Praxis des Immaterialgüterrechts in Europa 2021

Bericht über die INGRES-Tagung vom 1. Februar 2021

Aufgrund der COVID-19 Pandemie konnte die alljährliche, von Michael Ritscher konzipierte und geleitete Tagung zum europäischen Immaterialgüterrecht in diesem Jahr nicht im Jugendstil-Hotel «Zürichberg», sondern nur virtuell stattfinden. Leider musste aus diesem Grund auch der traditionelle Wochenendausflug in den Schnee ausfallen. Trotz der virtuellen Durchführung über «Zoom» nahmen zahlreiche Vertreter von Gerichten und Behörden, der Industrie sowie der Anwaltschaft aus mehreren Staaten teil, um sich über die neuesten Entwicklungen des Immaterialgüterrechts in Europa auszutauschen.

Louisa A. Galbraith, Rechtsanwältin, Zürich.

I. Patentrecht und Know-how Schutz
1. Aktuelle Rechtsprechung des BGH zum Patentrecht

Dr. Klaus Grabinski (Richter am Deutschen Bundesgerichtshof) wies zunächst darauf hin, dass am BGH Übertragungen von Verhandlungen per Video mittlerweile zur Tagesordnung gehörten. Daraufhin stellte er einen Entscheid des BGH (X ZR 62/17, GRUR 2020, 159, «Lenkergetriebe») vor, welcher sich mit der Auslegung von Patentansprüchen beschäftigte. Konkret hatte das Klagepatent eine Kaltfräse zum Fahrbahndeckenausbau zum Gegenstand. Im Stand der Technik bekannte Kaltfräsen verfügten auf der Nullseite über einen Schwenkarm für das hintere Stützrad. Am Stand der Technik bemängelte das Patent, dass das nullseitige hintere Stützrad und seine einseitige vertikale Lagerung den freien Blick auf den Arbeitsraum vor der Fräswalze sowohl im aus- als auch im eingeschwenkten Zustand behinderten und zudem (vertikal) viel Platz benötigten. Die Aufgabe des Klagepatents bestand daher darin, eine Konstruktion für die Verschwenkung zu bilden, welche die Sicht nicht beeinträchtigte. Bei der Beurteilung der Patentverletzung durch die angegriffene Ausführungsform war insbesondere Merkmal 1.8 des Klagepatents von Relevanz, wonach das Stützrad über ein Lenkergetriebe von der äusseren Endposition in die innere Endposition verschwenkbar ist. Dieses Merkmal wurde vom vorinstanzlichen Berufungsgericht so ausgelegt, dass das Lenkergetriebe nur einen erfindungswesentlichen Beitrag dazu leisten müsse, dass das hintere Stützrad mittels eines Verschwenkmechanismus in die innere Endposition gelange. Der BGH widersprach dieser Auslegung und hielt fest, es reiche nicht aus, wenn ein Lenkergetriebe lediglich die Voraussetzungen für die Verschwenkbewegung von der äusseren in die innere Endposition des Stützrads schaffe, aber an der Verschwenkbewegung selbst nicht teilnehme. Fordere der Patentanspruch die Eignung der geschützten Vorrichtung, einen bestimmten Vorgang ausführen zu können, und benenne er ein Mittel, über das diese Eignung erreicht werden solle, sei der Patentanspruch im Zweifel dahin auszulegen, dass das Mittel dazu vorgesehen sei und dementsprechend geeignet sein müsse, an dem Vorgang, wenn er ausgeführt wird, in erheblicher Weise mitzuwirken.

Der zweite von Grabinski vorgestellte Entscheid des BGH betraf den FRAND-Einwand bei Verletzung eines standard-essentiellen Patents (BGH, NZKart 2020, 441, «FRAND-Einwand»). Die Klägerin in diesem Fall war Inhaberin eines Europäischen Patents betreffend ein Verfahren zum Aufbau eines Datenanrufs in einem Mobilkommunikationssystem. Die Beklagten gehörten demselben Konzern an und vertrieben in Deutschland Mobiltelefone und Tablets. Da das Patent während des Berufungsverfahrens ablief, hatten sich die Parteien über den Unterlassungsanspruch bereits geeinigt. Das Berufungsgericht und der BGH nahmen übereinstimmend eine Patentverletzung an, der BGH verneinte allerdings, dass der kartellrechtliche Zwangslizenzeinwand greift. Im Gegensatz zum Berufungsgericht verneinte der BGH die Bereitschaft der Beklagten zum Abschluss eines Lizenzvertrags zu FRAND-Bedingungen, da die Erklärung der Beklagten mehr als ein Jahr nach dem ersten Verletzungshinweis der Klägerin und insbesondere nicht unbedingt erfolgte. Es lag somit kein Missbrauch einer marktbeherrschenden Stellung vor. Der BGH führte schliesslich in einem «obiter dictum» aus, dass selbst wenn in der Erhebung der Unterlassungsklage ein Missbrauch der marktbeherrschenden Stellung der Klägerin gelegen hätte, die Geltendmachung des Schadensersatzanspruchs kein Missbrauch der marktbeherrschenden Stellung und damit durchaus begrün|det gewesen wäre. Weiter hielt der BGH fest, dass in diesem Fall auch dem Verletzer ein Anspruch auf Ersatz des Schadens zugestanden hätte, der ihm wegen Nichterfüllung seines Anspruchs auf Abschluss eines Lizenzvertrages zu FRAND-Bedingungen entstanden ist.

Schliesslich stellte Grabinski noch einen Entscheid zur offenkundigen Vorbenutzung vor (BGH vom 21. April 2020, X ZR 75/18, «Konditionierverfahren»). Das Streitpatent in diesem Fall betraf ein Verfahren und eine Vorrichtung zur Konditionierung von Halbleiterwafern. Wichtig für die Beurteilung der offenkundigen Vorbenutzung war die Tatsache, dass ein normaler Anwender keinen Einblick in die patentgemässe Vorrichtung hatte, da diese nur unter bestimmten Bedingungen überhaupt geöffnet werden konnte. Die Vorinstanz stellte fest, dass die Anlage ohne Geheimhaltungserklärung und Geheimhaltungsinteresse an die Abnehmerin geliefert worden sei, weshalb die Möglichkeit bestanden habe, dass Dritte Kenntnis davon erlangt hätten. Der BGH widersprach dieser Auffassung und hielt fest, dass eine theoretische Möglichkeit, dass Dritte Kenntnis von der Erfindung erlangt haben, nicht genüge. Im vorliegenden Fall seien die Anlagen nicht durch Mitarbeiter der Abnehmerin, sondern durch solche der Patentinhaberin gewartet worden. Es sei daher nicht möglich gewesen, ohne Zustimmung der Patentinhaberin in die Maschine hineinzuschauen, und es gebe auch keine Anhaltspunkte, dass Mitarbeiter der Abnehmerin versucht hätten, nähere Erkenntnisse über die Anlage zu erhalten. Der BGH verneinte aus diesem Grund eine offenkundige Vorbenutzung.

Simon Holzer stellte zum zweiten vorgestellten Fall die Frage, ob daraus geschlossen werden könne, dass auch ein Patentinhaber, der ein diskriminierendes Angebot macht, Anspruch auf Unterlassung hat, wenn der Implementierer seinerseits seinen Pflichten nicht nachgekommen ist. Grabinski verwies hierzu auf den EuGH-Entscheid i.S. «Huawei» und führte aus, es handle sich in solchen Fällen um ein «Pflichten-Ping-Pong» zwischen Patentinhaber und Implementierendem. Im vorliegenden Fall sei es aber gar nicht zu einem konkreten FRAND-Angebot gekommen, da der Implementierende keine unbedingte Bereitschaft zum Vertragsabschluss gezeigt habe. Tobias Bremi wies hinsichtlich des dritten vorgestellten Falls darauf hin, dass ein Schweizer Gericht möglicherweise anders entschieden hätte, und stellte die Frage, wo denn die Grenze gezogen würde. Es müsse womöglich auch berücksichtigt werden, wo sich beispielsweise die Betriebsanleitung der Vorrichtung befunden habe. Grabinski führte aus, der Entscheid sei soweit klar, als dass eine offenkundige Vorbenutzung nicht nur dann ausgeschlossen sei, wenn eine Geheimhaltungsvereinbarung getroffen wurde. Die offenkundige Vorbenutzung müsse im Einzelfall beurteilt werden, und es handle sich beim vorgestellten Fall wohl eher um einen Ausnahmefall. Bremi gab zu bedenken, dass mit einer solchen Entscheidung Pandoras Büchse geöffnet und möglicherweise eine Neuheitsschonfrist eingeführt werde. Grabinski hielt die Entscheidung in einem Fall, wo aus faktischen Begebenheiten ausgeschlossen werden kann, dass jemand die Technik analysiert, für richtig, betonte jedoch noch einmal dessen Einzelfallcharakter. Ritscher begrüsste die Entscheidung insoweit, als sie die Richter zwinge, sich mit dem Patentgegenstand und den konkreten Umständen auseinanderzusetzen.

2. Wichtigste rechtspolitische Entwicklungen im Europäischen Patentsystem

Dr. Stefan Luginbühl (Direktion Internationale Rechtsangelegenheiten des Europäischen Patentamts) gab zunächst einen Überblick zum aktuellen Stand des einheitlichen Patentgerichts (UPC): Im Juli 2020 erklärte Grossbritannien den Rückzug seiner Ratifizierung, womit noch 15 Staaten verbleiben, die bereits ratifiziert haben (darunter auch Frankreich und anstatt Grossbritannien Italien). Ausstehend ist weiterhin die Ratifizierung durch Deutschland. Im Frühling 2020 fiel der Entscheid des deutschen Bundesverfassungsgerichts, der Verfassungsbeschwerde stattzugeben. Kurz darauf wurde in Deutschland ein dritter Ratifizierungsversuch lanciert, und das Zustimmungsgesetz wurde erneut dem Parlament vorgelegt. Die Kleine Kammer nahm das Gesetz am 18. Dezember 2020 einstimmig an, nachdem der Bundestag es bereits deutlich angenommen hatte. Ebenfalls am 18. Dezember wurden zwei neue Verfassungsbeschwerden eingereicht, und es wurde beantragt, dass der Bundespräsident den Vollzug des Gesetzes aussetzt. Der Inhalt der Beschwerden ist dem EPA noch nicht bekannt. Es kann nicht ausgeschlossen werden, dass diese Beschwerden erneut eine massgebliche Verzögerung bewirken. Das EPA geht jedoch davon aus, dass das Bundesverfassungsgericht die Beschwerden nicht annimmt.

Weiter berichtete Luginbühl über den Abschluss der ersten Runde im Konvergenzprogramm, welches darauf abzielt, Unterschiede in der Verwaltungspraxis der nationalen Patentämter auszuräumen. Bis zum Abschluss des Programms im Jahr 2023 werden in diesem Rahmen jedes Jahr zwei neue Themen diskutiert. Letztes Jahr wurden Standards zur Mindestbegründung im Bereich der fehlenden Einheitlichkeit festgelegt. Die zweite Arbeitsgruppe beschäftigte sich mit der Erfindernennung. Dieses Jahr werden die Themen «Prioritätsdatum» und «Wiedereinsetzung» behandelt.

Schliesslich wies Luginbühl darauf hin, dass die Schweiz an dritter Stelle bei der Anzahl eingegangener Patentanmeldungen stehe, sich jedoch die Anzahl der beim EPA angestellten Schweizer weiter verringert habe. Es handle sich hierbei aus seiner Sicht um eine bedenkliche Entwicklung für ein aus wirtschaftlicher Sicht wichtiges Land.

3. Aus der Praxis der Beschwerdekammern des EPA

Im Anschluss referierte Fritz Blumer (Mitglied der Juristischen Beschwerdekammer, Europäisches Patentamt) über die Entwicklungen in den Beschwerdekammern des EPA im Jahr 2020. Blumer wies zunächst auf eine Revision der Bestimmungen zum «verspäteten Vorbringen» in der Verfahrensordnung hin. Neu werden dabei drei Phasen unterschieden: 1) Zu Beginn des Beschwerdeverfahrens können nur |Beweise und Tatsachen vorgebracht werden, die der Entscheidung der Vorinstanz zu Grunde lagen. Alles Weitere muss als Änderung gekennzeichnet werden, 2) bis zur Ladung zur mündlichen Verhandlung dürfen Änderungen nur vorgebracht werden, wenn sie begründet bzw. gerechtfertigt werden können, 3) nach der Ladung zur mündlichen Verhandlung sind Änderungen nur noch möglich, wenn aussergewöhnliche Umstände geltend gemacht werden.

Blumer führte weiter aus, Videokonferenzen seien beim EPA früher immer abgelehnt worden, mittlerweile jedoch zum Standard geworden. Mittlerweile würden die Verhandlungen für die Öffentlichkeit zugänglich im Internet übertragen. Nun werde eine Ergänzung der VerfO per 1. April 2021 vorgeschlagen, wonach die zuständige Kammer über die Durchführung einer Videokonferenz auf Antrag oder von Amtes wegen entscheiden könne. Eine Zustimmung der Parteien wäre demnach nicht mehr notwendig.

Blumer leitete im Anschluss über zur Rechtsprechung: In der Entscheidung T 844/18 ging es um die Übertragung von Prioritätsrechten. Die Prioritäts-Anmeldung wurde von einer Gruppe von Erfindern in den USA eingereicht. Dazwischen wurde neuer Stand der Technik publiziert. Einer der Erfinder reichte danach beim EPA eine Patentanmeldung unter Beanspruchung der Priorität an. Die Einspruchsabteilung widerrief das Patent aufgrund des «all applicants/same applicants approach». Demnach kann ein Erfinder die Priorität nicht alleine beanspruchen. Gemäss dem Wortlaut von Art. 87(1) EPÜ geniesst «jedermann» der eine entsprechende Anmeldung eingereicht hat, das Prioritätsrecht. Die Beschwerdekammer hielt fest, die Auslegung von Art. 87 EPÜ dürfe Art. 19 PVÜ nicht widersprechen. Der «all applicants approach» sei ständige Rechtsprechung und solle nicht umgestossen werden. Daher hielt die Beschwerdekammer die Entscheidung der Einspruchsabteilung aufrecht.

In T 1604/16 musste eine offenkundige Vorbenutzung betreffend eine faltbare Rampe für das Verladen eines Rollstuhls in ein Auto beurteilt werden. Die Einspruchsabteilung bejahte eine solche Vorbenutzung basierend unter anderem auf einer Zeugenaussage. Die Beschwerdekammer stellte fest, dass sie die vor der Vorinstanz vorgebrachten Beweise und damit auch die Zeugenaussage frei würdigen könne. Sie führte insbesondere aus, dass das Prinzip der freien Beweiswürdigung sich auf alle Arten von Beweisen erstrecke und dass eine Anwendung der in der Entscheidung T 1418/17 festgelegten Kriterien die Zuständigkeit der Beschwerdekammern massiv einschränken würde. Während eine solche Einschränkung bei nationalen Gerichten möglicherweise gerechtfertigt sei, bestehe hierfür im EPÜ keinerlei Grundlage.

Die Entscheidung T 161/18 wurde in zahlreichen Blogs diskutiert. Die patentgemässe Erfindung betraf die Bestimmung des Herzzeitvolumens aus einer Blutdruckkurve, die in der Peripherie gemessen wird. Dieser Druck wird mit Hilfe eines künstlichen neuronalen Netzes in einen äquivalenten Aortendruck transformiert. Die Gewichtungswerte des neuronalen Netzes werden durch Lernen bestimmt. Die Beschwerdekammer stellte fest, dass das erfindungsgemässe Training des neuronalen Netzes nicht im Detail offenbart und daher nicht ausführbar sei. Die blosse Verwendung eines künstlichen neuronalen Netzes führe nicht zu einem speziellen technischen Effekt, der die erfinderische Tätigkeit begründen könnte. Diese Entscheidung ist gemäss Blumer eine Erinnerung daran, dass auch im Bereich der künstlichen Intelligenz «normales» Patentrecht zu Anwendung kommt.

In T 2037/18 hielt die zuständige Beschwerdekammer in einem Fall zur offenkundigen Vorbenutzung fest, dass bei einer Übergabe eines vorbenutzten Gegenstands durch den Einsprechenden eine etwaige Geheimhaltungsvereinbarung durch den Patentinhaber zu beweisen sei. Dabei bestehe keine Vermutung, dass in einem Liefervertrag Vertraulichkeit vereinbart worden sei. In T 1085/13 – ebenfalls betreffend Neuheit – änderte die zuständige Beschwerdekammer die bisherige Rechtsprechung aus T 990/96 und schloss, dass ein Anspruch auf eine chemische Verbindung von bestimmter Reinheit nur als neuheitsschädlich vorweggenommen gelte, wenn der entgegengehaltene Stand der Technik die beanspruchte Reinheit wenigstens implizit offenbare.

Schliesslich wandte sich Blumer der viel beachteten Entscheidung der Grossen Beschwerdekammer G 3/19 zur Patentierbarkeit von Pflanzen zu. Der Entscheidung ging eine heftig geführte Diskussion zur Auslegung von Art. 53 EPÜ voraus. Die Grosse Beschwerdekammer hatte sich in ihren früheren Entscheiden G 2/12 und G 2/13 für eine Patentierung von Pflanzen ausgesprochen. Die Ausführungsordnung zum EPÜ wiederum sieht vor, dass Patente für Pflanzen nicht erteilt werden. Es stellten sich schliesslich institutionelle Fragen, insbesondere, ob der Verwaltungsrat des EPA eine Auslegung klarstellen kann, obwohl die Beschwerdekammern bzw. die Grosse Beschwerdekammer anderer Meinung sind. Am Ende lenkte die Grosse Beschwerdekammer ein und folgte in G 3/19 bei der Auslegung von Art. 53 EPÜ der Bestimmung in der AO EPÜ. Es kann zusammenfassend festgehalten werden, dass die Entscheidung viele Diskussionen auslöste, die schliesslich mit der Patentierbarkeit von Pflanzen nichts mehr zu tun hatten. Blumer wies ergänzend noch auf die beiden derzeit hängigen Verfahren vor der Grossen Beschwerdekammer hin (G 1/19 zur Patentierbarkeit von Simulationen und G 4/19 zum Doppelpatentierungsverbot).

Beat Weibel merkte an, dass die Durchführung von Verhandlungen via Videokonferenz grundsätzlich sinnvoll erscheine, es sei jedoch störend, dass dies einfach amtsseitig beschlossen werden könne. Er warf die Frage auf, ob dadurch nicht das rechtliche Gehör der Parteien verletzt werde. Weiter hielt er fest, dass Prioritätsrechte unbestrittenermassen übertragbar seien, und fragte, wie dies mit der Entscheidung T 844/18 vereinbar sei. Blumer antwortete, der vorgestellte Entscheid äussere sich zum Thema der Rechtsnachfolge nicht. Obwohl Rechtsnachfolger sich explizit auf die Priorität berufen könnten, seien in dieser Hinsicht noch viele Fragen offen, beispielsweise nach welchem Recht die Rechtsnachfolge bestimmt werden sollte oder ob die Beschwerdekammern diese überhaupt überprüfen dürften. |Grabinski bemerkte zur Frage der Videokonferenzen, dass in Art. 28a der deutschen ZPO eine Regelung hierzu bestehe. Das Gericht könne demnach den Parteien gestatten, sich von einem anderen Ort zu äussern. Dies sollte pragmatisch angesehen werden, und es sollte den Parteien freigestellt bleiben, ob sie lieber vor Ort sein oder per Video teilnehmen möchten. Vor dem Hintergrund der geltenden Beschränkungen muss jedoch immer eine Waffengleichheit hergestellt werden. Allgemein wäre es unglücklich, wenn das Gericht allein bestimmt, dass die Parteien nur per Video teilnehmen können. Ritscher stellte fest, Bremi habe gerade die Frage nach der grenzüberschreitenden Zeugenbefragung aufgeworfen. Grabinski antwortete, es gebe eine EU-Verordnung, welche die Vernehmung von Zeugen regle und eine gewisse Flexibilität ermögliche. Blumer ergänzt, dass diese Frage nun neu auch in der AO EPÜ geregelt sei.

4. Praxis der nationalen Gerichte zum EPÜ

Dr. Martin Wilming (Europäischer Patentanwalt) stellte zunächst einen Entscheid des Deutschen BGH vor (BGH vom 13. Februar 2020, X ZR 6/18, «Bausatz»). Konkret ging es um Befestigungsvorrichtungen für wandhängende Objekte (freihängende Toiletten). Hierfür wird ein Gewinderohr in der Wand eingelassen und darauf eine Hülse aufgeschraubt. Diese Hülse hat ein Vormontagegehäuse mit drei abstehenden Flügeln und Widerhaken am Ende der Flügel. Das Streitpatent offenbarte zudem noch eine zweite Ausführungsform, wo Hülse und Vormontagegehäuse nicht mehr separat, sondern einstückig ausgebildet waren. Das Patent beanspruchte schliesslich einen Bausatz mit einem Vormontagegehäuse zur Herstellung des Kontakts zwischen Gehäuse und Objekt. Das Bundespatentgericht stellte eine unzulässige Zwischenverallgemeinerung fest, zumal das Merkmal der «Flügel» nicht in den Anspruch ausgenommen worden sei. Der BGH folgte dieser Auffassung nicht und führte aus, bei der Ausschöpfung des Offenbarungsgehalts seien auch Verallgemeinerungen ursprünglich offenbarter Ausführungsbeispiele zulässig. Dies gelte insbesondere dann, wenn von mehreren Merkmalen eines Ausführungsbeispiels, die zusammengenommen, aber auch für sich betrachtet dem erfindungsgemässen Erfolg förderlich sind, nur eines oder nur einzelne in den Anspruch aufgenommen worden seien. Es liessen sich im vorliegenden Fall den Anmeldeunterlagen keine Anhaltspunkte dafür entnehmen, dass es für die Lösung des Problems, mit dem sich die Anmeldung befasst, darauf ankommt, dass der Kontakt zwischen Hülse und aufzuhängendem Objekt mit Vormontagemitteln hergestellt wird, die die bei beiden Ausführungsbeispielen übereinstimmend vorgesehenen elastisch verformbaren Flügel mit hakenförmigen Enden aufweisen. Eine unzulässige Zwischenverallgemeinerung lag somit nicht vor. Wilming wies darauf hin, dass der Entscheid in der Schweiz oder vor dem EPA wohl anders ausgefallen wäre, da eine untrennbare Verknüpfung von Merkmalen vorliegt.

Wilming stellte weiter einen Entscheid aus den Niederlanden des Hague Court of Appeal vor (C/09/519083/HA ZA 16–1117), in welchem es um das anwendbare Recht auf die Übertragung von Prioritätsrechten ging. Während im vorliegenden Fall in der Prioritätsanmeldung in den USA nur die Erfinder als Anmelder genannt waren, wurde die PCT-Anmeldung von den Erfindern und ihren Arbeitgebern (juristische Personen) gemacht. In der nationalen Phase vor dem EPA waren sodann nur noch die juristischen Personen als Anmelder genannt. Die vertragliche Regelung war vorliegend klar; alle Erfinderrechte wurden rechtzeitig an die Arbeitgeber übertragen. Es stellte sich allerdings noch die Frage, welches Recht auf die Übertragung anwendbar ist. Das Gericht stellte zunächst fest, das Prioritätsrecht sei kein Recht, welches vom Land der Prioritätsanmeldung gewährt werde, sondern vom Bestimmungsland. Weiter erwog das Gericht, dass die Frage des Anspruchs auf das Prioritätsrecht entweder nach dem Patenrecht beurteilt werden könne, womit die lex loci protectionis und somit das EPÜ anwendbar wäre. Oder es sei denkbar, dass das Eigentumsrecht diese Frage beantworte, was für die Anwendung der lex rei sitae, also des Kollisionsrechts, sprechen würde, womit man jedoch trotzdem wieder zum EPÜ gelange. Das EPÜ kenne keine Formvorschriften in Bezug auf die Übertragung des Prioritätsrechts. Wilming wies im Folgenden auf die deutsche Rechtsprechung des BGH zu dieser Thematik hin, wonach die Übertragung des Rechts zur Inanspruchnahme der Priorität dem Recht des Staates der ersten Anmeldung unterstehen soll (BGH vom 16. April 2013, X ZR 49/12, «Fahrzeugscheibe»). Schliesslich leitete Wilming über auf Artikel 122 des Schweizer IPRG, wonach auf den Übertragungsvertrag das Recht anwendbar ist, in dem der Überträger seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat, und wonach eine Rechtswahl zulässig ist. In diesem Zusammenhang bestehen in der Schweiz zwei Theorien: Gemäss der Einheitstheorie sind Verpflichtungs- und Verfügungsgeschäft als Einheit anzusehen, und beide unterstehen dem Vertragsstatut. Die Spaltungstheorie hingegen besagt, dass auf das Verpflichtungsgeschäft das Vertragsstatut, auf das Verfügungsgeschäft allerdings das Recht des Schutzlandes anzuwenden ist.

Schliesslich erwähnte Wilming einen weiteren Entscheid aus den Niederlanden, in welchem es um die Formulierung der objektiven Aufgabe des Streitpatents ging. Das Gericht lehnte die vom Patentinhaber gewünschte Formulierung einer komplexeren Aufgabe ab, da sich diese nicht aus der Patentbeschreibung ergebe. Wilming wies auf die Rechtsprechung des EPA zur Umformulierung der im Patent genannten Aufgabe hin. Während T 606/99 feststellte, man müsse zunächst von der im Patent genannten Aufgabe ausgehen und könne diese erst umformulieren, wenn sie nicht gelöst werde, wurde in T 1861/17 erwogen, dass die Aufgabe «logischerweise» erst korrekt formuliert werden könne, wenn der nächstliegende Stand der Technik ermittelt worden sei.

Blumer bestätigte im Anschluss an den Vortrag, dass die Rechtsprechung des EPA zu Zwischenverallgemeinerungen sicherlich strenger sei. Wenn jedoch eine Lehre aus einem Beispiel als allgemeine Lehre dargestellt werden könne, sei ein Erfolg allerdings trotzdem möglich. Grabinski hielt die Entscheidung zur Übertragung von Prioritäts|rechten aus den Niederlanden aus deutscher Sicht für überraschend. Die Lehre spreche sich für die Anwendung von Art. 14 der Rom-I-Verordnung aus. Das Prioritätsrecht werde als forderungsähnliches Recht angesehen. Es gelte, dass das Recht der Voranmeldung zur Anwendung komme, was die Frage der Übertragbarkeit anbelange. Auch auf Formanforderungen sei das EPÜ gemäss BGH nicht anwendbar. Betreffend die Übertragungsvereinbarung würde auf das Vertragsstatut abgestellt. Bei Arbeitnehmererfindungen mit gesetzlich vorgesehenem Übergang stelle sich dann auch noch einmal die Frage, was mit dem Prioritätsrecht geschehe.

II. Markenrecht
1. EU-Praxis Markenrecht 2020

Dr. Verena von Bomhard (Rechtsanwältin) führte zunächst aus, das Jahr 2020 sei für die Beschwerdekammern des EUIPO ein produktiveres Jahr als 2019 gewesen. Die Erfolgsrate beim EuG halte sich relativ stetig zwischen 17% und 20%, wobei die Kläger bei der Geltendmachung von relativen Ausschlussgründen in der Regel viel erfolgreicher seien. Seit der Einführung des Zulassungsverfahrens im Mai 2019 habe der EuGH keine einzige Beschwerde mehr angenommen. Alle Entscheide aus dem Jahr 2020 waren Beschwerden bzw. Rechtsmittel, die vor diesem Zeitpunkt eingereicht wurden.

In der Folge stellte von Bomhard einige Entscheide zum Waren- und Dienstleistungsverzeichnis vor. In der Entscheidung «Skykick» (C-371/18) hielt der EuGH fest, dass kein Nichtigkeitsgrund vorliege, wenn eine Marke mit einem vagen Begriff wie «Software» bereits eingetragen sei. Eine Nichtigkeit könne in einem solchen Fall allenfalls mit Bösgläubigkeit und nach 5 Jahren mit fehlender Benutzung begründet werden. Die Entscheidung «Burlington» (C-155/18 P bis C-158/18 P) beschäftigte sich mit einem Widerspruch basierend auf der Marke «Burlington» für Einkaufspassagen. Das EuG hielt hierzu unter Verweis auf die Praktiker-Rechtsprechung fest, bei Dienstleistungen von Einkaufspassagen sei es erforderlich, die betreffenden Waren genau anzugeben. Der EuGH hob diesen Entscheid auf und hielt fest, der Marke könne die Unterscheidungskraft nicht völlig aberkannt werden. Die Beschwerdekammer des EUIPO gab daraufhin dem Widerspruch aus der Marke «Burlington» für Einkaufspassagen gegen die Marke «Burlington» für Strümpfe statt. In den zwei «Juvederm» Entscheidungen (T-664/196 und T-104/19) ging es um die Klassifizierung von Hautfüllern. Bei Hautfüllern handelt es sich demnach um nicht zusammengesetzte Produkte, weshalb sie ausschliesslich in die Nizza-Klasse 5 fallen, selbst wenn sie in eine vorgefüllte Spritze abgefüllt sind. Zusammengesetzte Produkte wie ein EpiPen könnten jedoch ausnahmsweise in zwei Nizza-Klassen fallen.

Von Bomhard leitete danach über zum Thema der Bösgläubigkeit, welches in den Entscheidungen aus dem Jahr 2020 allgegenwärtig war. Dies ist insofern erstaunlich, als es für lange Zeit geradezu verschrien war, eine Marke aus Bösgläubigkeit zu löschen. Diese Schwelle wurde nun spürbar gesenkt. Im Jahr 2020 erfolgten 141 Entscheidungen der Löschungsabteilung des EUIPO zur Bösgläubigkeit. In 67 davon wurde die Bösgläubigkeit bejaht. Vor der zweiten Instanz (Beschwerdekammern) wurde die Bösgläubigkeit immerhin in 23 von 43 Fällen bejaht. Vom EuG kamen drei, vom EuGH zwei Entscheidungen zu diesem Thema. Von Bomhard identifizierte in der Folge verschiedene Fallgruppen der Bösgläubigkeit. Auf Seiten des Markeninhabers sind dies beispielsweise: «Trademark grabbing», Marktabschottung und Blockierungsabsicht, fehlende Benutzungsabsicht, «re-filing» (Kettenanmeldungen), gewollte Irreführung sowie Fälle des «untreuen Agenten». Auf der Seite des Nichtigkeitsklägers ist eine Missbräuchlichkeit des Verfallsantrags denkbar.

Im Entscheid «Target Ventures» (T-273/19) bejahte das EuG eine Blockierungsabsicht. Demnach war die Marke «Target Ventures» nur eingetragen worden, um den Schutzumfang der eigentlich benutzten Marke «Target Partners» zu stärken. Gemäss EuG ist dies kein Zweck des Markenrechts, sondern Ausdruck einer Blockierungsabsicht.

Der bereits erwähnte Entscheid «Skykick» des EuGH beschäftigte sich mit Bösgläubigkeit aufgrund eines breiten Warenverzeichnisses (fehlende Benutzungsabsicht). Der EuGH führte dazu aus, es sei nicht allein ein Indiz für Bösgläubigkeit, wenn der Markeninhaber zum Zeitpunkt der Anmeldung kein entsprechendes Geschäft betrieben habe. Auch vage Warenangaben und breite Verzeichnisse sind demnach für sich gesehen noch kein alleiniges Indiz für Bösgläubigkeit. Es bleibt gemäss von Bomhard somit weiterhin schwierig, bei einem breiten WDL Bösgläubigkeit zu zeigen.

Zum Thema «re-filing» erging eine interessante Entscheidung der Beschwerdekammern des EUIPO (BK R 1849/2017). Es ging um vier Markeneintragungen für «Monopoly», wobei die Jüngste alle Waren und Dienstleistungen erfasste. Speziell war, dass es nicht um die Umgehung des Benutzungszwangs ging, sondern dass die Markeninhaberin den verfahrensrechtlichen Aufwand der Beibringung von Benutzungsbelegen umgehen wollte. Aus diesem Grund wurde die Marke auch für «Spiele» gelöscht, für welche sie unbestreitbar benutzt wurde. Der Fall ist zurzeit beim EuG hängig. Zwei weitere Fälle zum «re-filing» sind BK R-758/2019 sowie BK R 0351–2020/4. In beiden Fällen wurde die Bösgläubigkeit verneint.

In einem Entscheid der Grossen Beschwerdekammer (R 2445/2017-G) ging es um die Marke «Sandra Pabst» der Peek & Cloppenburg Gruppe. Gegen diese Marke wurde ein Verfallsantrag von einem bekannten «Trademark Troll» gestellt, welcher auch gegen andere Marken von Peek & Cloppenburg weitere 36 Verfallsanträge gestellt hat. Im Jahr 2014 hatte die Markeninhaberin den Verkauf ihrer Marke «fashionnow» als Gegenleistung für den Rückzug der insgesamt 37 Verfallsanträge abgelehnt. Vor diesem Hintergrund qualifizierte die Grosse Beschwerdekammer den Verfallsantrag als rechtsmissbräuchlich.

Schliesslich präsentierte Von Bomhard noch ein «deutsch-schweizerisches Schmankerl»: Der Entscheid «Ferrari (testarossa)» des EuGH (C-720/18, C-721/18) äusserte |sich einerseits in relevanter Weise zum Benutzungszwang, beschäftigte sich aber andererseits auch mit dem deutsch-schweizerischen Abkommen aus dem Jahr 1892. Anders als noch in seiner Entscheidung «BASKAYA» hielt der EuGH fest, dieses Abkommen sei für deutsche Gerichte – auch im innerdeutschen Widerspruchsverfahren – verbindlich. Die Benutzung einer Marke in der Schweiz reicht demnach für den Schutzerhalt in Deutschland aus, und umgekehrt. Die Regelung gilt allerdings nicht für Unionsmarken oder wenn der Widerspruch in Deutschland auf eine Unionsmarke gestützt wird.

Ritscher stellte die Frage, wie die Rechtsmissbräuchlichkeit einer Markeneintragung beurteilt würde, wenn es dem Markeninhaber gerichtlich verboten worden ist, die Marke zu benutzen. Von Bombhard führte hierzu aus, dass die Bösgläubigkeit im Zeitpunkt der Anmeldung vorliegen müsse, weshalb ein nachträgliches gerichtliches Verbot wohl nicht als absoluter Nichtigkeitsgrund gelten könne. Sie weist zusätzlich noch auf den Entscheid des EuGH i.S. «la irlandessa» hin. Die Anmeldung wurde als bösgläubig angesehen, da der Markeninhaber nicht die Absicht hatte, die Produkte je für irische Produkte zu verwenden.

III. Design- und Urheberrecht
1. EuGH «Brompton»

Stefan Hubacher (Rechtsanwalt) befasste sich in seinem Vortrag mit dem Begriff der Technizität am Beispiel des EuGH in einem Urheberrechtsstreit ergangenen Urteils i.S. «Brompton» (C-833/18). Konkret ging es dabei um ein faltbares Fahrrad, welches zwei «Faltpositionen» einnehmen kann. Neben der komplett gefalteten Position steht eine stabile Zwischenposition zur Verfügung, welche es dem Benutzer ermöglicht, das Fahrrad vor sich hin zu schieben, hinter sich her zu ziehen und es sogar als Gepäckträger zu nutzen. Diese Faltfunktion war Gegenstand eines mittlerweile abgelaufenen Patents. Das Handelsgericht Lüttich in Belgien erwog bei der Beurteilung einer Unterlassungsklage von Brompton Bicycles gegen ein Konkurrenzprodukt, ein Gebrauchsgegenstand (wie ein Fahrrad) könne Gegenstand des urheberrechtlichen Schutzes sein. Erforderlich sei jedoch, dass das gleiche Gesamtergebnis auch mithilfe anderer Gestaltungsformen erzielbar ist. Das Gericht verwies in dieser Hinsicht auf die Rechtsprechung des EuGH i.S. «DOCERAM» (C-395/16). Gegenstand von «DOCERAM» war Art. 8 Abs. 1 GGV, wonach ausschliesslich technisch bedingte Geschmacksmuster vom Schutz ausgeschlossen sind. Der EuGH hielt dazu fest, dass für die technische Bedingtheit vorhandene Alternativen nicht alleine ausschlaggebend seien. Viel eher sei massgebend, ob sich die Erscheinung ausschliesslich aus der Funktion ergebe, wobei objektive Umstände, wie insbesondere die Motivation für die Wahl der Erscheinungsmerkmale, der Verwendungszweck oder das Bestehen alternativer Geschmacksmuster zu berücksichtigen seien. Der EuGH stellte hiermit klar, dass auch im Designrecht ausserhalb des Registers liegende Tatsachen zu berücksichtigen sind, wie dies im Zusammenhang mit 3D-Marken ohnehin bereits vorgesehen ist (EuGH vom 10. November 2016, C-30/15 P zum Rubik’s Cube).

In «Brompton» hatte der EuGH die Vorlagefragen zu beantworten, ob Werke, deren Form zur Erreichung eines technischen Ergebnisses erforderlich ist, vom Urheberrechtsschutz ausgeschlossen und, falls ja, welche Kriterien bei der Beurteilung zu berücksichtigen sind. Der EuGH hielt zunächst fest, die Schutzfähigkeit eines urheberrechtlichen Werkes erfordere eine «geistige Schöpfung» und «Originalität». Der Schutzausschlussgrund der technischen Bedingtheit ergebe sich dabei implizit aus dem Kriterium der Originalität. Wo aufgrund technischer Gegebenheiten keine Entscheidungsfreiheit in kreativer Hinsicht bestehe, könne keine Originalität vorliegen. Damit ein Werk originell sei, bedürfe es einer freien und kreativen Entscheidung seitens seines Schöpfers. Wenn ein Gegenstand einzig durch die technische Funktion gekennzeichnet sei, fehle es an einer originellen geistigen Schöpfung. Massgebend seien insbesondere die Motive des Schöpfers, welche anhand aller objektiven Umstände des Einzelfalls zu ermitteln seien. Ein abgelaufenes Patent und die Verfügbarkeit alternativer Gestaltungen könnten, aber müssten nicht Rückschlüsse auf Motive des Schöpfers erlauben. Der Wille des Rechtsverletzers hingegen ist gemäss EuGH irrelevant.

Hubacher wandte sich danach der Frage der Technizität gemäss Schweizer Recht zu. In der Schweiz zeigt sich aufgrund der Ausschlussgründe in Art. 2 lit. b MSchG und in Art. 4 lit. c DesG grundsätzlich dieselbe Ausgangslage wie in der EU. Auch gemäss URG wird in der Schweiz implizit ein Ausschlussgrund angenommen. Gemäss bundesgerichtlicher Rechtsprechung zum Markenrecht (BGE 129 III 514 ff., «LEGO»; BGE 131 III 121 ff., «Smarties-Hülsen»), liegt eine technisch notwendige Form vor, wenn dem Konkurrenten für ein Produkt der betreffenden Art keine alternative Form zur Verfügung steht oder im Interesse eines funktionierenden Wettbewerbs zugemutet werden kann. Betreffend Designrecht hielt das BGer (BGE 133 III 189 ff, «Schmuckschatulle») fest, der Ausschlussgrund der technischen Notwendigkeit sei nur gegeben, wenn keine andere Form zur Verfügung stehe oder vernünftigerweise verwendet werden könne oder wenn zwar eine andere Möglichkeit bestehe, deren Ausführung aber wenig praktisch oder mit grösseren Herstellungskosten verbunden wäre. Gemäss dem Entscheid des BGer i.S. «Max Bill Barhocker» (BGE 143 III 373 ff.) hängt das Mass an Individualität vom Gestaltungsspielraum ab. Wenn aber der Gebrauchszweck die Gestaltung durch vorbekannte Formen derart diktiert, dass für individuelle und originelle Merkmale praktisch kein Raum mehr bleibt, liegt ein rein handwerkliches Erzeugnis vor, das vom Schutz des Urheberrechts auszunehmen ist. Hubacher zog daraus den Schluss, dass in der Schweiz konstant das Kriterium der gleichwertigen Alternativen zur Anwendung kommt, wobei allerdings eine gesamthafte Betrachtungsweise angewandt wird. Der EuGH hingegen bekenne sich zu einer Betrachtung aller Umstände, inklusive der Motivation/Aufgabenstellung. Hubacher beendete seinen Vortrag mit der These, dass der |Miteinbezug von Motiven/Aufgabenstellung legitim und damit der Ansatz des EuGH zu präferieren sei. Weiter führte er aus, die Schwelle zur Schutzfähigkeit eines Werkes dürfe nicht zu tief sein. Insbesondere dürfe das Vorhandensein eines Gestaltungsspielraums nicht genügen, sondern dessen Ausübung sollte in einem originellen Ergebnis münden. Hubacher schloss mit der These, der eigentliche Leistungsschutz solle dem UWG überlassen werden.

Jürg Simon gab zu Bedenken, dass die vorhandenen Probleme nicht zielführend mit der Einführung eines neuen Begriffs der Originalität gelöst werden könnten. Hubacher entgegnete, es ginge auch mehr um eine bewusstere Verwendung der Adjektive technisch «bedingt» bzw. technisch «notwendig». Vor dem Hintergrund der Frage, ob im Designrecht und im Urheberrecht nun unterschiedliche Massstäbe bestünden, wäre eine einheitliche Begrifflichkeit hilfreich. Ritscher hielt fest, dass sich aus «Brompton» immerhin ergebe, dass einmal bestehender Patentschutz nicht per se heisse, dass kein Design- oder Urheberrecht bestehen könne, und interessierte sich dafür, wie von Bomhard die Interpretation der Urteile des EuGH insbesondere zu «Brompton» sieht. Von Bomhard wies darauf hin, dass sich der EuGH ohnehin nicht so sehr mit Begrifflichkeiten beschäftige. Sie begrüsste, dass bestehender Patentschutz den uhreberrechtlichen Schutz wohl überall nicht ausschliesst. Allerdings gab sie zu bedenken, dass die Bemerkungen des EuGH in Bezug auf Parallelitäten in den verschiedenen Rechtsgebieten relativ heikel seien, da auf diese Weise feine Unterschiede gerade in Begrifflichkeiten übergangen werden.

2. Praxis des EuGH

Im Anschluss referierte Rechtsanwalt Dr. Reinhard Oertli zur Praxis des EuGH im Urheberrecht. Im Urteil i.S. Constantin Film gegen Youtube (C-264/19) ging es um die Definition des Begriffs der «Adresse» gemäss Art. 8(2)(a) der Durchsetzungsrichtlinie. Das OLG Düsseldorf hatte eine Pflicht von Youtube und Google zur Übermittlung der E-Mail-Adressen der betreffenden Nutzer bejaht. Der EuGH hingegen konsultierte die Materialien zur Durchsetzungsrichtlinie und stellte fest, mit «Adresse» sei nur die Strassenadresse bzw. Postanschrift des Wohnsitzes oder Aufenthaltsorts gemeint. Es verneinte in der Folge eine Pflicht von Youtube zur Herausgabe von E-Mail-Adressen von Nutzern. Zumal Youtube die Postanschrift seiner Nutzer beim Hochladen eines Videos nicht verlangt, und dies auch nicht muss, konnte Youtube im vorliegenden Fall überhaupt keine Adresse herausgeben.

Oertli wies als nächstes auf die beiden Fälle Frank Peterson/Google, Youtube (C-682/18) und Elsevier/Cyando (C-683/18) hin, in denen es jeweils um die Frage ging, ob eine primäre Haftung von Youtube, Google bzw. Cyando für das Hochladen von urheberrechtlich geschützten Werken zu bejahen ist. Der Generalanwalt Harald Saugmandsgraad verneinte in seinen Schlussanträgen eine selbständige primäre Haftung, da die Betreiber einer Video-Sharing-Plattform und einer Sharehosting-Plattform keine Handlung der öffentlichen Wiedergabe vornähmen, wenn ein Nutzer ihrer Plattformen dort ein geschütztes Werk online stelle. Der Entscheid über das Hochladen eines Inhalts liege ausschliesslich beim Nutzer, und eine automatische Kontrolle (Upload-Filter) oder automatische Empfehlungen des Plattform-Betreibers stellten keine Auswahl bzw. Entscheidung dieses Betreibers über die öffentliche Wiedergabe dar. Weiter sprach sich der Generalanwalt wohl auch gegen eine unselbständige, sekundäre Haftung – also eine Mithaftung für das Hochladen – des Plattform-Betreibers aus. Er betont jedoch, dies beurteile sich grundsätzlich ohnehin nach dem Recht der Mitgliedsländer. Hierzu merkt Oertli an, dass in der Lehre durchaus Meinungen bestünden, welche diese Aussage in Frage stellten. Der Generalanwalt stellte schliesslich fest, der «Safe Harbour» gemäss der Richtlinie über den elektronischen Geschäftsverkehr (RL 2001/31/EG) gelte sowohl in Bezug auf die primäre als auch die sekundäre Haftung. Oertli weist darauf hin, dass sich der Generalanwalt allerdings nicht mit der Frage beschäftigte, ob Plattformbetreiber «in keiner Weise mit den übermittelten Inhalten in Verbindung» stehen, wie dies in Erwägungsgrund 43 zu Art. 12 der Richtlinie verlangt wird. Bei Youtube wäre dies wohl eher nicht der Fall.

Im nächsten vorgestellten Fall (C-637/19) ging es um die Frage, ob eine Einreichung von Beweismitteln beim Gericht als öffentliche Wiedergabe zu qualifizieren ist. Konkret hatte eine Partei eine urheberrechtlich geschützte Zeichnung mittels elektronischer Eingabe (Hochladen auf Gerichtsplattform) als Beweismittel eingereicht. Das Urheberrecht an dieser Zeichnung stand der Gegenpartei zu, welche argumentierte, das Hochladen auf die Gerichtsplattform sei eine öffentliche Wiedergabe. Der EuGH ist dieser Auffassung allerdings nicht gefolgt. Demnach bilden Gerichtsangestellte und Parteien eine geschlossene Gruppe von Personen und keine Öffentlichkeit. Die Tatsache, dass Dritte möglicherweise beim Gericht Akteneinsicht nehmen können, liegt nicht in der Verantwortung der hochladenden Partei, sondern wird vom Gericht in einem separaten Verfahren entschieden.

Im Entscheid Stim, SAMI/Fleetwagen Sweden, Nordisk Biluthyming (C-753/18) befasste sich der EuGH ebenfalls mit der öffentlichen Wiedergabe. Es stellte sich konkret die Frage, ob ein Autovermieter, welcher standardmässig mit einem Radioempfangsgerät ausgestattete Fahrzeuge vermietet, den Tatbestand einer öffentlichen Wiedergabe erfüllt Der EuGH verneinte diese Frage. Es handle sich dabei bloss um die Bereitstellung von Einrichtungen, die eine Wiedergabe ermöglichen. Oertli wies darauf hin, dass dies mit der Rechtsprechung des BGH (ZR 21/14) übereinstimme, wonach bei der Bereitstellung von Fernsehempfängern mit Zimmerantenne in Hotelzimmern keine Urheberrechtsverletzung vorliege. Er stellte zudem die Frage, ob die Beurteilung anders auszufallen hätte, wenn der Autovermieter in den vermieteten Autos beispielsweise Dienste wie Spotify installieren würde, für welche er bezahlt.

Dem Entscheid Atresmedia/AGEDI, AIE (C-147/19) lag der Sachverhalt zu Grunde, dass Atresmedia – eine Be|treiberin von Fernsehsendern in Spanien – einen Film ausstrahlte, in welchen mit Zustimmung der betroffenen Rechteinhaber Musik eingefügt wurde. Die Verwertungsgesellschaften AGEDI und AIE, welche die Rechte des geistigen Eigentums von Tonträgerherstellern bzw. von ausübenden Künstlern verwalten, verlangten für die Ausstrahlung des Films die Bezahlung einer Tonträgervergütung. Während die Vorinstanz die Pflicht zur Bezahlung einer Vergütung bejahte, stellte der EuGH fest, die mit der Wiedergabe eines Tonträgers verbundenen Rechte gemäss Vermietrechts- und Verleihrechts-Richtlinie (2006/15/EG) könnten bei der Wiedergabe eines audiovisuellen Werks nicht geltend gemacht werden. Ein Tonelement auf dem Träger eines audiovisuellen Werks könne nicht als Tonträger qualifiziert werden. Die Entschädigung bei der Ausstrahlung von audiovisuellen Werken am TV fliesst demnach an andere Verwertungsgesellschaften, welche diese Beiträge bei ihren Mitgliedern verteilen. Diese Mitglieder wiederum haben eine allfällige Entschädigung für die Musik in eigenen mit den Schaffern der Musik bestehenden Verträgen geregelt.

Peter Thomsen stellte fest, die Thematik der Urheberrechtsverletzungen durch Beweismittel spiele in internationalen Verhandlungen oft eine Rolle hinsichtlich des Zugänglichmachens von Nicht-Patentliteratur. Er stellt die Frage, ob der EuGH sich dazu geäussert habe, dass das betreffende Gericht sicherstellen müsse, dass die Dokumente nicht an die Öffentlichkeit gelangten. Oertli antwortete, dies sei der entscheidende Punkt des Urteils, welcher jedoch am Ende vom EuGH gerade nicht thematisiert worden sei. Die Lösung müsse darin bestehen, dass das Gericht eine Weitergabe an Dritte verweigern könne. Dies sei dem Entscheid jedoch eben gerade nicht zu entnehmen.

Ritscher schloss in der Folge die Tagung, bedankte sich insbesondere bei allen Referierenden und bedauerte, dass er dieses Jahr nicht zum Aperitif einladen kann.