Christoph Gasser | Michael Ritscher
Tagungsbericht zur INGRES-Veranstaltung vom 18. April 2008 in Bern
Anlässlich einer Abendveranstaltung des INGRES im Berner «Zunfthaus zum Affen», in welches Franz Nyffeler, ehemaliger INGRES-Präsident und Alt-Bundesrichter, eingeladen hatte, sprach Dr. Roland Grossenbacher, Direktor des Eidgenössischen Instituts für Geistiges Eigentum und (noch bis anfangs März 2009) Verwaltungsratspräsident der Europäischen Patentorganisation (EPO), über die Funktionsfähigkeit der EPO als Teil des globalen Patentsystems.
Roland Grossenbacher führte aus, das Gemeinschaftspatent habe sich zu einem Störfaktor entwickelt. Dem sei insbesondere so, weil die Europäische Kommission, die sich bemühe, die ursprüngliche Vision eines Gemeinschaftspatents in die Realität umzusetzen, nun das Streitregelungsabkommen (EPLA) blockiere. Offenbar befürchte sie, dass das EPÜ, kombiniert mit dem Londoner Abkommen zur Sprachenregelung und dem EPLA, ein Gemeinschaftspatent überflüssig machen könnte.
Dem Europäischen Patentübereinkommen (EPÜ) hingegen sei heute ein spektakulärer Erfolg beschieden – nicht nur wegen der alle Erwartungen übertreffenden Anzahl der Anmeldungen (2007: 216000) und der inzwischen 34 Mitgliedstaaten, sondern auch wegen der relativ hohen Qualität des Erteilungsverfahrens. Dieser Erfolg gefährde aber im Sinne eines Teufelskreises zunehmend die Qualität der Prüfung und verlängere die Behandlungszeit (es bestünde ungewollt – aber faktisch – eine aufgeschobene Prüfung). Ein Abschluss der Prüfung innert dreier Jahre sei indes nur möglich, wenn entweder 2000 zusätzliche Prüfer angestellt würden oder die Anmeldungen um 45% zurückgingen. Das Europäische Patentamt (EPA) rechne aber mit einem weiteren Zuwachs von 50% und einer ebenfalls zunehmenden Komplexität der Anmeldungen. Zu befürchten sei eine Überflutung mit Patentanmeldungen und letztlich eine Implosion des globalen Patentsystems. Für die Unternehmen bedeute dies, dass sie – sollte nicht energisch Gegensteuer gegeben werden – durch eine zunehmende Anzahl von noch nicht oder zu wenig streng geprüften Patenten behindert würden.
Das EPA sei an sich prädestiniert, eine Führungsrolle zu übernehmen und diese Herausforderung zu bewältigen. Zum einen verfüge es dank der attraktiven Anstellungsbedingungen über hervorragend ausgebildete und erfahrene Mitarbeiter («die grösste Stärke der EPO»). Diese seien in der Lage, die Anmeldungen mit der von allen Seiten geforderten Sorgfalt zu prüfen. Zudem erlaube die Internationalität der EPO eine Meinungsvielfalt und eine differenzierte und sachkundige strategische Führung. Das EPA bewege sich keineswegs unkontrolliert im luftleeren Raum, sondern habe dank seiner «Governance» die Chance, seine Erfolgsgeschichte fortzuschreiben.
Dieses Vorhaben könnte nach Ansicht des Referenten trotz der fehlenden Kontinuität in der Präsidentschaft vor allem kraft der erfolgten Bildung eines Ausschusses des Verwaltungsrats (des sog. «Board 28») sowie einer der Einführung der «International Financial Reporting Standards» zu verdankenden realistischen Beurteilung der finanziellen Möglichkeiten umgesetzt werden. Auch sei es aufgrund dieser «Governance» gelungen, den durch Dezentralisierungsbemühungen drohenden Schaden in engen Grenzen zu halten.
Entscheidend müsse aber sein, dass die EPO nicht versuche, wirtschaftspolitisch zu agieren, sondern sich ohne Wenn und Aber auf ihre Kernaufgabe einer gemeinsamen Bewältigung der wachsenden Anzahl von Patentgesuchen konzentriere, also auf die Aufbereitung und Zurverfügungstellung des Standes der Technik, die Recherche und die Patentprüfung.
Damit einhergehen müsse eine zurückhaltendere Erteilungspraxis, was an sich unbestritten sei. Strittig sei aber, wie diese Praxis eingeschränkt werden solle.
|Roland Grossenbacher forderte ein eigentliches Umdenken. Eine wo immer mögliche Erleichterung des Zugangs zum Patentschutz müsse einer restriktiveren Praxis im Sinne einer Zutrittserschwerung («raising the bar») weichen. Dies betreffe alle Akteure, also die Anmelder, die Prüfer, die Beschwerdekammern wie auch die Gerichte. Trivialanmeldungen müssten möglichst früh erkannt und eliminiert werden. Entsprechend sei das PCT-Anmeldeverfahren zu verbessern, was gegen eine Dezentralisierung spreche.
Nach einigen an den Verwaltungsrat der EPO und an das EPA gerichteten Kritikpunkten und Empfehlungen beschrieb der Referent die folgenden vier Szenarien:
1. Ein «unfriendly take-over» durch die Kommission der EU als Folge der Schaffung eines Gemeinschaftspatents sei zu vermeiden. Gelinge dies nicht, müsse immerhin eine Lösung gewählt werden, welche die EU-Nichtmitglieder im System des EPÜ halten könne.
2. Die faktisch aufgeschobene Prüfung von Patentanmeldungen führe zu einer globalen Implosion des Patentsystems.
3. Eine sich als Ausweg aus der dargelegten Gefahr anbietende «mutual recognition» von Amt zu Amt sei abzulehnen. Denn damit bestünde das Risiko, dass sich die Qualität in eine Abwärtsspirale bewege und auf dem tiefsten gemeinsamen Niveau etabliere.
4. Somit bleibt nach Ansicht des Referenten nur ein Ausweg: Die Flut der Anmeldungen sei im Sinne des «raising the bar» zu dämmen. Eine noch sorgfältigere Prüfung aller Anmeldungen könne auch der grundsätzlichen Kritik am Patentsystem entgegen gehalten werden. Auch ohne gesetzgeberische Interventionen habe es das EPA in der Hand, durch eine restriktivere Praxis und auch durch eine Erhöhung der Produktion die Entwicklung nachhaltig zu beeinflussen. Es könne dies vergleichsweise rasch erreichen. Mehr als irgendein anderes Patentamt habe es die erforderlichen Ressourcen. Auch der entsprechende Wille sei erkennbar, der durch den Verwaltungsrat, aber auch durch die öffentliche Diskussion gestärkt werden müsse. Die im EPÜ geschaffene Ministerkonferenz der Vertragsstaaten könne dabei eine nicht unerhebliche Rolle spielen.
Christoph Gasser / Michael Ritscher | 2008 Ausgabe 9
