der darauffolgenden Diskussion hob Ritscher hervor, wie selten es sei, dass in der Schweiz eine Dissenting Opinion publiziert wird. Zudem gebe es faktisch keine Entscheide, die den Schutzbereich des Urheberrechts thematisieren – vor allem weil dieser im URG selbst nicht definiert wird. Aus demselben Grund kommentierte Florent Thouvenin, Universität Zürich, dass dem Gericht der seines Erachtens vorliegende Fehlentscheid nur bedingt angelastet werden könne. In diesem Zusammenhang hielt er fest, dass in der Schweiz versucht werde, das Fehlen einer Norm, die den Schutzbereich explizit adressiert, durch Art. 3 URG zu kompensieren. Stattdessen hätte begründet werden müssen, was die Individualität des Textes ausmacht, was jedoch nicht geschehen sei. Gemäss Reinhard Oertli, Rechtsanwalt in Zürich, wurde im Urteil die Tatsache unterstrichen, dass die Klägerin einen massgeblichen Arbeitsaufwand und gute Ideen gehabt hätte, was für die Beurteilung des urheberrechtlichen Schutzes jedoch beides irrelevant sei. Stattdessen hielt er dafür, dass die einzelnen Absätze im Artikel der Beklagten, welche Nacherzählungen vom ursprünglichen Artikel darstellten, mit den Absätzen des Artikels der Journalistin hätten verglichen und bewertet werden müssen. Das Gericht hätte dann zum Schluss kommen können, dass eine Urheberrechtsverletzung bezüglich dieser einzelnen Absätze vorliegt.
Alesch Staehelin, Rechtsanwalt in Zürich, berichtete zunächst zur Judikatur in Bezug auf Softwareschutz und Urheberrecht in der Schweiz. Zuerst widmete sich Staehelin den sog. Schüttelgefässwaagenentscheiden. Zunächst handelte es sich um einen Massnahmenentscheid des Handelsgerichtes St. Gallen (HGer SG vom 24. Januar 2020, HG.2019.32-HGP,), der bestätigte, dass Computerprogramme mit einer gewissen Komplexität i.d.R. urheberrechtlich geschützt sind. Im Entscheid wurden aber auch die Substanziierungsanforderungen bei der Geltendmachung einer Urheberrechtsverletzung an einem Softwareprogramm thematisiert. Der Kläger muss seine Rechtsinhaberschaft am originären Code und die Übernahme konkreter Codeteile glaubhaft machen. Der Fall gelangte sodann ans BGer (BGer vom 22. Septemner 2020, 4A_115/2020). Dieses führte aus, dass bei der Geltendmachung von unerlaubter Verwendung und Weitergabe von neu entwickelter Software davon auszugehen ist, dass ein nicht leicht wiedergutzumachender Nachteil gemäss Art. 93 Abs. 1 lit. a BGG glaubhaft gemacht werden kann.
Staehelin wandte sich danach dem Thema der künstlichen Intelligenz (KI) zu. Laut Staehelin verfolgen die EU und die Schweiz hierzu unterschiedliche Ansätze. Denn ausser sieben Richtlinien des Bundesrates zum Umgang von KI in der Bundesverwaltung gebe es im Schweizer Recht bislang keinen regulatorischen Rahmen. Indessen werde auf die Regelungen im revidierten Datenschutzgesetz verwiesen. Die EU sei hingegen bereits in der Entwurfsphase einer Verordnung über KI-Systeme. Gemäss dieser sollen KI-Systeme sicher, transparent, ethisch, unparteiisch und unter menschlicher Kontrolle sein. Die Verordnung soll zudem eine Definition für KI-System enthalten. Ausserdem werde ein risikobasierter Ansatz angestrebt, indem zwischen drei Arten von KI-Systemen unterschieden wird, basierend auf deren Risiko. Wie bei der DSGVO solle sich die Verordnung auf alle erstrecken, die KI in der EU oder in Bezug auf EU-Bürger einsetzen. Zugleich seien Bussen bei Missachtungen vorgesehen.
Des Weiteren sprach Staehelin über das totalrevidierte DSG, welches am 1. September 2023 in Kraft treten soll. Er hielt fest, dass die im Rahmen der DSGVO bereits ergangen Entscheide in diesem Zusammenhang von Vorteil seien, da sie bei der Revision berücksichtigt werden können. Er führte aus, dass die DSGVO zur Abwehr der Datenverarbeitung durch US-amerikanische Technologieunternehmen erlassen wurde, was sich schliesslich vor allem durch die seit 2018 ergangene Rechtsprechung auszeichne (v.a. Schremms-Entscheide), wobei zurzeit zudem auch Google Analytics in Diskussion stehe. Entscheide aus Österreich und Frankreich sowie Aussagen der niederländischen Datenschutzbehörde liessen darauf schliessen, dass ein rechtlich einwandfreier Gebrauch von Google Analytics nicht mehr möglich sei. Staehelin führte dazu aus, dass Unternehmen, die stets auf dieses Tool angewiesen sind oder es weiterhin benutzen wollen, eine andere Lösung finden oder interne regulatorische Massnahmen treffen müssen, um im Falle einer Überprüfung beweisen zu können, dass sie sich mit der Problematik auseinandergesetzt haben.
Zuletzt sprach Staehelin vom Google v. Oracle Entscheid des US Supreme Court vom 5. April 2021. Oracle warf Google vor, unberechtigt kopierten Computer-Code von Oracles urheberrechtlich geschützten Java-SE-Computerplattform zu verwenden. Konkret ging es um 37 Java-API-Codestellen (mehr als 11'000 Zeilen Code). Java-API von Oracle wird nicht nur von Google, sondern weltweit verbreitet von Programmierern genutzt. Der Supreme Court hatte sodann zu beurteilen, ob die Nutzung des Java-API-Codes von Oracle durch Google eine Urheberrechtsverletzung darstellt und ob allenfalls die «Fair Use» Doctrine die Nutzung rechtfertigt. Bei den kopierten Codezeilen handelt es sich um Teile von Benutzerschnittstellen, sog. API (Application Programming Interface). Durch API können Programmierer vorgefertigte Rechenaufgaben zur Verwendung in ihren eigenen Programmen aufrufen. Weil Computerprogramme primär eine Funktion erfüllen, ist es gemäss Supreme Court schwierig, traditionelle Urheberrechtskonzepte für diese Technologien anzuwenden. Sodann bietet die Fair Use Doctrine ein Korrektiv gegen die Übermonopolisierung von Urheberrecht für Computerprogramme. Aus prozessökonomischen Gründen hielt der Supreme Court zunächst fest, dass der Code grundsätzlich urheberrechtsfähig ist. Im Weiteren widmete er sich dem 4-Faktoren Test der Fair Use Doctrine.
Beim ersten Faktor wird die Art des urheberrechtlich geschützten Werks beurteilt. Als Teil einer Schnittstelle sind die kopierten Zeilen von Natur aus mit nicht urheberrechtlich geschützten Ideen (die Gesamtorganisation der API) und der Schaffung eines neuen kreativen Ausdrucks (des von Google unabhängig geschriebenen Codes) verbunden. Gemäss dem Supreme Court ist API zwar ein Code, aber kein Computerprogramm, da API keine Aufgabe ausführt. Der zweite Faktor befasst sich mit dem Zweck und Charakter (Art) der Nutzung. Der Supreme Court befand, dass das Kopieren kein Selbstzweck darstellt. Die API sollten lediglich genutzt werden, um etwas Neues zu schaffen. Zum dritten Faktor, mit welchem die Menge/Umfang und Wesentlichkeit des verwendeten Teils im Verhältnis zum urheberrechtlich geschützten Werk beurteilt werden, wurde festgehalten, dass die 11.5 Tausend kopierten Zeilen bloss 0.4% des API ausmachen. Der letzte Faktor beurteile die Auswirkungen der Nutzung auf dem potenziellen Markt. Die neue Smartphone-Plattform von Google stelle kein Marktersatz für Java SE dar. Oracle würde sogar von der Neuimplementierung ihrer Schnittstelle profitieren. Schliesslich würde die Durchsetzung des Urheberrechts auf der Grundlage dieser Tatsachen die Gefahr bergen, dass der Öffentlichkeit «kreativitätsbezogene Schäden» entstehen. Es wurde deshalb keine Urheberrechtsverletzung erkannt. In der Dissenting Opinion äusserte Justice Thomas, dass drei der Faktoren eigentlich gegen Google sprechen und insbesondere sowohl qualitativ als auch quantitativ erhebliche Code-Teile kopiert wurden. Gemäss Staehelin hätte aber eine Durchsetzung der Urheberrechte von Oracle zu weltweiten Konsequenzen geführt. Es werde vermutet, dass ca. 70% der Smartphones hiervon betroffen gewesen wären, was zu enormen Schadenersatzklagen geführt hätte.
Staehelin führte aus, dass in der Schweiz die Schützbarkeit von APIs (Schnittstellen) in einem Entscheid vom BVGer vom 18. Dezember 2018 diskutiert wurde. Gemäss dem BVGer befinden sich Softwareschnittstellen an den Übergängen der technischen Verbindungen, die benötigt werden, um die wechselseitige Interaktion zwischen den verschiedenen Komponenten eines IT-Systems zu ermöglichen. Zwecks Verbindung müssen Schnittstellen entweder besondere Computerprogramme, in Form eigenständiger Funktionsprogramme oder als besondere Teile von Computerprogrammen ausgestaltet sein. In den allermeisten Fällen ist eine Schnittstelle kein eigenständiges Computerprogramm, sondern Bestandteil eines urheberrechtlich geschützten Computerprogrammes. Die Frage, die sich stellte, war, ob eine Schnittstelle selbst urheberrechtlich geschützt werden kann. Grundsätzlich befand das BVGer, dass Schnittstellen nur dann urheberrechtlich geschützt sind, wenn diese selbst über eine ausreichende schöpferische Individualität verfügen. Gemäss BVGer ist nach überwiegender Ansicht eine ausreichende schöpferische Individualität bei Schnittstellen nicht gegeben, da es sich dabei bloss um Ideen und Grundsätze der Interoperabilität handelt, denen der Urheberrechtsschutz verwehrt ist. Staehelin erwähnte sodann, dass Schnittstellendefinitionen grundsätzlich nicht als Computerprogramme geschützt seien, da sie nicht direkt ausführbar, sondern bloss eine Ansammlung von unstrukturierten Daten seien.
In der anschliessenden Diskussion hielt Ritscher fest, dass die Merger Doctrine auch in der Schweiz existiere, da diese in der WIPO Copyright Convention in Art. 2 enthalten sei, weshalb er bezweifle, dass APIs keine Programme sind, immerhin könnten sie auch eine Funktion erfüllen. Darin liege eine Funktion eines aktiven Programmes und keine passive Schnittstelle. Sodann fragte Beat Weibel, Patentanwalt in München, Staehelin, wie die Tatsache zu beurteilen sei, wenn Computerprogramme automatisch generiert, indem mehrheitlich bereits bestehende Codeblöcke zusammenfügt werden. Es stelle sich somit die Frage, ob das Programm dann noch urheberrechtlichen Schutz geniesse. Staehelin hielt fest, dass in den allermeisten kontinentaleuropäischen Rechtsordnungen und in den USA ein menschliches Element benötigt werde, um Urheberrechtsschutz zu bejahen, weshalb in den genannten Beispielen von Weibel, wahrscheinlich argumentiert werden müsse, ein menschlicher Input sei im Output der Maschine erkennbar.
Sylvia Anthamatten, Rechtsanwältin in Zürich, stellte zwei relevante Bundesgerichtsentscheide im Kennzeichenrecht vor.
Zunächst präsentierte Anthamatten den neusten «Nespresso-Entscheid» (BGE 147 III 517), der sich mit der Formmarke der Kaffeekapsel befasste. Nachdem bereits das Kantonsgericht Waadt zum Beschluss kam, dass kein Markenschutz besteht, da es sich um Zeichen im Gemeingut handelt (Art. 2 lit. a MSchG), kam nun auch das BGer zum selben Ergebnis, wenn auch mit einer anderen Begründung. Das BGer stützte sich bei seiner Argumentation auf die technische Notwendigkeit (Art. 2 lit. b MSchG) der Kapselform, welche es mittels des Alternativformtests prüfte. Dabei muss eine Alternativlösung gleichwertig sein, darf keine höheren Herstellungskosten mit sich bringen und muss sich genügend vom ursprünglichen Produkt unterscheiden. Das BGer stellte sich auch der Frage der Notwendigkeit der Kompatibilität von Konkurrenzprodukten mit den Maschinen von Nespresso. Anthamatten führte aus, dass widersprüchliche Rechtsprechung dazu existiere, ob das Interesse, kompatible Ersatzteile anzubieten, eine technische Notwendigkeit begründen kann. Das BGer bejahte im vorgestellten Entscheid die Frage der Kompatibilität, da das Interesse der Verbraucher an einem Wettbewerb zwischen mit Nespresso-Maschinen kompatiblen Kapseln offenkundig sei, und verwies dabei auf den hohen Preis der Kapseln und den niedrigen Preis der Maschine. Das BGer kam schliesslich zum Ergebnis, dass es keine zumutbaren Alternativlösungen gibt, die für die Konkurrenten keine Nachteile mit sich bringen und sich genügend von den Nespresso-Kapseln unterscheiden. Anthamatten fasste zusammen, dass dieser Entscheid aus wettbewerbspolitischer Sicht im Ergebnis die gewünschte Wirkung erreiche. Sie stellte jedoch in Frage, ob das Markenrecht geeignet ist, um Fragen rund um eine Systemmonopolisierung abzuhandeln.
Anschliessend präsentierte Anthamatten den Entscheid des BGer zum markenrechtlichen Streit zwischen dem internationalen Fussballverband FIFA und dem Sportartikelhersteller Puma im Zusammenhang mit der bevorstehenden WM 2022 (Fussball-Weltmeisterschaft 2022) in Qatar (BGer vom 6. April 2022, 4A_518/2021 und 4A_526/2021). FIFA klagte auf Nichtigkeit der zwei Marken von Puma mit den Inhalten «PUMA WOLRD CUP QATAR 2022» und «PUMA WORLD CUP 2022» mit der Begründung, die Marken seien irreführend. Daraufhin erhob Puma Widerklage gegen die beiden von FIFA hinterlegten Marken «QATAR 2022» und «WORLD CUP 2022» wegen Gemeingutcharakters. Das HGer ZH wies beide Klagen ab, woraufhin beide Parteien Beschwerde beim BGer erhoben. Das BGer hielt fest, dass die Zeichenbestandteile «WOLRD CUP QATAR 2022» und «WORLD CUP 2022» bei den angesprochenen Verkehrskreisen die Erwartung einer besonderen Beziehung zwischen Puma und der Veranstalterin der WM weckt. Mangels tatsächlicher Beziehung zwischen der Veranstalterin der WM und Puma werden die massgeblichen Verkehrskreise in ihren geweckten Erwartungen enttäuscht. Das BGer ordnete deshalb die Löschung der beiden irreführenden Marken von Puma an. Die Frage, ob sich PUMA durch die reine Benutzung von «PUMA WOLRD CUP QATAR 2022» und «PUMA WORLD CUP 2022» auch unlauter im Sinne des UWG verhält, lies das BGer offen, und es wies die Sache in dieser Frage zurück an die Vorinstanz. Betreffend die beiden Marken der FIFA hielt das BGer fest, dass die Beurteilung von Eventmarken den allgemeinen Bestimmungen unterliegt und keine geringeren Anforderungen gelten. Es folgerte daraus, dass die beiden FIFA-Marken für die Sportveranstaltung selbst als auch für die mit ihrer Durchführung verbundenen Waren und Dienstleistungen unmittelbar beschreibend sind. Das Publikum verbinde die Marken mit dem Sportereignis als solchem und sehe darin keinen Hinweis auf deren Veranstalter bzw. die Herkunft der damit bezeichneten Produkte. Die beiden Marken der FIFA sind deshalb laut BGer mangels originärer Unterscheidungskraft als Marken nicht schutzfähig und aus dem Markenregister zu löschen.
Abschliessend bemerkte Anthamatten, dass ein gewisser Widerspruch zwischen den Feststellungen im Entscheid zur Hauptklage und dem zur Widerklage bestehe Die Feststellung des BGers im Rahmen der Hauptklage weisen auf die grosse Bekanntheit der WM hin, sodass eine Bezugnahme von Pumas Marken auf die Veranstaltung selbst ausser Frage stehe. Gleichzeitig gehe es davon aus, dass bei FIFA Marken kein Bezug zur Veranstalterin der WM gemacht wird.
Eric Meier, Vizedirektor und Leiter Abteilung Marken & Designs beim IGE, berichtete über Aktuelles aus dem Markenbereich des IGE. Meier referierte zunächst über die neue Praxis im Bereich der geografischen Einschränkung von Waren- und Dienstleistungslisten mit Herkunftsangaben, die im März 2022 in Kraft trat. Zuvor galt noch, dass bei Marken mit Herkunftsangabe die Waren- und Dienstleistungsliste grundsätzlich eingeschränkt werden musste. Der neue Ansatz stellt einen Paradigmenwechsel von der abstrakten zur offensichtlichen Irreführungsgefahr dar. Damit wird die deutsche bzw. die Praxis vom EUIPO übernommen. Als Gründe für die Praxisänderung nannte Meier insbesondere die Änderung der internationalen Gegebenheiten, die fehlende Voraussehbarkeit der Entscheide und die Komplexität der alten Praxis. Zu beachten bleibe, dass die Praxisänderung den Schutzausschlussgrund der Zugehörigkeit zum Gemeingut nicht tangiert. Herkunftsangaben und geografische Angaben in Alleinstellung bzw. mit weiteren nicht unterscheidungskräftigen Elementen seien unverändert von der Markeneintragung ausgeschlossen. Die Umsetzung der neuen Praxis verläuft gemäss Meier seitens des IGE sehr gut.
Anschliessend stellte Meier die laufenden Projekte im Bereich Richtlinien und Markenpraxis vor. Gemäss Meier prüft das IGE weitere Vereinfachungsmöglichkeiten bei den Herkunftsangaben, bei durch spezielle Gesetze geschützten Zeichen (z.B. Wappenschutzgesetz) und bei der Prüfung von Waren- und Dienstleistungslisten. Des Weiteren würden die IGE-Richtlinien für Marken, Designs und Patente harmonisiert und die materiellen Richtlinien in Markensachen aktualisiert, wobei ein Inkrafttreten bis Mitte 2023 angestrebt ist. Zudem wirke das IGE an diversen Projekten des Konvergenzprogramms EUIPO mit.
Meier berichtete weiter, dass die Genfer Akte des Lissabonner Abkommens über Ursprungsbezeichnungen und geografische Angaben seit dem 1. Dezember 2021 in Kraft ist. Mit der Genfer Akte wurde ein System geschaffen, das die vereinfachte internationale Registrierung von Ursprungsbezeichnungen und geografischen Angaben ermöglicht. Beim IGE seien bisher drei Gesuche um internationale Registrierung eingereicht worden, wovon zwei an die WIPO weitergeleitet (AOP «Tête de Moine» und AOC «Valais/Wallis») wurden. Die Mitgliedstaaten der Genfer Akte, hätten nun ein Jahr Zeit, um eine allfällige Schutzverweigerung zu erlassen. Das IGE selbst habe bereits sieben erste Schutzgewährungen erteilt und im Bundesblatt wurden über 454 internationale Registrierungen publiziert.
Meier berichtete, dass es trotz der Pandemie einen Rekord an Markeneintragungsgesuchen im letzten Geschäftsjahr in der Höhe von 36'168 gab. Insbesondere verzeichnet das IGE eine massive Zunahme an internationalen Markenregistrierungen. Meier geht davon aus, dass sich die Markeneintragungsgesuche in Zukunft auf einem hohen Niveau stabilisieren werden, und erwartet im Geschäftsjahr von Juli 2021 bis Juni 2022 einen erneuten Rekord mit knapp 38'000 Registrierungen. Bezüglich der Behandlungsfristen versuche das IGE die Prüfungsfristen bei Schweizer Markenanmeldungen zu kürzen. Die Erstprüfungsfrist sei bereits um zwei Wochen gesenkt worden. Zuletzt hielt Meier in Bezug auf Digitalisierungsprojekte in der Schutzrechtsverwaltung fest, dass das IGE zum Ziel habe, raschere Verfahren zu entwickeln und eine erhöhte Qualität, höhere Transparenz sowie eine Steigerung der Effizienz anzustreben Erste Schritte seien dabei mit der Datenbank, den elektronischen Eingaben, der eÜbermittlung sowie mit dem Benutzerkonto bereits unternommen worden.
Lukas Abegg-Vaterlaus, Gerichtsschreiber am Bundesverwaltungsgericht, referierte zu zwei Themenbereichen aus der Markenrechtsprechung des BVGers.
Zuerst widmete sich Abegg-Vaterlaus dem Themenbereich rund um Verfahrensfragen. Dazu berichtete er über die Beschwerdebegründung im Widerspruchsverfahren anhand von zwei BVGer Entscheiden. Im ersten Fall (BVGer vom 7. Juli 2021, B-4552/2020) wurde die Beschwerdeschrift rechtzeitig eingereicht, die materielle Begründung wurde hingegen nach Ablauf der Beschwerdeschrift nachgereicht. Gemäss Art. 52 VwVG muss die Begründung in der Beschwerdeschrift enthalten sein, ansonsten kann eine Nachfrist gewährt werden. Die bundesgerichtliche Rechtsprechung und Lehre haben diese Bestimmung weiter präzisiert, so dass eine Begründung dann nachgereicht werden kann, wenn sie unbewusst oder unverschuldeterweise unterlassen wurde. Im vorliegenden Fall konnte die Beschwerdeführerin das unverschuldete Nachreichen nicht darlegen, und auch die Akten gaben hierfür keinen Hinweis, weshalb auf die Beschwerde nicht eingetreten wurde. Anschliessend widmete sich Abegg-Vaterlaus der Frage, wann ein Widerspruchsverfahren aufgrund eines Parallelverfahrens sistiert werden kann. In zwei kürzlich ergangenen Fällen (BVGer vom 2. März 2022, B-5546/2021 und B-303/2022) mit ähnlichem Sachverhalt lag keine eindeutige Zustimmung der Gegenseite zu einer Sistierung vor. Die Tatsache, dass möglicherweise präjudizierende Parallelverfahren laufen, stellt gemäss dem BVGer keinen hinreichenden Grund für die Beschwerdeführerin dar, auf eine Begründung verzichten zu dürfen. Das BVGer befand, dass es sich dabei vielmehr um eine Verzögerungstaktik Seitens der Beschwerdeführerin handelt, die nicht über eine Nachfrist geschützt werden darf, weshalb auf die Beschwerde nicht eingetreten wurde. Offen sei nach diesen Entscheiden gemäss der Ansicht von Abegg-Vaterlaus, ob im Sinne eines Umkehrschlusses davon ausgegangen werden kann, dass bei Vorliegen eines expliziten Einverständnisses der Gegenpartei auf eine Begründung verzichtet werden darf.
Das zweite Thema innerhalb des Verfahrensrechts widmete sich dem Rechtsmissbrauch im Löschungsverfahren. Abegg-Vaterlaus stellte dazu als erstes den Entscheid BVGer vom 4. Januar 2022, B-65/2021, «Visartis». Die zentrale Frage war, ob es rechtsmissbräuchlich ist, wenn nach dem ein Widerspruchsverfahren eingeleitet wurde, zusätzlich auch ein Löschungsverfahren eingeleitet wird. Das BVGer hielt fest, dass es sich beim Widerspruchs- und Löschungsverfahren um zwei voneinander unabhängige Verfahren handelt; entsprechend kann im Antrag auf eine Löschung kein Rechtsmissbrauch gesehen werden. In einem zweiten Entscheid (BVGer vom 18. Januar 2022, B-2382/2020, «Pierre de Coubertin») musste sich das BVGer mit der Frage beschäftigen, ob für ein Löschungsantrag ein spezielles Rechtsschutzinteresse seitens der Antragstellerin bestehen muss. Das Gericht stellte fest, dass es für den Löschungsantrag kein spezielles Rechtsschutzinteresses bedarf, da die Bereinigung des Markenregisters auf ein öffentliches Interesse abstellt.
Abegg-Vaterlaus setzte seine Präsentation um den Themenbereich der Gleichartigkeit fort. Dazu stelle er zuerst das Urteil BVGer vom 17. Februar 2022, B-361/2021 vor, worin Valser Widerspruch gegen die Marke «Valser Bier – Das Original Bernstein Oberbräu» erhob, welche für Bier beansprucht wurde. Valser selbst ist als Marke für Mineralwasser im Verkehr durchgesetzt. Der Widerspruch wurde vom IGE abgewiesen, wogegen Beschwerde erhoben wurde. Die Vorinstanz argumentierte, Valser habe sich nur für Mineralwasser durchgesetzt, nicht aber für Bier, entsprechend müsse die Ware Bier für das Zeichen Valser nach wie vor dem Gemeingut zugerechnet werden. Das BVGer hielt fest, dass durchgesetzte und nicht durchgesetzte Marken einen Anspruch auf den Schutz gegenüber verwechselbar ähn|lichen Marken haben, die gleichartige Waren oder Dienstleistungen beanspruchen. Schliesslich kommt das BVGer zum Schluss, dass eine Verwechslungsgefahr nicht auszuschliessen und die angefochtene Marke daher aus dem Markenregister zu löschen ist.
Weiter ging Abegg-Vaterlaus auf die Gleichartigkeit bezüglich Beratungsdienstleistungen und Dienstleistungen an sich ein. Im Entscheid BVGer vom 13. Juli 2021, B-6432/2019 war die Widerspruchsmarke für Unternehmensverwaltung und die angefochtene Marke für Beratung in Bezug auf die Verwaltung eingetragen. Die Vorinstanz erkannte auf Gleichartigkeit, wogegen sich die Beschwerdeführerin wehrte. Obwohl die Frage bereits in mehreren Urteilen thematisiert wurde, äusserte sich das BVGer in diesem Entscheid differenziert dazu. Es hielt fest, dass die Beratung zu einer Tätigkeit und die Tätigkeit selbst nicht per se gleichartig sein müssen. Im vorliegenden Fall hielt das BVGer allerdings fest, dass die Verwaltung eines Unternehmens und die Beratung in Bezug auf Verwaltung, von der Tätigkeit selbst und von den entsprechenden Abnehmerkreisen, sehr nahe zueinander stehen, weshalb eine Gleichartigkeit bejaht wurde.
Zuletzt präsentierte Abegg-Vaterlaus einen Entscheid (BVGer vom 6. Juli 2021, B-5422/2019), bei dem die Widerspruchsmarke «Canna», die für «flüssigen Dünger auch für die Erde» eingetragen war. Die angefochtene Marke «Cannatonic» war für «rohe und nicht verarbeitete Samenkörner und Sämereien» sowie «Samenkörner als Pflanzengut» eingetragen. Die Gleichartigkeit und die Zeichenähnlichkeit der Marken wurden im vorliegenden Entscheid bejaht. Bei der Bestimmung der Kennzeichnungskraft wurde allerdings vom Gericht festgestellt, dass «Canna» die lateinische Bezeichnung für Blumenrohr und damit freihaltebedürftig ist. Da die Marke «Cannatonic», ihre Kennzeichnungskraft aus dem Wortelement «tonic» gewinnt und die Marke «Canna» nur für Dünger hinterlegt ist, bestand zwischen den Marken gemäss BVGer trotz entfernter Gleichartigkeit und Zeichenähnlichkeit keine Verwechslungsgefahr.
Der fachliche Teil der Tagung wurde anschliessend mit der Ankündigung der Folgeveranstaltung am 4. Juli 2023 abgeschlossen.