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Berichte / Rapports

Urteil des EuGH vom 12. September 2019, Rechtssache C-683/17, Cofemel – Sociedade de Vestuário SA gegen G-Star Raw CV

Fabian Wigger​*

Seit der Infopaq-Entscheidung von 2009​1 war absehbar, dass der EuGH im Werkbegriff, wie er den Urheberrechtsrichtlinien der EU zugrunde liegt, einen autonomen Begriff des Unionsrechts erkennt, der in allen Mitgliedstaaten einheitlich auszu­legen ist. Seither hat der EuGH die Konturen dieses vollharmonisierten Werkbegriffs – unter Einbezug der damit zusammenhängenden quali­tativen Schutzvoraussetzungen – in einer Reihe von Entscheidungen ­näher umrissen. Mit vorliegendem Urteil stellt er nun klar, dass die dabei entwickelten Kriterien – und keine zusätzlichen – auch für Werke der angewandten Kunst gelten. Die ­Situation in der EU entspricht damit im Grundsatz jener, die das Schweizer BGer jüngst in seiner Barhocker-Entscheidung skizziert hat.

Depuis la décision Infopaq de 20091, on sait que la CJUE a reconnu dans la notion d’œuvre telle qu’elle sous-tend les directives sur le droit d’auteur de l’UE, un concept autonome du droit de l’Union qui doit être interprété uniformément dans tous les États membres. Depuis, la CJUE a précisé les contours de cette notion complètement harmonisée, y compris les conditions de protection qualitatives afférentes, dans une série de décisions. Par le présent jugement, elle précise que les critères développés dans ce domaine, et aucun autre, sont également applicables aux œuvres d’art appliqué. Ainsi, la situation au sein de l’UE correspond en principe à celle que le TF suisse a récemment esquissée dans sa décision Barhocker.

I. Sachverhalt und ­Ausgangsverfahren

Das Modeunternehmen «G-Star» bezichtigte die portugiesische «Cofemel», ebenfalls ein Modeunternehmen, der Urheberrechtsverletzung, weil diese Jeans-, Sweatshirt- und T-Shirt-Modelle übernommen habe. Cofemel begegnete diesem Vorwurf insbesondere mit dem Argument, die betreffenden Bekleidungsmodelle seien gar nicht urheberrechtlich geschützt​2.

Das von G-Star angerufene erstinstanzliche portugiesische Gericht bejahte die Urheberrechtsverletzung durch Cofemel ebenso wie später ein Berufungsgericht​3. Die Streitsache gelangte daraufhin zum Supremo Tribunal de Justiça, dem obersten Gericht Portugals. Da in der portugiesischen Lehre und Rechtsprechung ungeklärt war, unter welchen Voraussetzungen Werke der angewandten Kunst urheberrechtlich geschützt sind, stellte das Supremo Tribunal im Rahmen eines Vorabentscheidungsverfahrens dem EuGH zwei Fragen: Erstens, ob das Unionsrecht mitgliedstaatlichen Regelungen entgegenstehe, wonach Werke der angewandten Kunst dem Urheberrechtsschutz deshalb zugänglich sind, weil sie über ihren Gebrauchszweck hinaus einen «eigenen, ästhetisch markanten visuellen Effekt hervorrufen». Zweitens, ob das Unionsrecht mitgliedstaatlichen Regelungen entgegenstehe, wonach Werke der angewandten Kunst nur dann urheberrechtlich geschützt sind, wenn sie «nach einer besonders strengen Beurteilung hinsichtlich ihres künstlerischen Charakters unter Berücksichtigung der in den kulturellen und institutionellen Kreisen herrschenden Auffassung die Einordnung als ‹künstlerische Schöpfung› oder ‹Kunstwerk› verdienen»​4.

II. Entscheid des EuGH

Nachstehend werden die Ausführungen des EuGH zu den beiden Vorlagefragen vollständig und unverändert​5 wiedergegeben. Deren Lektüre lohnt sich insbesondere deshalb, weil sie mit einer kompakten Zusammenfassung der bisherigen Rechtsprechung zum unionsrechtlichen Werkbegriff eröffnen.

1. Zur ersten Frage

26 Mit seiner ersten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 2 lit. a RL 2001/29 dahin auszulegen ist, dass er einer nationalen Vorschrift entgegensteht, nach der Modelle wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Bekleidungsmodelle urheberrechtlich geschützt sind, weil sie über ihren Gebrauchszweck hinaus einen eigenen, ästhetisch markanten visuellen Effekt hervorrufen.

27 Nach Art. 2 lit. a RL 2001/29 sind die Mitgliedstaaten verpflichtet, für Urheber das ausschliessliche Recht vorzusehen, die Vervielfältigung ihrer Werke zu erlauben oder zu verbieten.

28 Der Begriff «Werk», auf den diese Bestimmung Bezug nimmt, findet sich auch in Art. 3 Abs. 1 und Art. 4 Abs. 1 RL 2001/29, die das ausschliessliche Recht des Urhebers eines Werks auf ­öffentliche Wiedergabe und auf Verbreitung betreffen, in Art. 5 dieser Richtlinie, der die Ausnahmen und Beschränkungen in Bezug auf diese ausschliesslichen Rechte betrifft, sowie in den Art. 6 und 7 dieser Richtlinie, die technische Massnahmen bzw. Informationsmassnahmen zum Schutz dieser ausschliesslichen Rechte betreffen.

29 Der in allen diesen Bestimmungen enthaltene Begriff «Werk» stellt, wie sich aus der ständigen Rechtsprechung des Gerichtshofs ergibt, einen autonomen Begriff des Unionsrechts dar, der einheitlich auszulegen und anzuwenden ist und zwei Tatbestandsmerkmale hat. Zum einen muss es sich bei dem betreffenden Gegenstand um ein Original in dem Sinne handeln, dass er eine eigene geistige Schöpfung seines Urhebers darstellt. Zum anderen ist die Einstufung als «Werk» Elementen vorbehalten, die eine solche Schöpfung zum Ausdruck bringen (vgl. in diesem Sinne EuGH vom 16. Juli 2009, C-5/08, Rn. 37 und 39, «Infopaq» sowie EuGH vom 13. November 2018, C-310/17, Rn. 33 und 35–37, «Levola»​6 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).

30 Hinsichtlich des ersten Merkmals kann nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs ein Gegenstand erst bzw. bereits dann als Original angesehen werden, wenn er die Persönlichkeit seines Urhebers widerspiegelt, indem er dessen freie kreative Entscheidungen zum Ausdruck bringt (vgl. in diesem Sinne EuGH vom 1. Dezember 2011, C-145/10, Rn. 88 f. und 94, «Painer» sowie EuGH vom 7. August 2018, C-161/17, Rn. 14, «Renckhoff»​7).

31 Wurde dagegen die Schaffung ­eines Gegenstands durch technische Erwägungen, durch Regeln oder durch andere Zwänge bestimmt, die der Ausübung künstlerischer Freiheit keinen Raum gelassen haben, kann nicht davon ausgegangen werden, dass dieser Gegenstand die für die Einstufung als Werk erforderliche Originalität aufweist (vgl. in diesem Sinne EuGH vom 1. März 2012, C-604/10, Rn. 39, «Football Dataco» und die dort angeführte Rechtsprechung).

32 Hinsichtlich des zweiten in Rn. 29 des vorliegenden Urteils genannten Merkmals hat der Gerichtshof klargestellt, dass der Begriff «Werk» im Sinne der RL 2001/29 zwangsläufig einen mit hinreichender Genauigkeit und Objektivität identifizierbaren Gegenstand voraussetzt (vgl. in diesem Sinne EuGH vom 13. November 2018, C-310/17, Rn. 40, «Levola»).

33 Zum einen müssen nämlich die Behörden, die mit dem Schutz der dem Urheberrecht innewohnenden Ausschliesslichkeitsrechte betraut sind, den so geschützten Gegenstand klar und genau erkennen können. Dasselbe gilt für Dritte, gegenüber denen der Urheber dieses Gegenstands den Schutz beanspruchen kann. Zum anderen setzt das Erfordernis des Ausschlusses jedes – der Rechtssicherheit schädlichen – subjektiven Elements bei der Identifizierung des geschützten Gegenstands ­voraus, dass dieser auf objektive Weise ausgedrückt worden ist (vgl. in diesem Sinne EuGH vom 13. November 2018, C-310/17, Rn. 41, «Levola»).

34 Wie der Gerichtshof hervorge­hoben hat, entspricht es nicht dem ­Erfordernis der Genauigkeit und Objek­tivität, wenn eine Identifizierung im Wesentlichen auf naturgemäss subjektiven Empfindungen der Person beruht, die den fraglichen Gegenstand wahrnimmt (vgl. in diesem Sinne EuGH vom 13. November 2018, C-310/17, Rn. 42, «Levola»).

35 Wenn ein Gegenstand die in den Rn. 30 und 32 des vorliegenden Urteils genannten Merkmale aufweist und ­daher ein Werk ist, muss er in dieser ­Eigenschaft gemäss der RL 2001/29 urheberrechtlich geschützt werden, wobei der Umfang dieses Schutzes nicht vom Grad der schöpferischen Freiheit seines Urhebers abhängt und daher nicht geringer ist als derjenige, der allen unter die Richtlinie fallenden Werken zukommt (vgl. in diesem Sinne EuGH vom 1. Dezember 2011, C-145/10, Rn. 97–99, «Painer»).

36 In Anbetracht dieser Rechtsprechung ist – um die erste Frage des vorlegenden Gerichts beantworten zu können – in einem ersten Schritt zu bestimmen, ob Modelle überhaupt als «Werke» im Sinne der RL 2001/29 eingestuft werden können.

37 Hierzu ist zunächst festzustellen, dass nach Art. 17 Abs. 2 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union geistiges Eigentum geschützt wird.

38 Aus dem Wortlaut dieser Bestimmung ergibt sich, dass Gegenstände, die geistiges Eigentum darstellen, nach dem Unionsrecht geschützt sind. Dies bedeutet jedoch nicht, dass solche Gegenstände oder Kategorien von Gegenständen allesamt in identischer Weise geschützt werden müssen.

39 So hat der Unionsgesetzgeber verschiedene abgeleitete Rechtsakte erlassen, durch die gewährleistet werden soll, dass das geistige Eigentum geschützt wird, und zwar insbesondere zum einen urheberrechtlich geschützte Werke im Sinne der RL 2001/29 und zum anderen Muster und Modelle, die entweder unter die RL 98/71 – die auf Muster und Modelle anwendbar ist, die in einem oder mit Wirkung für einen Mitgliedstaat eingetragen sind – oder unter die VO 6/2002 – die auf Muster und Modelle (dort Geschmacksmuster genannt) anwendbar ist, die auf Unionsebene geschützt sind – fallen.

40 Dadurch hat der Unionsgesetz­geber zum Ausdruck gebracht, dass Gegenstände, die als Muster oder ­Modell geschützt sind, grundsätzlich nicht Gegenständen gleichgesetzt werden können, die durch die RL 2001/29 geschützte Werke darstellen.

41 Diese gesetzgeberische Entscheidung steht im Einklang mit der Berner Übereinkunft, an deren Art. 1–21 sich die Union, obwohl sie nicht Vertragspartei der Berner Übereinkunft ist, nach Art. 1 Abs. 4 des WIPO-Urheberrechtsvertrags [WCT], dem sie beigetreten ist, halten muss (vgl. in diesem Sinne EuGH vom 13. November 2018, C-310/17, Rn. 38, «Levola» und die dort angeführte Rechtsprechung).

42 Art. 2 Abs. 7 RBÜ gestattet es den Vertragsparteien nämlich, gewerblichen Mustern und Modellen einen besonderen Schutz zu gewähren, der sich von dem Schutz für die unter dieses Übereinkommen fallenden Werke der Literatur und der Kunst unterscheidet und diesen gegebenenfalls ausschliesst, und die Voraussetzungen für einen solchen Schutz festzulegen. Gleichzeitig schliesst diese Bestimmung auch eine kumulative Anwendung der beiden Schutzarten nicht aus.

43 In diesem Kontext hat sich der ­Unionsgesetzgeber für ein System entschieden, bei dem der Schutz, der ­Mustern und Modellen vorbehalten ist, und jener, der durch das Urheberrecht gewährt wird, einander nicht ausschlies­sen.

44 In Bezug auf Muster und Modelle heisst es nämlich in Art. 17 Satz 1 RL 98/71, dass das nach Massgabe dieser Richtlinie durch ein in einem oder mit Wirkung für einen Mitgliedstaat eingetragenes Recht an einem Muster oder Modell geschützte Muster oder Modell auch nach dem Urheberrecht dieses Staates von dem Zeitpunkt an schutzfähig ist, an dem das Muster oder Modell geschaffen oder in irgendeiner Form festgelegt wurde. Anschliessend wird in Satz 2 dieses Artikels ausgeführt, dass der Umfang eines solchen urheberrechtlichen Schutzes und die Bedingungen für dessen Gewährung sowie die erforderliche Gestaltungshöhe von dem einzelnen Mitgliedstaat festgelegt werden. Für die auf Unionsebene geschützten Muster und Modelle enthält Art. 96 Abs. 2 VO 6/2002 eine Art. 17 RL 98/71 entsprechende Regelung.

45 Diese beiden Bestimmungen sind ihrerseits im Licht des achten Er­wägungsgrundes der RL 98/71 und des 32. Erwägungsgrundes der VO 6/2002 zu sehen, in denen ausdrücklich auf den Grundsatz des «kumulativen Schutzes» als Muster oder Modell zum einen und nach dem Urheberrecht zum anderen hingewiesen wird.

46 Was das Urheberrecht angeht, so ergibt sich aus Art. 9 RL 2001/29 («Weitere Anwendung anderer Rechtsvorschriften»), der insbesondere unter Berücksichtigung all seiner Sprach­fassungen (vgl. in diesem Sinne EuGH vom 4. Februar 2016, C-659/13 und C-34/14, Rn. 122 und die dort angeführte Rechtsprechung) und im Licht des 60. Erwägungsgrundes der Richt­linie auszulegen ist, dass die Richtlinie Vorschriften des nationalen oder des Unionsrechts in anderen Bereichen, insbesondere Rechte an Mustern und Modellen, unberührt lässt.

47 So ändert die RL 2001/29 nichts am Bestehen und am Anwendungs­bereich der geltenden Rechtsvorschriften im Bereich der Muster und Modelle, was den oben in Rn. 45 erwähnten Grundsatz des «kumulativen Schutzes» einschliesst.

48 Angesichts all dieser Rechts­vorschriften ist festzustellen, dass Modelle dann als «Werke» im Sinne der RL 2001/29 anzusehen sind, wenn sie die beiden oben in Rn. 29 genannten Voraussetzungen erfüllen.

49 Anhand dieser Voraussetzungen ist in einem zweiten Schritt zu prüfen, ob Modelle, die – wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Bekleidungsmodelle – dem vorlegenden Gericht zufolge über ihren Gebrauchszweck hinaus einen eigenen, ästhetisch markanten visuellen Effekt hervorrufen, als «Werke» einzustufen sind, wobei das vorlegende Gericht wissen möchte, ob ein solches Element der ästhetischen Originalität das grundlegende Kriterium für die Gewährung des Schutzes nach der RL 2001/29 ist.

50 Hierzu ist zunächst anzumerken, dass der Schutz von Mustern und Modellen einerseits und der urheberrechtliche Schutz andererseits grundverschiedene Ziele verfolgen und unterschiedlichen Regelungen unterliegen. Wie der Generalanwalt in den Rn. 51 und 55 seiner Schlussanträge im Wesentlichen ausgeführt hat, erfasst der Schutz von Mustern und Modellen Gegenstände, die zwar neu und individualisiert sind, aber dem Gebrauch dienen und für die Massenproduktion gedacht sind. Ausserdem ist dieser Schutz während eines Zeitraums anwendbar, der zwar begrenzt ist, aber ausreicht, um sicherzustellen, dass die für das Entwerfen und die Produktion dieser Gegenstände erforderlichen Investitionen rentabel sind, ohne jedoch den Wettbewerb übermässig einzuschränken. Demgegenüber ist der mit dem Urheberrecht verbundene Schutz, der deutlich länger dauert, Gegenständen vorbehalten, die als Werke eingestuft werden können.

51 Aus diesen Gründen darf – ent­sprechend den Ausführungen des ­Generalanwalts in Rn. 52 seiner Schlussanträge – die Gewährung urheberrechtlichen Schutzes für einen als Muster oder Modell geschützten Gegenstand nicht dazu führen, dass die Zielsetzungen und die Wirksamkeit dieser beiden Schutzarten beeinträchtigt werden.

52 Daraus folgt, dass der Schutz von Mustern und Modellen und der mit dem Urheberrecht verbundene Schutz nach dem Unionsrecht zwar kumulativ für ein und denselben Gegenstand gewährt werden können, diese Kumulierung jedoch nur in bestimmten Fällen in Frage kommt.

53 Hierzu ist zum einen festzustellen, dass die ästhetische Wirkung, die ein Modell haben kann, ausweislich der üblichen Bedeutung des Begriffs «ästhetisch» das Ergebnis einer naturgemäss subjektiven Schönheitsempfindung des jeweiligen Betrachters ist. Folglich erlaubt es diese subjektive Wirkung für sich genommen nicht, auf einen mit hinreichender Genauigkeit und Objektivität identifizierbaren Gegenstand im Sinne der oben in den Rn. 32–34 erwähnten Rechtsprechung zu schliessen.

54 Zum anderen trifft es zwar zu, dass ästhetische Erwägungen Teil der schöpferischen Tätigkeit sind. Gleichwohl ermöglicht der Umstand, dass ein Modell eine ästhetische Wirkung hat, für sich genommen nicht die Feststellung, ob es sich bei diesem Modell um eine geistige Schöpfung handelt, die die Entscheidungsfreiheit und die Persönlichkeit ihres Urhebers widerspiegelt und somit dem oben in den Rn. 30 und 31 angeführten Erfordernis der Originalität genügt.

55 Daraus folgt, dass der Umstand, dass Modelle wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Bekleidungsmodelle über ihren Gebrauchszweck hinaus einen eigenen, ästhetisch markanten visuellen Effekt hervorrufen, es nicht rechtfertigen kann, solche Modelle als «Werke» im Sinne der RL 2001/29 einzustufen.

56 Nach alledem ist auf die erste Frage zu antworten, dass Art. 2 lit. a RL 2001/29 dahin auszulegen ist, dass er einer nationalen Vorschrift entgegensteht, nach der Modelle wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Bekleidungsmodelle urheberrechtlich geschützt sind, weil sie über ihren Gebrauchszweck hinaus einen eigenen, ästhetisch markanten visuellen Effekt hervorrufen.

2. Zur zweiten Frage

57 In Anbetracht der Antwort auf die erste Frage erübrigt sich die Beantwortung der zweiten Frage.

[…]

III. Die zentralen Aussagen ­gespiegelt am Schweizer Recht

Nachstehend werden die vier zentralen Aussagen des vorgestellten Urteils zusammengefasst und – soweit sinnvoll – der Rechtslage in der Schweiz gegenübergestellt.

1. Der harmonisierte Werkbegriff erfasst auch die Werke der ­angewandten Kunst

Bislang gab es unterschiedliche Auffassungen darüber, ob die vom EuGH vorangetriebene Harmonisierung des urheberrechtlichen Werkbegriffs auch für Werke der angewandten Kunst gelten soll. Genährt würde die Kontroverse insbesondere durch den Vorbehalt zugunsten mitgliedstaatlichen Rechts in Art. 17 Satz 2 RL 98/71​8. Nach dieser Bestimmung obliegt es nämlich den Mitgliedstaaten festzulegen, «[i]n welchem Umfang und unter welchen Bedingungen» Geschmacksmuster (auch) Urheberrechtsschutz erfahren. Sodann wird darin festgehalten, dass diese ­mitgliedstaatliche Regelungskompetenz auch die dafür «erforderliche ­Gestaltungshöhe» mitumfasst. Zwar liess bereits die EuGH-Entscheidung «Flos» von 2011 erahnen, dass die sich aus dem besagten geschmacksmusterrechtlichen Vorbehalt ergebende mitgliedstaatliche Regelungskompetenz ihre Grenzen dort haben dürfte, wo die Harmonisierungsvorgaben des EU-­Urheberrechts beginnen​9. Nichtsdestotrotz ging beispielsweise der deutsche BGH in seiner Geburtstagszugs­entscheidung von 2014 noch davon aus, dass es den Mitgliedstaaten aufgrund des zitierten Vorbehalts nicht verwehrt wäre, den Urheberrechtsschutz für Werke der angewandten Kunst vom Erreichen einer besonderen Gestaltungshöhe abhängig zu machen​10.

In der hier vorgestellten Entscheidung reduziert der EuGH den Regelungsgehalt von Art. 17 RL 98/71 nun im ­Wesentlichen darauf, dass das Verhältnis zwischen dem Geschmacksmusterrecht und dem Urheberrecht dem Prinzip des «kumulativen Rechtsschutzes» folgt. Für die Aufteilung der Regelungskompetenzen innerhalb des EU-Ur­heberrechts hat diese Bestimmung für den EuGH jedoch keine Bedeutung. Somit gelten die auf der RL 2001/29 fussenden Harmonisierungsvorgaben – und damit auch der unionsrechtliche Werkbegriff – uneingeschränkt auch für den urheberrechtlichen Schutz von Werken der angewandten Kunst​11.

Die Frage, ob die urheberrecht­lichen Schutzvoraussetzungen bei Werken der angewandten Kunst unionsrechtlich harmonisiert sind oder nicht, ist für die Rechtslage in der Schweiz freilich nicht entscheidend. Festhalten lässt sich immerhin, dass der Grundsatz des «kumulativen Rechtsschutzes» für das Verhältnis zwischen dem Designrecht und dem Urheberrecht, ja im Immaterialgüterrecht insgesamt, heute auch hierzulande anerkannt ist​12.

2. Keine besonderen ­Voraussetzungen für den ­urheberrechtlichen Schutz von Werken der angewandten Kunst

Der EuGH wendet auf Werke der an­gewandten Kunst dieselben Schutzvoraussetzungen an wie für andere Werk­arten auch. Insbesondere weigert sich der Gerichtshof, die vom portugiesischen Recht für derartige Gestaltungen entwickelten besonderen Abgrenzungskriterien zu übernehmen​13.

Ebenso hat der deutsche BGH im Geburtstagszugs-Entscheid klargestellt, es sei nicht gerechtfertigt, «[…] an den Urheberrechtsschutz von Werken der angewandten Kunst höhere Anforderungen zu stellen als an den Urheberrechtsschutz von Werken der zweckfreien Kunst»​14. Er verabschiedete sich damit von seiner früheren – im Lichte der hier vorgestellten Entscheidung ­klarerweise unionsrechtswidrigen – Praxis, gemäss der der Urheberrechtsschutz von Werken der angewandten Kunst eine «besondere Gestaltungshöhe» voraussetzte (sog. «Stufentheorie»).

Gleiches dürfte auch in der Schweiz gelten, wo die Stufentheorie nie richtig Fuss gefasst hat. Entsprechend beurteilt sich die urheberrechtliche Schutzfähigkeit von Werken der angewandten Kunst nach denselben Kriterien, die auch für die anderen Werk­arten gelten​15. Bedauerlicherweise hat sich das BGer im Barhocker-Entscheid jedoch um eine entsprechend klare Aussage – die vor dem Hintergrund des Geburtstagszugs-Entscheids auf der Hand gelegen hätte – gedrückt​16.

3. Der urheberrechtliche Schutz von Werken der angewandten Kunst erfasst nur einen Teil der geschmacksmusterrechtlich geschützten Gestaltungen

Der EuGH folgert aus dem Umstand, dass Geschmacksmuster- und Urheberrecht «grundverschiedene Ziele verfolgen und unterschiedlichen Regelungen unterliegen», dass die beiden Schutzrechte «nur in bestimmten Fällen» gleichzeitig zur Anwendung gelangen​17. Dies dann, wenn eine Gestaltung sowohl den geschmacksmusterrechtlichen als auch den – strengeren und ebenfalls voll­harmonisierten – urheberrechtlichen Schutzvoraussetzungen genügt. Der EuGH scheint mithin davon auszugehen, dass das Gros der geschmacksmusterrechtlich erfassten Gestaltungen den urheberrechtlichen Schutzvoraussetzungen nicht genügt​18.

Auch das Schweizer BGer ging im Barhocker-Entschied davon aus, dass es keinen «flächendeckenden» Urheberrechtsschutz für vom Designrecht erfasste Gestaltungen gäbe. Allerdings betonte es in diesem Zusammenhang – anders als der EuGH und auch der BGH​19 – nicht die funktionalen Unterschiede zwischen dem Design- und dem Urheberrecht, sondern gerade ­deren diesbezügliche Gemeinsamkeiten («[…] Der Schutz beider Gesetze gilt der kreativen Formgebung. Aus dem grundsätzlich übereinstimmenden Schutzzweck ergibt sich, […]»)​20. Die verschieden strengen Schutzvoraus­setzungen erklärt das BGer derweil mit der unterschiedlichen Reichweite des Schutzes. Diese bedinge, dass «[…] die Voraussetzungen der urheberrecht­lichen Individualität höher sein müssen als die Eigenart des Designrechts […]»​21. Ob das BGer mit dem EuGH auch darin übereinstimmt, dass die Schutzkumulation von Design- und Urheberrecht einen Ausnahmefall darstellt, könnte zwar prima facie aus der Zweifelsfall-Regelung, wie sie etwa im Le-Corbusier-Entscheid bemüht wird​22, abgeleitet ­werden, ist aber mit Blick auf die dem Barhocker-Entscheid zugrunde liegende Grosszügigkeit bei der Anwendung der urheberrechtlichen Schutzvoraussetzungen gleichwohl fraglich.

4. Ästhetik ist kein Element der harmonisierten ­Schutzvoraussetzungen

Für den EuGH widerspiegelt die Ästhetik «das Ergebnis einer naturgemäss subjektiven Schönheitsempfindung des  jeweiligen Betrachters»​23. Aufgrund dieser subjektiven Komponente sei das Kriterium der Ästhetik weder genau noch objektiv und daher als Element urheberrechtlicher Schutzvoraussetzungen nicht geeignet​24.

Diese Feststellung kontrastiert mit der jüngeren Rechtsprechung des BGH, gemäss der die Ästhetik bzw. die «ästhetische Wirkung» einer Produktge­staltung für die Begründung des Urheberrechtsschutzes eine zentrale Rolle spielt​25. Dies freilich weniger als eigenständiger Massstab, sondern primär als Kriterium zur Abgrenzung vom Bereich der Technik​26. Urheberrechtsschutz bedingt danach das Ausnutzen eines ästhetischen und nicht eines technischen Gestaltungsspielraums. So betrachtet, bedient sich der BGH der vom EuGH verschmähten Ästhetik, um – wie vom EuGH ge­fordert​27 – auf die freien kreativen ­Gestaltungsentscheidungen zu fokussieren bzw. solche technischer Natur auszublenden.

In Übereinstimmung mit den Erwägungen des EuGH nimmt derweil das Schweizer BGer im Zusammenhang mit den urheberrechtlichen Schutzvoraussetzungen keinen Bezug auf die Ästhetik, hält den «ästhetischen Wert» einer Gestaltung gar für irrelevant​28. Im Zentrum der bundesgerichtlichen Argumentation steht vielmehr das Kriterium der Einmaligkeit, das voraussetzt, dass sich eine Formgebung deutlich von vorbekannten Formen abhebt​29.

Fussnoten:
*

Rechtsanwalt, Zug/Zürich.

1

EuGH vom 16. Juli 2009, C-5/08, «Infopaq». CJUE du 16 juillet 2009, C-5/08, «Infopaq».

2

EuGH vom 12. September 2019, C-683/17, Rn. 16–20, «Cofemel».

3

EuGH vom 12. September 2019, C-683/17, Rn. 21–22, «Cofemel».

4

EuGH vom 12. September 2019, C-683/17, Rn. 23–25, «Cofemel».

5

Hinzugefügt wurden indes einige wenige Fussnoten mit weiterführenden Hinweisen.

6

Siehe dazu auch E.-M. Strobel, Alles Käse oder was? Der Heks’nkaas-Entscheid des EuGH, sic! 2019, 325 f.

7

Siehe dazu auch F. Wigger, EuGH: Fotografie auf Website verletzt Recht der öffentlichen Wiedergabe, sic! 2019, 452 ff.

8

Art. 17 Satz 2 RL 98/71 lautet: «In welchem Umfang und unter welchen Bedingungen ein solcher Schutz [= Urheberrechtsschutz für Geschmacksmuster] gewährt wird, wird einschliesslich der erforderlichen Gestaltungshöhe von dem einzelnen Mitgliedstaat festgelegt.» Eine analoge Bestimmung findet sich auch in Art. 96 Abs. 2 VO 6/2002.

9

EuGH vom 27. Januar 2011, C-168/09, «Flos». Hier taxierte der EuGH eine italienische Regelung für unionsrechtswidrig, nach der Gestaltungen, die dem Geschmacksmusterschutz zugänglich sind, nicht auch urheberrechtlich geschützt werden; siehe dazu auch P. Schramm, Kumulativer Designschutz über das Urheber- und Geschmacksmusterrecht, sic! 2011, 333 ff.; M. Leistner, Der europäische Werkbegriff, ZGE 2013, 35 ff.

10

BGH, GRUR 2014, 175, Rn. 27, 32, «Geburtstagszug»; siehe dazu auch M. Leistner, Einheitlicher europäischer Werkbegriff auch im Bereich der angewandten Kunst, GRUR 2019, 1114 ff., 1114 f.

11

EuGH vom 12. September 2019, C-683/17, Rn. 44 ff., «Cofemel».

12

Grundlegend BGE 75 II 355 ff. E. 2a, «Besteckmodell Schwaben»; BGE 113 II 190 ff. E.I.2a, «Le Corbusier»; HGer Aargau, sic! 2006, 191 f., «Laufrad»; D. Barrelet / W. Egloff, Das neue Urheberrecht, Kommentar, 3. Aufl., Bern 2008, URG 2 N 18; R. von Büren / ​M. A. Meer, SIWR II/1, 3. Aufl., Basel 2014, Rn. 321 f.; F. Dessemontet, in: J. de Werra / P. Gilliéron (éd.), Commentaire Romand, Propriété intellectuelle, Bâle 2013, LDA 1 N 25 und 29; M. Wang, ­Designrecht, SIWR VI, Basel 2007, 45 f.; R. M. Stutz / ​S. Beutler / M. Künzi, SHK ­Designrecht, Grundlagen N 42 ff., 49 ff.; P. Heinrich, DesG-/HMA-Kommentar, 2. Aufl., Zürich 2014, Einl. N 50 ff.; M. A. Meer, Die Kollision von Immaterial­güterrechten, ASR Bd. 729, Bern 2006, 69 f., 87; kritisch jedoch R. M. Hilty, Urheberrecht, Bern 2010, Rn. 109.

13

EuGH vom 12. September 2019, C-683/17, Rn. 48, «Cofemel».

14

BGH, GRUR 2014, 175, Rn. 40, «Geburtstagszug».

15

M. Ritscher / P. Schramm, Praxisänderung in Deutschland zum urheberrechtlichen Schutz von Werken der angewandten Kunst, sic! 2014, 303 ff., 304 f.; für einheitliche ­urheberrechtliche Schutzvoraussetzungen etwa von Büren / Meer (Fn. 12), Rn. 324; gegen erhöhte Schutzvoraussetzungen für Werke der angewandten Kunst auch P. Fehlbaum, La délimitation entre le design et le droit d’auteur au regard de l’affaire du train d’anniversaire («Geburtstagszug»), sic! 2015, 74 ff., 83 f.; Dessemontet (Fn. 12), LDA 1 N 25; Meer (Fn. 12), 87 ff.

16

In diesem Sinne auch M. Ritscher /​P. Schramm, Swiss Supreme Court adopts new standards for copyright protection requirements, MLL-News vom 10. August 2017.

17

EuGH vom 12. September 2019, C-683/17, Rn. 50–52, «Cofemel».

18

Ebenso Leistner (Fn. 10), GRUR 2019, 1118.

19

BGH, GRUR 2014, 175, Rn. 35, «Geburtstagszug»: «Der Gesetzgeber hat mit dem Geschmacksmusterrecht ein eigenständiges gewerbliches Schutzrecht geschaffen und den engen Bezug zum Urheberrecht be­seitigt […]. Vor allem aber wird die nunmehr vom Urheberrecht abweichende Schutzrichtung des Geschmacksmusterrechts darin deutlich, dass der Schutz als Geschmacksmuster nach seiner Neugestaltung nicht mehr die Eigentümlichkeit […] voraussetzt. […]»

20

BGE 143 III 373 ff. E. 2.6.2, «Max-Bill-Barhocker». Im Schweizer Schrifttum finden sich derweil verbreitet Stimmen, die auf die funktionalen Unterschiede zwischen dem Design­recht und dem Urheberrecht hinweisen (und dabei insb. auch den Regimewechsel vom MMG zum DesG mitberücksichtigen), siehe in jüngerer Zeit etwa Fehlbaum (Fn. 15), sic! 2015, 75 und 79 ff.; Ritscher / ​Schramm (Fn. 15), sic! 2014, 304 f.; Wang (Fn. 12), SIWR VI, 25 f., 31 ff.

21

BGE 143 III 373 ff. E. 2.6.2, «Max-Bill-Barhocker»; siehe dazu auch etwa Heinrich (Fn. 12), Einl. N 107 ff., insb. N 124.

22

BGE 113 II 190 ff. E.I.2a, «Le Corbusier».

23

EuGH vom 12. September 2019, C-683/17, Rn. 53, «Cofemel».

24

Interessanterweise verweist der EuGH in diesem Zusammenhang auf seine Levola-Entscheidung, in der die Kriterien der Ge­nauigkeit und der Objektivität allerdings nicht als Elemente der Schutzvoraussetzungen verstanden wurden, sondern als An­forderungen an die Abgrenzbarkeit möglicher Schutzgegenstände; siehe dazu auch Leistner (Fn. 10), GRUR 2019, 1117.

25

BGH, GRUR 2014, 175, Rn. 15 ff., «Geburtstagszug»; BGH, GRUR 2012, 58 ff., Rn. 22, «Seilzirkus».

26

BGH, GRUR 2012, 58 ff., Rn. 22, «Seilzirkus»: «Urheberrechtsschutz für einen Gebrauchsgegenstand kommt nach der Rechtsprechung des BGH daher nur in Betracht, wenn seine Gestaltung nicht nur eine technische Lösung verkörpert, sondern einen durch eine künstlerische Leistung geschaffenen ästhetischen Gehalt aufweist. […]»

27

EuGH vom 22. Dezember 2010, C-393/09, Rn. 48 ff., «BSA»; EuGH vom 1. März 2012, C-604/10, Rn. 39, «Football Dataco».

28

BGE 130 III 168 ff. E. 4.1, «Bob Marley»; ebenso Barrelet / Egloff (Fn. 12), URG 2 N 10, die die diesbezüglichen Aussagen des EuGH beinahe im Wortlaut vorwegnehmen («[…] Dieser [der ästhetische Gehalt] ist aber nicht objektiv beurteilbar, sondern eine rein subjektive Feststellung. […] weshalb dieses Kriterium zur Abgrenzung irrelevant ist. […]»); sowie etwa von Büren / Meer (Fn. 12), Rn. 181, die indes darauf hinweisen, dass bei der Anwendung der urheberrechtlichen Schutzvoraussetzungen subjektive Wertungen unausweichlich sind.

29

BGE 143 III 373 ff. E. 2.6.2, «Max-Bill-Barhocker»; grundlegend BGE 130 III 168 ff. E. 4 und 5, «Bob Marley»; BGE 130 III 714 ff. E. 2, «Wachmann Meili».