Bericht ĂŒber die INGRES-Tagung vom 5. Januar 2024

Diese traditionelle, wieder von Michael Ritscher konzipierte und geleitete und von Christoph Gasser organsierte Tagung zu den neuesten Entwicklungen im europĂ€ischen ImmaterialgĂŒterrecht fand erneut auf dem ZĂŒrichberg und im Anschluss an ein Wochenende im Schnee statt und war wiederum sehr gut besucht.

Cette traditionnelle confĂ©rence sur les derniers dĂ©veloppements en matiĂšre de propriĂ©tĂ© intellectuelle europĂ©enne, Ă  nouveau conçue et dirigĂ©e par Michael Ritscher et organisĂ©e par Christoph Gasser, s’est Ă  nouveau dĂ©roulĂ©e sur le ZĂŒrichberg et Ă  la suite d’un week-end dans la neige et a de nouveau attirĂ© un grand nombre de participants.

JoĂ«lle LĂŒthi,
MLaw, ZĂŒrich.
Simona De Santis,
MLaw, St. Gallen.
Richard Gao,
MLaw, ZĂŒrich.
I. Patentrecht
1. Praxis des BGH zum Patentrecht
a) Umfang des Vorbenutzungsrechts (BGH vom 20. Juni 2023, X ZR 61/21, «Faserstoffbahn»)

Dr. Klaus Grabinski, Richter am Deutschen Bundesgerichtshof (BGH) und seit ĂŒber sechs Monaten PrĂ€sident des einheitlichen Patentgerichts (UPC), stellte zwei fĂŒr die weitere Rechtsentwicklung relevante Entscheidungen des BGH vor.

In der Entscheidung (BGH vom 20. Juni 2023, X ZR 61/21, «Faserstoffbahn») befasste sich der BGH mit dem Umfang des Vorbenutzungsrecht, welches dem Vorbenutzer eines Produktes zukommt, nachdem ein Gebrauchsmuster angemeldet wurde, welches das eben erwĂ€hnte Produkt in seinem Anspruch schĂŒtzt. Konkret ging es um die Frage, wann die Grenzen eines Vorbenutzungsrechts ĂŒberschritten werden, wenn eine Modifikation vorgenommen wurde.

Gegenstand des Verletzungsverfahrens war eine Slipeinlage. Die Klage stĂŒtzte sich auf die kombinierten AnsprĂŒche 1, 10 und 11, wobei die angegriffene AusfĂŒhrungsform alle Merkmale dieser AnsprĂŒche verwirklichte, wĂ€hrend die vorbenutzte AusfĂŒhrungsform zwar Anspruch 1 umfasste, nicht aber die AnsprĂŒche 10 und 11, weil sie keine superabsorbierende Polymere (SAP) aufwies.

Das Berufungsgericht verneinte das geltend gemachte Vorbenutzungsrecht mangels SAP bei der vorbenutzten Slipeinlage. Auf die Revision der Beklagten hob der BGH das Berufungsurteil auf und wies die Sache zur erneuten Entscheidung und Verhandlung an die Vorinstanz zurĂŒck. Die BegrĂŒndung lautete wie folgt:

Ob der vorbenutzte Gegenstand so modifiziert werden darf, dass er auch SAP umfasst, hĂ€ngt davon ab, ob mit der Modifikation ein zusĂ€tzlicher, durch die Gebrauchsmusterschrift hervorgehobener Vorteil verbunden ist oder ob es sich um eine ohne Weiteres in Betracht zu ziehende Abwandlung des ursprĂŒnglich geschĂŒtzten Gegenstands handelt. Der Umstand, dass SAP Gegenstand eines Unteranspruchs ist, kann zwar dafĂŒr sprechen, dass es sich um einen relevanten zusĂ€tzlichen Vorteil handelt, jedoch ersetzt dies eine inhaltliche PrĂŒfung nicht. Ob eine Modifikation noch vom Vorbenutzungsrecht gedeckt ist, muss sich aus der ursprĂŒnglich eingetragenen Fassung des Gebrauchsmusters ergeben. NachtrĂ€gliche Gebrauchsmusterlöschungsverfahren sind unerheblich.

Als LeitsÀtze gelten:

i) Die Modifikation eines vorbenutzten Gegenstandes, der alle Merkmale eines unabhÀngigen Schutzanspruchs des Klagegebrauchsmusters verwirklicht, kann auch dann von einem Vorbenutzungsrecht gedeckt sein, wenn der vorbenutzte Gegenstand weitere Merkmale, die nach dem Klageantrag zwingend vorgesehen sind, nicht aufgewiesen hat.

ii) Dies gilt unabhĂ€ngig davon, ob lediglich die Verletzungsklage auf eine in der genannten Weise beschrĂ€nkte Fassung eines unabhĂ€ngigen Schutzanspruchs gestĂŒtzt wird oder ob das Gebrauchsmuster in einem Löschungsverfahren entsprechend beschrĂ€nkt worden ist.

b) Beurteilung der erfinderischen TÀtigkeit bei Auswahl aus mehreren Möglichkeiten (BGH vom 13. Juni 2023, X ZR 51/21, «SchlossgehÀuse»)

Im zweiten Entscheid war die Beklagte Inhaberin eines mit Wirkung fĂŒr die Bundesrepublik Deutschland erteilten europĂ€ischen Patents (Streitpatents), das 1999 unter Inanspruchnahme von zwei deutschen PrioritĂ€ten angemeldet wurde und mittlerweile durch Zeitablauf erloschen ist.

Das Streitpatent betrifft ein SchlossgehĂ€use mit elektrischen Anschlusseinrichtungen. Vor dem Hintergrund der AusfĂŒhrungen in der deutschen Offenlegungsschrift (NKL2) betrifft das technische Problem die Bereitstellung eines GehĂ€uses fĂŒr einen Kraftfahrzeug-TĂŒrverschluss, welcher einfach zu montieren ist, allen Anforderungen an die StabilitĂ€t genĂŒgt, einen einwandfreien Kontakt gewĂ€hrleistet und auftretende FederkrĂ€fte möglichst nicht auf die elektrischen Bauteile ĂŒbertrĂ€gt. Zur Lösung schlĂ€gt das Streitpatent in Patentanspruch 1 ein SchlossgehĂ€use vor, welches unter anderem das Merkmal von Anschlussleitern aufweist, welche i.) in etwa als orthogonal zur FĂŒgerichtung aus dem Mikroschalter austreten und ii.) ein in etwa parallel zur FĂŒgeeinrichtung abgewinkeltes Kontaktende enthalten, das eine auffedernde, Ω-förmig ausgebildete Klemmausnehmung hat, die auf Kontaktstege aufsteckbar ist. Das unter ii.) genannte Merkmal wurde in NKL2 nicht offenbart. Hinsichtlich des Stands der Technik hielt der BGH fest, dass nach seiner Rechtsprechung eine erfinderische TĂ€tigkeit nicht auf ein Merkmal gestĂŒtzt werden kann, welches eine beliebige, von einem bestimmten technischen Zweck losgelöste Auswahl aus mehreren Möglichkeiten darstellt (BestĂ€tigung von BGH, GRUR 2008, 56 Rn. 25, «Injizierbarer Mikroschaum», BGH, BecksRS 2018, 40825 Rn. 46). Zudem können mit einem Merkmal verbundene besondere Vorteile nur dann zur BegrĂŒndung einer erfinderischen TĂ€tigkeit herangezogen werden, wenn sie in der Patentschrift offenbart oder fĂŒr die Fachperson erkennbar sind (BestĂ€tigung von BGH, BecksRS 2018, 40825 Rn. 46).

Das besagte Merkmal stellt nach dem BGH jedoch keine beliebige Auswahl im oben genannten Sinne dar. Die Ω-typischen Rundungen fĂŒhren zu einer besonderen Art der Kraftverteilung, die bei anderen Formen nicht in gleicher Weise auftritt. Zudem beurteilte der BGH die ZusammenhĂ€nge zwischen der Form der Ausnehmung und der Art der Federwirkung als allgemeines Fachwissen. Diese waren deshalb fĂŒr die Fachperson erkennbar, weshalb irrelevant ist, dass diese in der Beschreibung nicht ausdrĂŒcklich dargestellt waren.

2. Rechtsprechung der Beschwerdekammern des EPA
a) «PlausibilitĂ€t» als Kriterium fĂŒr die Patentierbarkeit? (G2/21 vom 23. MĂ€rz 2023, Abl EPA 2023, A85)

Anschliessend prÀsentierte Dr. Fritz Blumer, Mitglied einer der Juristischen Beschwerdekammern des EuropÀischen Patentamts (EPA), ausgewÀhlte Rechtsprechung des EPA.

Blumer ging zunĂ€chst auf den Entscheid G 2/21 vom 23. MĂ€rz 2023 ein. Ob eine erfinderische TĂ€tigkeit vorliegt, was entscheidend fĂŒr die Erteilung eines europĂ€ischen Patents ist, richtet sich im Verfahren vor dem EPA nach dem sog. Aufgabe-Lösungs-Ansatz. Dabei können experimentelle Daten, die eine technische Wirkung im Vergleich zum Stand der Technik belegen, zur Feststellung der erfinderischen TĂ€tigkeit beitragen. Da der nĂ€chstliegende Stand der Technik zum Zeitpunkt der Anmeldung hĂ€ufig nicht bekannt ist, enthĂ€lt eine Patentanmeldung hĂ€ufig keine experimentellen Daten, die einen technischen Effekt gegenĂŒber dem nĂ€chstliegenden Stand der Technik fĂŒr das Unterscheidungsmerkmal nach dem Aufgabe-Lösungs-Ansatz zeigen. Es kann entscheidend sein, dass nach der Einreichung der Patentanmeldung experimentelle Daten vorgelegt werden, um eine technische Wirkung im Vergleich zum Stand der Technik nachzuweisen. GemĂ€ss den aktuellen Richtlinien können solche Nachweise, die zur Bewertung der erfinderischen TĂ€tigkeit dienen, auch nach dem Anmeldetag als «nachveröffentlichte Beweismittel» («post-published evidence») wirksam sein. Allerdings können neu erwĂ€hnte technische Wirkungen nur berĂŒcksichtigt werden, wenn sie bereits in der ursprĂŒnglichen Anmeldung impliziert waren oder zumindest damit im Zusammenhang stehen.

Im Vorlagefall T 116/18 vor der technischen Beschwerdekammer war die beanspruchte Erfindung eine Mischung von zwei vorbekannten Insektiziden A und B, wobei das Argument fĂŒr die erfinderische TĂ€tigkeit deren synergistische Wirkung war. FĂŒr das EPA sind neu eingereichte experimentelle Daten fĂŒr die Feststellung der erfinderischen TĂ€tigkeit entscheidend. Diese Daten ermöglichen es, eine anspruchsvolle technische Aufgabe zu formulieren, bei der eine synergistische AktivitĂ€t von Insektiziden gegen einen bestimmten SchĂ€dling nachgewiesen werden soll. Die RechtsbestĂ€ndigkeit des Patents hĂ€ngt daher von der BerĂŒcksichtigung dieser Daten ab. Es stellte sich somit die Frage, wie mit nachveröffentlichten Beweismitteln umzugehen ist. In der Vorlageentscheidung wurden folgende Fallgruppen identifiziert:

i) «Ab inito plausibility»: BerĂŒcksichtigung der nachveröffentlichten Beweismittel, wenn die Fachperson am Anmeldetag der strittigen Patentanmeldung ausgehend von den darin enthaltenen Angaben oder vom allgemeinen Fachwissen die Wirkung fĂŒr plausibel erachtet hĂ€tte.

ii) «Ab initio implausibility»: BerĂŒcksichtigung, wenn die Fachperson am Anmeldetag der strittigen Patentanmeldung ausgehend von den darin enthaltenen Angaben oder vom allgemeinen Fachwissen keinen Grund gesehen hĂ€tte, die Wirkung fĂŒr unplausibel zu erachten.

iii) «No plausibility»: Die Frage nach der PlausibilitÀt wird nicht gestellt.

Die Grosse Beschwerdekammer des EPA hatte folgende Vorlagefragen zu beantworten: Wenn sich der Patentinhaber fĂŒr die Anerkennung erfinderischer TĂ€tigkeit auf eine technische Wirkung beruft und Beweismittel vorlegt, die vor dem Anmeldetag nicht öffentlich zugĂ€nglich waren und erst nach diesem Tag eingereicht wurden, i.) ist dann eine Ausnahme vom Grundsatz der freien BeweiswĂŒrdigung dahingehend zuzulassen, dass nachveröffentlichte Beweismittel unberĂŒcksichtigt bleiben mĂŒssen, weil der Nachweis fĂŒr die Wirkung ausschliesslich auf diesen beruht? und ii.) wenn diese Frage bejaht wird, gilt dann Ab-initio-PlausibilitĂ€t bzw. Ab-initio-UnplausibilitĂ€t? Nach der Grossen Beschwerdekammer dĂŒrfen die nachveröffentlichten Beweismittel nicht allein aus dem Grund nicht unberĂŒcksichtigt bleiben, dass sie vor dem Anmeldetag des Streitpatents nicht öffentlich zugĂ€nglich waren und erst nach diesem Tag eingereicht wurden, da der Grundsatz der freien BeweiswĂŒrdigung einerseits uneingeschrĂ€nkt gilt und es hierbei andererseits nicht um Ausnahmen der freien BeweiswĂŒrdigung geht, sondern eher um etwas, das der Anmelder nachweisen muss, damit er sich auf eine streitige Wirkung der Erfindung stĂŒtzen kann. Ein Patentanmelder oder -inhaber kann nach dem Anmeldetag Beweise fĂŒr eine technische Wirkung einreichen. Diese Beweise werden anerkannt, wenn ein Fachmann anhand des allgemeinen Fachwissens und der ursprĂŒnglichen Offenbarung der Anmeldung nachvollziehen kann, dass die Wirkung von der technischen Lehre umfasst ist und zur ursprĂŒnglich offenbarten Erfindung gehört. Die Grosse Beschwerdekammer gelangte sodann zum Schluss, dass der Begriff «PlausibilitĂ€t», wie er allgemein vom und beim EPA verwendet wird, keinen eigenen Rechtsbegriff und kein spezifisches Rechtserfordernis darstellt. Massgebend ist, was die Fachperson der Anmeldung am Anmeldetag als Erfindung entnehmen konnte. Bei der Beurteilung dieses Punktes mĂŒssen jeweils die spezifischen UmstĂ€nde des Einzelfalls berĂŒcksichtigt werden.

b) Non-enabling priority (T 522/21 vom 5. Juli 2023)

Darauffolgend erlĂ€uterte Blumer den Entscheid T 522/21 vom 5. Juli 2023. Festzuhalten ist, dass bei einer US-Anmeldung (PrioritĂ€tsanmeldung) die Erfindung und ihre Vorteile fĂŒr den Patentschutz bereits am Anmeldetag vollstĂ€ndig aufgezeigt und nachgewiesen werden mĂŒssen. Ansonsten ist es nicht gerechtfertigt, PrioritĂ€t anzuerkennen. Vorliegend war die PrioritĂ€tsanmeldung unvollstĂ€ndig und fehlerhaft. Der korrekte Inhalt der Anmeldung wurde zu einem spĂ€teren Zeitpunkt veröffentlicht. Es folgten die EP-Nachanmeldung und Erteilung des europĂ€ischen Patents, wogegen vier EinsprĂŒche erhoben wurden. Das Patent wurde im geĂ€nderten Umfang aufrechterhalten. Im besagten Fall war besonders, dass vier weitere Parteien mit neuen EinsprachegrĂŒnden in Laufe des Beschwerdeverfahrens beitraten. Der letzte Beitretende brachte den Einwand der «non-enabling priority», d.h. dass die PrioritĂ€t nicht gelte, am 25. Juli 2022 hervor. Das Patent wurde wegen ungĂŒltiger PrioritĂ€t bzw. mangelnder Neuheit widerrufen.

c) Recht auf Inanspruchnahme der PrioritÀt: G1/22 und G2/22 vom 10. Oktober 2023 (noch nicht im Abl EPA)

Weiter thematisierte Blumer die neue Rechtsprechung des EPA hinsichtlich PrioritĂ€tsrecht. Die Entscheidung der Grossen Beschwerdekammer in Sachen G 1/22 und G 2/22 betrifft das Recht auf Inanspruchnahme einer PrioritĂ€t aus einer frĂŒheren Anmeldung nach Art. 87 (1) EPÜ. Insbesondere ging es um die Frage, wer die PrioritĂ€t fĂŒr seine spĂ€tere Anmeldung beanspruchen kann (sog. formale PrioritĂ€t). Das Recht auf Inanspruchnahme der PrioritĂ€t steht der Person, welche die PrioritĂ€tsanmeldung eingereicht hat, oder ihrem Rechtsnachfolger zu. Die formale PrioritĂ€t wurde oft in Einspruchsverfahren angefochten, besonders wenn der Anmelder der Nachanmeldung nicht der Anmelder der PrioritĂ€tsanmeldung war. Die Beweislast lag hierbei bei den Patentanmeldern, die den Erwerb des PrioritĂ€tsrechts vor der Einreichung der Nachanmeldung beweisen mussten. Viele Verfahren betrafen PrioritĂ€tsanmeldungen, die in den USA eingereicht wurden, da diese vom Erfinder selbst eingereicht werden mussten. Dies fĂŒhrte hĂ€ufig zu Situationen, in denen die PrioritĂ€tsanmeldung und die Nachanmeldung von unterschiedlichen Personen eingereicht wurden und in der nachfolgenden PCT-Anmeldung der Erfinder nur als Anmelder fĂŒr die USA genannt wurde und fĂŒr alle anderen benannten Staaten ein anderer Anmelder.

Die Grosse Kammer bejahte vorliegend die erste Vorlagefrage, ob das EPA ĂŒberhaupt fĂŒr die Beurteilung der Berechtigung zur Inanspruchnahme der PrioritĂ€t nach Art. 87 (1) EPÜ zustĂ€ndig ist in Übereinstimmung mit der stĂ€ndigen Rechtsprechung EPA zur stillschweigenden ZustĂ€ndigkeit. Gleichzeitig wurde ein neues Rechtskonzept, nĂ€mlich die widerlegbare PrioritĂ€tsvermutung, eingefĂŒhrt, wonach vermutet wird, dass der Anmelder, der eine PrioritĂ€t beansprucht, zur Inanspruchnahme der PrioritĂ€t berechtigt ist. Dadurch wird die Beweislast auf die Partei verlagert, welche die GĂŒltigkeit der PrioritĂ€tsbeanspruchung bestreitet. Die zweite Vorlagefrage wurde dahingehend beantwortet, dass die widerlegbare Vermutung auch in den FĂ€llen gilt, in denen die europĂ€ische Patentanmeldung auf einer PCT-Anmeldung beruht und/oder keine IdentitĂ€t zwischen den PrioritĂ€tsanmeldern und den Nachanmeldern besteht. Wird eine PCT-Anmeldung von den Parteien A und B gemeinsam eingereicht, wobei i.) die Partei A fĂŒr einen oder mehrere Bestimmungsstaaten und die Partei B fĂŒr einen oder mehrere Bestimmungsstaaten benannt wird und ii.) die PrioritĂ€t einer frĂŒheren Patentanmeldung beansprucht wird, in der nur die Partei A als Anmelder genannt wird, impliziert die gemeinsame Einreichung der PCT-Anmeldung – falls keine erheblichen tatsĂ€chlichen Anhaltspunkte dagegen sprechen – eine Abrede zwischen den Parteien A und B, welche die Partei B zur Inanspruchnahme der PrioritĂ€t berechtigt.

Am Tag des Entscheids kam der BGH unter deutschem Recht bei der Beantwortung der gleichen Frage zum selben Resultat (vgl. BGH X ZR 83/21, «Sorafenib-Tosylat», verkĂŒndet am 28. November 2023).

d) Zum Verfahren: Eine Warnung und eine Entwarnung

Zum Schluss gab Blumer eine Warnung und eine Entwarnung zum Verfahren: ZunĂ€chst wies er daraufhin, dass die Zehn-Tage-Zustellungsfiktion abgeschafft wird, was bedeutet, dass ab dem 1. November 2023 das SchriftstĂŒck an dem Tag als zugestellt gilt, auf den es datiert wird, was die Fristen generell um zehn Tage verkĂŒrzt (Regel 126(2) EPÜ). Zugleich entwarnte Blumer, dass die Frist fĂŒr die Beschwerdeantwort nicht verkĂŒrzt wird. Die Frist fĂŒr die Einreichung der BeschwerdebegrĂŒndung betrĂ€gt vier Monate und fĂŒr die Einreichung der Beschwerdeantwort vier Monate mit Erstreckungsmöglichkeit auf sechs Monate (Art. 12(1)c) i.V.m. Art. 12(7) Verfahrensordnung 2020); eine VerkĂŒrzung auf zwei Monate ist nicht vorgesehen.

3. Erste Erfahrungen mit dem UPC

Dr. Klaus Gabrinski berichtete in seiner zweiten PrĂ€sentation der Tagung von ersten Erfahrungen mit dem UPC, welches zurzeit fĂŒr siebzehn Mitgliedsstaaten zustĂ€ndig ist. ZunĂ€chst hatte auch das UK das Übereinkommen ĂŒber ein Einheitliches Patentgericht (EPGÜ) ratifiziert, trat nach dem Brexit jedoch davon zurĂŒck. Gabrinski wies darauf hin, dass der Verwaltungsausschuss das Übereinkommen an das EU-Recht durch einen Beschluss anpassen kann, sofern keiner der Mitgliedstaaten eine Ratifizierungsurkunde verlangt. Da Ungarn nicht beabsichtigt, das Übereinkommen zu ratifizierten, werden auch kĂŒnftige Trainingsmassnahmen nicht mehr dort stattfinden. Die Verwaltung des UPC obliegt dem PrĂ€sidium. Bis anhin wurden beim Gericht zahlreiche Verletzungs- und Nichtigkeitsklagen eingereicht, wobei eine bedeutende Anzahl der isolierten Nichtigkeitsklagen die Klasse A betrafen. Widerklagen gab es bisher keine.

Zur Zusammensetzung der Spruchkörper kann Folgendes festgehalten werden: Bei der Zentralkammer setzt sich der Spruchkörper aus zwei rechtlich qualifizierten Richtern und einem technisch qualifizierten Richter zusammen, bei der Lokal- und Regionalkammer aus drei rechtlich qualifizierten Richtern und meistens einem technisch qualifizierten Richter und beim Berufungsgericht aus drei rechtlich qualifizierten und zwei technisch qualifizierten Richtern. Die Richter sind jeweils aus unterschiedlichen Mitgliedsstaaten. Wird eine Berufung nicht zugelassen, kann die Nichtzulassung von einem Richter ĂŒberprĂŒft werden. EndgĂŒltig entscheidet das Panel beim Berufungsgericht.

Bevor das Übereinkommen in Kraft trat, gab es grosse Diskussionen hinsichtlich UnabhĂ€ngigkeit der Richter. Die Art. 17(4) UPC-Übereinkommen und Art. 4(3) UPC-Verhaltenskodex hĂ€lt fest, wann ein Interessenskonflikt vorliegt. Ausgeschlossen ist z.B. dass ein Patentanwalt, der technischer Richter ist, gleichzeitig einen UPC-Fall entscheidet, selbst wenn es sich um zwei komplett verschiedene FĂ€lle handelt. In gewissen Konstellationen möchte man dem technischen Richter aber auch entgegenkommen, indem die blosse Eintragung als Parteivertreter, um von der GrossvĂ€terregelung (s. Regel 12 EPLC Ordnung) in angemessener Zeit Gebrauch zu machen, nicht als Verletzung der besagten Regel im Verhaltenskodex angesehen wird. Intern wird zudem eine InteressenskonfliktprĂŒfung von technischen Richtern verlangt. Nach aktuellem Stand wurde beim Berufungsgericht noch nicht so oft ein technischer Richter zugewiesen. Wenn es nur um rechtliche Fragen geht, ist es nicht unbedingt notwendig, einen technischen Richter beizuziehen.

Bei der Zentralkammer ist die Verfahrenssprache die Sprache des Patents, bei der Lokal- und Regionalkammer gelten als Verfahrenssprachen grundsÀtzlich die offiziellen Sprachen der Mitgliedsstaaten und beim Berufungsgericht ist grundsÀtzlich die Sprache der ersten Instanz massgeblich.

Die Ausgestaltung der Verfahrensberufung ist «nur» in der Verfahrensverordnung geregelt (z.B. auch die Zusammensetzung des Spruchkörpers).

Die UPC-Gerichtsverfahren sollen hauptsĂ€chlich schriftlich sein, um tagelange Verhandlungen zu vermeiden. Im schriftlichen Verfahren gibt es einen doppelten Schriftenwechsel, wobei alle relevanten Tatsachen und Beweise vorgetragen werden mĂŒssen, nicht nur «skeleton arguments». Bei der mĂŒndlichen Verhandlung kann die Redezeit beschrĂ€nkt werden, denn diese sollte innerhalb eines Tages beendet werden. Auf die Zeitkontingente werden die Parteien im Vorfeld hingewiesen. Es ist möglich, der mĂŒndlichen Verhandlung per Videokonferenz beizuwohnen (Regel 112 VerfO).

Regel 262 VerfO sieht vor, dass eine Drittperson einen begrĂŒndeten Antrag stellen kann, die SchriftsĂ€tze einzusehen. Wo die Schwelle liegt, um tatsĂ€chlich Einsicht zu erhalten, ist unklar, jedoch ist eine konkrete BegrĂŒndung erforderlich. Die Regionalkammer Stockholm ist in dieser Hinsicht weniger streng. Eine Partei kann verlangen, dass bestimmte Informationen vertraulich behandelt werden.

Das Konzept des UPC ist ein elektronisches, mit welchem alle Unterlagen in Sekundenschnelle zugestellt werden können. Die erste Anordnung des Berufungsgerichts vom 13. Oktober 2023 (CoA 320/2023) beinhaltet:

1. Eine Klageschrift kann dem Beklagten auch ohne Anlagen wirksam zugestellt werden, sofern die Klageschrift es dem Beklagten auch ohne diese ermöglicht, seine Rechte in dem Gerichtsverfahren vor dem UPC geltend zu machen (Regel 271 VerfO).

2. Einem Antrag des Beklagten auf VerlĂ€ngerung der Fristen zur Erhebung eines Einspruchs und zur Klageerwiderung ist bereits dann zu entsprechen, wenn ein KlĂ€ger die Anlagen – entgegen Regel § 3.2 VerfO – nicht gleichzeitig mit der Klageschrift in das Case Management System (CMS) hochgeladen hat und die Anlagen deshalb nicht verfĂŒgbar sind, wenn der Vertreter des Beklagten mit dem Zugangscode, welchen er mit der Klageschrift erhalten hat, auf das CMS zugreift.

3. Sofern nicht besondere UmstĂ€nde des Einzelfalles eine andere Frist rechtfertigen, sind die genannten Fristen um den Zeitraum zu verlĂ€ngern, in dem die Anlagen entgegen Regel 13.2 VerfO nicht zur VerfĂŒgung standen.

4. Paneldiskussion zum Patentrecht

Das von Ritscher geleitete Panel setzt sich aus Grabinski, Lars Meinhardt (Vorsitzender Richter am Oberlandesgericht MĂŒnchen), Dr. Stefan LuginbĂŒhl (Direktion Internationale Rechtsangelegenheiten des EPA), Dr. Mark Schweizer (PrĂ€sident am Bundespatentgericht), Dr. Tobias Bremi (Zweiter hauptamtlicher Richter am Bundespatentgericht) und Dr. Nina Bayerl (RechtsanwĂ€ltin bei Freshfields Bruckhaus Deringer) zusammen.

LuginbĂŒhl berichtete zunĂ€chst von den Entwicklungen beim Einheitspatent. Die EinfĂŒhrung des Einheitspatents wurde sehr positiv aufgenommen und es gingen tĂ€glich etwa 100 AntrĂ€ge auf einheitliche Wirkung ein. Dies, obwohl man anfangs ZurĂŒckhaltung erwartete, weil die Einheitlichkeit des Patents neben Chancen auch Risiken birgt. Da das Einheitspatent in allen teilnehmenden EU-Mitgliedstaaten die gleiche Rechtswirkung hat, verliert ein Patent, das in einem Land fĂŒr nichtig erklĂ€rt wird, auch in allen anderen LĂ€ndern, in denen es einheitliche Wirkung hat, seine GĂŒltigkeit. Die meisten AntrĂ€ge kamen aus Deutschland. Das grosse Interesse der Schweiz am Einheitspatent zeigt sich an ihren ca. 1 500 AntrĂ€gen, womit sie mehr AntrĂ€ge als China, Japan, das UK und Italien gestellt hat. Insbesondere macht die Pharmaindustrie Gebrauch vom Einheitspatent. Abweisungen gab es sehr wenige, wenn jedoch, betrafen diese meistens Patente, die nicht in allen teilnehmenden 25 Staaten zugelassen wurden. Teilweise gab es auch zu spĂ€te Einreichungen, da man nur einen Monat Zeit hat, um den Antrag zu stellen. Es besteht jedoch die Möglichkeit des Wiedereinsetzungseintrags. Im Zusammenhang mit der Schweizer Beteiligung vor dem UPC wird zudem festgehalten, dass im CMS nur diejenigen Entscheide angezeigt werden, bei denen die Zustellung der Klage erfolgt ist und die FormalitĂ€ten erfĂŒllt worden sind.

Bayerl nahm Bezug auf die PrĂ€sentation betreffend UPC und hob dabei die lokale Vielschichtigkeit des UPC und die mit ihr einhergehende Optionsvielfalt hervor. Anlass zur Sorge bereiten die zeitlichen Faktoren: Die Verfahren werden immer kĂŒrzer, allenfalls gerade wegen des Wettbewerbs. Das UPC will effizient sein und kurze Verfahren haben: Von der Klageeinreichung bis zum Abschluss der Verhandlung sollten höchstens zehn Monate vergehen. Schnelle Verfahren werden befĂŒrwortet, jedoch sollten sie nicht zu schnell sein. Wichtig sei es, das Augenmerk auf das zu richten, was erforderlich sei, und das könne je nach Verfahren variieren.

Meinhardt beantwortete die Frage, an welcher Stelle im Wettbewerb die Zukunft des Landesgerichts MĂŒnchen gesehen wird. Nach seiner EinschĂ€tzung scheinen Richter im Bereich Patente begierig darauf zu sein, schwierige FĂ€lle zu behandeln, sie jedoch auch schnell wieder loszuwerden. Zurzeit gilt es abzuwarten und die Entwicklung zu beobachten. Ein Gericht muss durch schnelle und sorgfĂ€ltige Verfahren punkten und nicht durch Patentfreundlichkeit. Ein Gericht muss in der Lage sein, vernĂŒnftig zu entscheiden.

Grabinski fand den Begriff des Wettbewerbs vorliegend etwas schwierig, obwohl das UPC gewisse Vorgaben hat, dass ein Verfahren innerhalb eines Jahres abgeschlossen werden sollte. Letztlich liegt es auch an den Parteien, wo sie die Klage anhÀngig machen.

Die Frage wurde aufgeworfen, ob es technische Richter ĂŒberhaupt braucht. Wenn es nur juristische Richter gĂ€be, wĂŒrde sich mit der Zeit ein Erfahrungswissen bilden, wenn jedem der fĂŒnf Standorte, die sich mit dem Patent befassen, ein Bereich zugewiesen wĂŒrde. Dann gĂ€be es allerdings auch weniger Wettbewerb.

Bayerl erwÀhnte, dass es der Gedanke der Zentralkammern ist, dass es eine Aufteilung gibt.

Schweizer war der Ansicht, dass die Vorschriften der verschiedenen Gerichte nebeneinanderstehen mĂŒssen und gleich auszulegen sind.

Es wurde diskutiert, ob die Beschwerdekammer auch das UPC positiv beeinflussen kann, wobei man zum Schluss gelangte, dass die Antwort «Ja» lauten muss. In der Tat hat die Beschwerdekammer nur die ZustĂ€ndigkeit fĂŒr die RechtsbestĂ€ndigkeit (PrioritĂ€t etc.). Ansonsten sollte sich das Gericht, wenn möglich, harmonisch zum UPC entwickeln. Unterschiedliche Handhabung sollte auf sachlichen GrĂŒnden basieren.

Bemerkt wurde, dass bei EU-Recht der EuGH das letzte Wort hat, Patentrecht aber ungleich dem Markenrecht eben kein EU-Recht ist.

Bayerl wies darauf hin, dass oft der Entscheid des EuGH abgewartet werden will und die Entscheide nicht zum Berufungsgericht kommen (oftmals wegen einer UnterlassungsverfĂŒgung).

LuginbĂŒhl betonte, dass der Einfluss des UPC zunehmen wird und ein neues Kompetenzzentrum aufgebaut wird.

Schweizer hielt fest, dass der EuGH in seiner Rechtsprechung festgelegt hat, dass das Verfahren nicht verzögert werden darf. Man spricht von neun Monaten Zustellungszeit.

Aus dem Publikum gab jemand zu bedenken, dass vor allem die Unternehmen entscheiden werden, wo geklagt wird. Entscheidend seien vor allem die Kosten. Die AnwĂ€lte werden die Klage lediglich ausfĂŒhren und die Richter werden dies annehmen. Es geht letztlich um «Invest and Return»: Möchte man z.B. ein schnelles Verfahren, klagt man beim UPC, im Wissen, mehr zu investieren. Die Kosten sind hingegen schwierig vorherzusehen, da es eine Gegenseite gibt sowie das Gericht. Vorhersehbarkeit ist sicher zumindest in Deutschland ein Faktor, der mitberĂŒcksichtigt wird. In Deutschland ist das Kostenrisiko eher eruierbar. Beim UPC sind zumindest die GerichtsgebĂŒhren ebenfalls gut vorhersehbar, und das UPC istgrundsĂ€tzlich sogar gĂŒnstiger als deutsche Gerichte. Bei französischen Gerichten wĂ€re dem z.B. nicht so, denn dort handelt es sich bei den GerichtsgebĂŒhren nur um einen symbolischen Betrag.

Seit Januar bzw. Juli 2021 und vorerst bis Ende Mai 2022 wurden alle mĂŒndlichen Verhandlungen vor den Einspruchsabteilungen bzw. vor der Eingangsstelle und der Rechtsabteilung als Videokonferenz durchgefĂŒhrt. Weiter wurden digitale Einrichtungen etabliert, etwa ein digitales Einreichungstool. Entsprechend musste der Rechtsrahmen, insbesondere mit Blick auf Formerfordernisse, angepasst werden.

II. Marken- und Designrecht
1. Aktueller Stand der Konvergenzprogramme zum Markenrecht

Anschliessend erlĂ€uterte Elisabeth Fink (Mitglied der Beschwerdekammern des EUIPO) die Konvergenzprogramme des EPA. 2011 wurde das «Trade Mark and Design Networks» (TMDN) u.a. mit dem Ziel einer Konvergenz der PrĂŒfungspraxis (EUIPO, nationale Ämter und NutzerverbĂ€nde) gegrĂŒndet. Die Rechtsgrundlage fĂŒr die Konvergenzprogramme findet sich in den Art. 151 und 152 der Unionsmarkenverordnung. 2019 wurden die zwölf abgeschlossenen Konvergenzprogramme (CP1-CP12) Teil des Kooperationsprojekt ECP4. KernstĂŒck eines Konvergenzprogramms ist eine gemeinsame Mitteilung, die auf der Website des EUIPN unter PRAKTIKEN veröffentlicht wird. Die zwölf Programme werden detailliert beschrieben. Neue Konvergenzprogramme werden als ECP auf der Website veröffentlicht.

Die praktische Umsetzung von CP3 (Unterscheidungskraft von Wort-Bildmarken mit beschreibenden/nicht unterscheidungskrĂ€ftigen Wörtern) wurde untersucht. Mitwirkende nationale Ämter und NutzerverbĂ€nde erhielten einen Fragebogen mit der Aufforderung, geeignete Beispiele auszuwĂ€hlen. Der Fragebogen umfasste sowohl fiktive Beispiele als auch «echte» Marken. Lediglich die Beispiele mit 80% Übereinstimmung wurden berĂŒcksichtigt. Die Ergebnisse der Untersuchung sind im «Schulungsmaterial 2023» veröffentlicht.

Es wurden zwei Beispiele aus den aktualisierten Materialien gezeigt, welche die Fragen beantworten, welche Wirkung die Schriftart und das Schriftbild auf die Unterscheidungskraft haben bzw. welchen Unterschied eine Farbe machen kann. Beispielsweise ist das blosse «HinzufĂŒgen» einer einzigen Farbe zu einem beschreibenden bzw. nicht unterscheidungskrĂ€ftigen Wortelement, sei es zu den Buchstaben selbst oder als Hintergrund, nicht ausreichend, um einer Marke Unterscheidungskraft zu verleihen. Es wurde darauf hingewiesen, dass national wohl immer ein Interesse daran besteht, der nationalen Marke zum Erfolg zu verhelfen. Entscheidend ist, dass das, worauf man sich geeinigt hat, in die Richtlinien ĂŒbernommen wird.

Durch die Ausarbeitung der Konvergenzprogramme wird der Erfahrungsaustausch innerhalb des Netzwerks gefördert und ĂŒblicherweise finden die GrundsĂ€tze einer gemeinsamen Praxis Eingang in die PrĂŒfungsrichtlinien des EUIPO und der (teilnehmenden) nationalen Ämter. FĂŒr die Kammern besteht keine Bindungswirkung. Es gibt diverse AktivitĂ€ten, um die Spruchpraxis zu vereinheitlichen, sowie fĂŒnf Arbeitsgruppen (Consistency Circles) bestehend aus Kammermitgliedern, juristischen Mitarbeitern und «Litigators». Es werden Berichte zu bestimmten Rechtsfragen verfasst, welche nach der Genehmigung durch das PrĂ€sidium auf der EUIPO-Website veröffentlicht werden. FĂŒr die Kammern sind diese Entwicklungen insofern von Bedeutung, als dass eine Analyse gemacht wird, bei der einheitlich beurteilt wird, wann abweichend entschieden wird, wo es Trends gibt und wohin diese gehen. Weiter muss ermittelt werden, wo es noch offene Fragen gibt. Selbst wenn die Berichte keine Bindungswirkung haben, muss eher begrĂŒndet werden, warum etwas auf den konkreten Fall nicht zutrifft. Dies hilft fĂŒr die Vorhersehbarkeit und steigert die Vereinheitlichung.

Zurzeit ist die Handhabbarkeit der Berichte noch etwas schwierig, weshalb ein Stichwortverzeichnis – wie bei den Richtlinien – wĂŒnschenswert wĂ€re.

2. Aktueller Stand der Revision des Unions-Designrechts

Prof. Benjamin Raue, Professor fĂŒr Zivilrecht, insbesondere Recht der Informationsgesellschaft und des Geistigen Eigentums an der UniversitĂ€t Trier, prĂ€sentierte den aktuellen Stand der Revision des Unions-Designrechts.

Inhalt der vorlĂ€ufigen politischen Einigung vom 5. Dezember 2023 war es, ein Design-Package einzufĂŒhren, anstatt einer Reparaturklausel. Als vorlĂ€ufiger Termin fĂŒr die Plenarsitzung ist der 11. MĂ€rz 2024 vorgesehen. Ziel ist es, die Design-Richtlinien und die Gemeinschaftsgeschmacksmuster-VO zu ĂŒberarbeiten, damit Designschutz im digitalen Zeitalter standhalten kann und europĂ€ische sowie internationale Verfahren harmonisiert werden. Der Gesetzestext wurde durch das Parlament im MĂ€rz 2024 genehmigt und im Oktober 2024 durch den Rat verabschiedet.

Kernbereiche des Design-Packages sind die Reparaturklausel mit neuen Regeln fĂŒr Ausnahmen fĂŒr Ersatzteile, die Nichteintragung kulturellen Erbes von nationalem Interesse und höhere GebĂŒhren im Vergleich zu nationalen Schutzsystemen wegen des rĂ€umlich grösseren Anwendungsbereichs.

Durch die Reparaturklausel wird der Ersatzteilmarkt liberalisiert und der Wettbewerb gefördert. Ersatzteile fĂŒr ein komplexes Erzeugnis, die zur Wiederherstellung seines ursprĂŒnglichen Erscheinungsbildes verwendet werden, sind vom Designschutz ausgeschlossen. GeschĂŒtzt sind nur Ersatzteile zu Reparaturzwecken, sofern diese genau wie das OriginalstĂŒck aussehen. FĂŒr «must-match»-Ersatzteile, deren Aussehen vom Aussehen der Originalteile abhĂ€ngt, gibt es keinen Geschmacksmusterschutz mehr. Die Wirksamkeit der Klausel ist letztlich von der marken- und urheberrechtlichen SchutzfĂ€higkeit abhĂ€ngig.

Es wird eine Erweiterung der Schranken in Art. 20a der Unionsgeschmacksmuster-VO geben.

Die Rn. 88 des EuGH-Entscheids C-397/16 und C-435/16, «Acacia», nĂ€mlich dass der Hersteller oder Anbieter den Verkauf eines solchen Bauelements unterlassen muss, wenn er weiss oder annehmen muss, dass das Bauelement nicht gemĂ€ss den Voraussetzungen nach Art. 110 Abs. 1 der Verordnung Nr. 6/2002 verwendet werden wird, wurde nicht in die Reparaturklausel der Unionsgeschmacksmuster-VO ĂŒbernommen.

Hinsichtlich GebĂŒhren fĂ€llt insbesondere auf, dass sie ab dem elften Design sprunghaft ansteigen. Zudem ist die erste VerlĂ€ngerungsgebĂŒhr deutlich teurer als bis anhin.

3. Rechtsprechung der Beschwerdekammern des EUIPO und des EuG zum Marken- und Designrecht

Als nĂ€chstes stellte Elisabeth Fink die Rechtsprechung der Beschwerdekammer des EUIPO und des EuG zum Marken- und Designrecht vor. Im Rahmen ihres Vortrages wurden die Urteile T-315/22, «SĂŒtat», T-519/22, «FITNESS», T-679/22, «LAPLANDIA» und T-617/21, «Elektrode» behandelt.

Dem Entscheid «SĂŒtat» liegt die Frage betreffend die SchutzfĂ€higkeit fremdsprachiger Angaben zugrunde. Das Zeichen «SĂŒtat» wurde fĂŒr die Klasse 29 (Milchprodukte) eingetragen. Es erfolgte ein Löschungsantrag. Die Antragstellerin argumentierte, dass das Zeichen aus tĂŒrkischen Wörtern bestehe (SĂŒt = Milch, tat = Geschmack). Folglich sei das Zeichen fĂŒr die beanspruchten Waren beschreibend. Die Löschungsabteilung wies den Antrag zurĂŒck. Denn der Gesamtbegriff sei nicht lexikalisch nachgewiesen. Zudem bestehe kein Nachweis, dass das Zeichen nach den Regeln der tĂŒrkischen Sprache gebildet worden sei. Auch fehle eine Stellungnahme eines Sprachexperten. DarĂŒber hinaus bestĂŒnden keine Anhaltspunkte, dass die Abweichung von SĂŒttat zu SĂŒtat als unwesentlich wahrgenommen werde. Schliesslich sei auch eine andere Bedeutung des Zeichens denkbar, wobei insbesondere das Wort «At» der tĂŒrkische Begriff fĂŒr Pferd ist. Die Beschwerdekammer folgte diesen ErwĂ€gungen nicht, hob den Entscheid auf und ordnete die Löschung an.

Die Löschungsanordnung wurde sodann vom EuG bestĂ€tigt, da ein Eintragungshindernis in Bezug auf einen nicht unerheblichen Teil der angesprochenen Verkehrskreise genĂŒge. TĂŒrkisch sei zwar keine EU-Amtssprache, aber Amtssprache Zyperns. Ausserdem lebe eine Vielzahl tĂŒrkischer Staatsangehörige in der Union, u.a. in Deutschland. Dieser tĂŒrkischsprachige Teil der Verbraucher verstehe «SĂŒtat» als «Milchgeschmack». Die grammatisch fehlerhafte Struktur und falsche Schreibweise stehen diesem VerstĂ€ndnis nicht entgegen. Die Sprachgutachten und die Internetrecherche seien nur zur BestĂ€tigung herangezogen worden. Schliesslich sei das Urteil des OLG DĂŒsseldorf nicht beachtlich.

Fink erwĂ€hnte, dass die Kriterien fĂŒr die Beurteilung von nicht EU-Amtssprachen nach wie vor unklar sei: Ist «Teil der Union» dasselbe wie «nicht unerheblicher Teil der Verbraucher»? Wie bemisst sich die «Nicht-Unerheblichkeit»? Weiter stellt sich die Frage, ob Sprachgutachten als neues Indiz fĂŒr SprachĂŒblichkeit fungieren können.

Dem Entscheid «FITNESS» liegt ein Löschungsantrag vom 2. September 2011 (absolute Schutzhindernisse) zugrunde. Dieser betraf die Wortmarke «FITNESS», welche fĂŒr Waren in den Klassen 29, 30 und 32 eingetragen war. Die Streitfrage war, ob die von der Antragstellerin verspĂ€tet vorgelegten Unterlagen zu berĂŒcksichtigen seien oder nicht. Es bestehe eine uneinheitliche Praxis der Kammern zur Frage, ob BegrĂŒndungsmĂ€ngel grundsĂ€tzlich einen Widerruf gemĂ€ss Art. 103 UMW rechtfertigen wĂŒrden. FĂŒr eine solche Praxis spreche, dass die Parteien ein Interesse an einer korrekten Rechtsprechung haben. Zudem verursache die Aufhebung wegen BegrĂŒndungsmangels unnötige Kosten und Verfahrensverzögerungen. Gegen eine solche Praxis spreche, dass die Parteien auf den Rechtsbestand der Entscheidung vertrauen dĂŒrfen mĂŒssten. Zudem sei nicht jeder BegrĂŒndungsmangel offensichtlich. Schliesslich wirke sich nicht jeder BegrĂŒndungsmangel auf das Ergebnis aus.

Fink referierte ĂŒber den Entscheid «LAPLANDIA». Verschiedene Wort-/Bildmarken wurden wĂ€hrend der Periode 2008–2016 fĂŒr Brandavid eingetragen. 2017 wurden die Marken auf die Global Drinks Finland ĂŒbertragen. Am 27. Juli 2020 wurde eine ausschliessliche Lizenz fĂŒr Shaman Spirits eingetragen. Schliesslich wurde am 18. MĂ€rz 2021 der Eintrag widerrufen gemĂ€ss Art. 103 UMV. Die Eintragung einer Lizenz setzt voraus, dass die Lizenz auf Antrag eines Beteiligten eingetragen wird (Art. 25(2) UMV). Die Art. 20(5) und (6) UMV gelten fĂŒr die Eintragung entsprechend. GemĂ€ss diesen Bestimmungen muss der Antrag u.a. Unterlagen enthalten, aus denen sich der RechtsĂŒbergang (Lizenz) ergibt. Mögliche Arten, diesen Nachweis zu erbringen sind i.) ein vom Antragsteller und Markeninhaber gemeinsam unterzeichneter Antrag, ii.) ein Antrag des Lizenznehmers mit Zustimmung des Markeninhabers, iii.) ein Antrag des Markeninhabers mit Zustimmung des Lizenznehmers sowie iv.) eine von beiden Beteiligten unterzeichnete Lizenzvereinbarung. Vorliegend war die Eintragung rechtmĂ€ssig. Der einzige Nachweis besteht in der Lizenzvereinbarung zwischen Brandavid und Shaman Spirits. Die Zustimmung der eingetragenen Markeninhaberin wurde nicht vorgelegt. Die angebliche Kenntnis von der Lizenz beim Erwerb der Marken sei unbeachtlich. Zudem sei finnisches Recht unbeachtlich, weil sich die Eintragung der Lizenz ausschliesslich nach Unionsrecht bestimmt. Die EUIPO habe ausschliesslich die formalen Voraussetzungen zu prĂŒfen. Daher enthalte die Eintragung der Lizenz einen offensichtlichen Fehler i.S.v. Art. 103 UMV.

Abschliessend erlĂ€utert Fink den Entscheid «Elektrode». Dem Entscheid lag ein Nichtigkeitsantrag gestĂŒtzt auf Art. 25(1)(b) i.V.m. Art. 4 und 5 GGV zugrunde. Die Parteien hatten sich im Rahmen einer prozessleitenden Massnahme des Gerichts zu folgenden Fragen zu Ă€ussern: Ist der Markt fĂŒr Elektroden, die mit «ElektrodeHyptertherm»-Brennern verwendet werden, aufgrund des angegriffenen Gemeinschaftsgeschmacksmusters «monopolistisch» (captive market)? Und inwieweit kann die fragliche Elektrode auch bei anderen Brennern verwendet werden?

GemĂ€ss den Entscheiden C-397/16 und C-435/16, «Acacia», Rz. 65, bezeichnet ein «Bauteil eines komplexen Erzeugnisses» verschiedene Einzelteile, die zu einem komplexen industriellen oder handwerklichen Gegenstand zusammengebaut werden sollen und sich ersetzen lassen, sodass ein solcher Gegenstand auseinander- und wieder zusammengebaut werden kann und deren Fehlen dazu fĂŒhren wĂŒrde, dass das komplexe Erzeugnis nicht bestimmungsgemĂ€ss verwendet werden kann. Dieser Begriff ist anhand verschiedener Indizien zu beurteilen.

Die Beschwerdekammer hatte folgende Indizien zutreffend berĂŒcksichtigt: i.) Betreffend den Verschleiss stellte die Beschwerdekammer fest, dass die Elektrode kein dauerhafter Teil des Brenners sei und keine feste Verbindung bestĂŒnde. Der Endbenutzer sei infolge des hĂ€ufigen Austausches aufgrund der geringen Lebensdauer in der Lage, die Erscheinungsmerkmale der Elektrode wahrzunehmen; ii.) DarĂŒber hinaus setzt das Ersetzen der Elektrode kein Auseinanderbauen von Brenner und Schneidsystem voraus; es sind keine Fachkenntnisse erforderlich; iii.) Zudem ist bezĂŒglich der VollstĂ€ndigkeit des Erzeugnisses zu berĂŒcksichtigen, dass der Brenner mit und ohne Elektrode verkauft wird. Die Elektrode wird auch getrennt vom Brenner beworben und verkauft; iv.) Der Brenner kann im Weiteren mit verschiedenen Elektroden verwendet werden, was fĂŒr eine Substituierbarkeit spricht; v.) Letztlich sei die Elektrode kein Bauelement i.S.v. Art. 4 (2) GGV.

4. Rechtsprechung der nationalen Gerichte und des EuGH zum Marken- und Designrecht

Marc Steinmayer, Rechtsanwalt bei Hildebrandt RechtsanwÀlte, referierte zur Rechtsprechung der nationalen Gerichte und des EuGH zum Marken- und Designrecht.

ZunĂ€chst ging Steinmayer auf den EuGH als Rechtsmittelgericht ein. GemĂ€ss Art. 58a Abs. 1 der Satzung des Gerichtshofs und Art. 170a Abs. 1 der Verfahrensordnung des EuGH muss der RechtsmittelfĂŒhrer in Markensachen seiner Rechtsmittelschrift einen Antrag auf Zulassung des Rechtsmittels als Anlage beifĂŒgen. Zulassungsvoraussetzung ist, dass das Rechtsmittel eine Frage betrifft, die fĂŒr die Einheit, die KohĂ€renz oder die Entwicklung des Unionsrechts bedeutsam ist.

GemÀss der Rechtsprechungsstatistik des Gerichtshofs wurden in den vergangenen Jahren von insgesamt 166 Rechtsmitteleingaben lediglich drei zugelassen.

Fraglich sei, so Steinmayer, ob die Voraussetzungen des relativen Eintragungshindernisses resp. des Löschungsgrundes zum Zeitpunkt der Anmeldung oder der Entscheidung erfĂŒllt sein mĂŒssen, falls zwischenzeitlich ein Wegfall aufgrund des Brexits vorliegt. Hierzu nennt Steinmayer die Entscheide C-751/22 P, «Shopify», und C-337/22 P, «Nowhere», sowie C-801/21 P, «Indo European Foods». Zur Beantwortung der Frage, inwieweit die PrioritĂ€tsregel des Art. 41 GGM-VO mit Art. 4 PVÜ vereinbar sei, verwies Steinmayer auf den Enscheid C-382/21 P, «The KaiKai Company Jaeger Wichmann».

Als NÀchstes ging Steinmayer auf den EuGH als Vorlagegericht ein. Seit Februar 2024 seien zwei marken- und designrechtlich relevante Vorlagefragen anhÀngig. Zu Beginn des Jahres 2023 waren es noch zwölf. Es sind elf Entscheidungen ergangen, drei davon aus dem Januar 2024.

Steinmayer prÀsentierte anschliessend die Entscheidungen C-334/22, «Audi», C-473/22, «Mylan», C-104/22, «LÀnnen», C-654/21, «LM», C-472/21, «Monz» und C-684/21, «Papierfabriek Doetinchen».

Der Entscheid «Audi» ist eine ErgĂ€nzung zu C-500/14, «Ford», wonach der Art. 110 GGM-VO (Reparaturklausel) nicht zur EinschrĂ€nkung von Markenrechten fĂŒhren kann. Vorliegend stellt sich die Frage, ob der KĂŒhlergrill eine rechtsverletzende Benutzung einer Marke darstellt. Und, falls ja, ob sie unter Art. 16(1)c) UMV fĂ€llt?

Zum Entscheid «Mylan» fĂŒhrte Steinmayer aus, dass gemĂ€ss dem Generalanwalt Szpunar kein «Wilder Westen» bei der Verteidigung der Rechte des geistigen Eigentums herrschen solle. Der EuGH erkannte, dass die verschuldensabhĂ€ngige Haftung nicht der Durchsetzungs-RL widerspreche, wenn das Gericht befugt ist, die Höhe des Schadenersatzes unter BerĂŒcksichtigung der UmstĂ€nde des Einzelfalls anzupassen, einschliesslich einer etwaigen Beteiligung des Antragsgegners an der Verwirklichung des Schadens. GemĂ€ss Steinmayer sei dies in Deutschland wohl ĂŒber § 254 BGB gewĂ€hrleistet.

Der Entscheid «LĂ€nnen» sei FortfĂŒhrung von C-172/18, «AMS Neve», wonach eine Verletzungshandlung im Rahmen des Art. 125 V UMV in dem Mitgliedstaat vorliege, in dem sich die Verbraucher und HĂ€ndler befinden, an welche sich die Werbung/Handlung richtet. Die gesponsorte Anzeige mit lĂ€nderspezifischer Zieldomain stelle ein Ausrichten auf dieses Land dar. Das Setzen von Metatags auf «.com-Webseiten» stelle hingegen kein Ausrichten dar, auch wenn dies zu organischen Suchmaschinentreffern in einem bestimmten Land fĂŒhrt.

Der EuGH erkannte im Entscheid «LM», dass die Widerklage nicht durch den Rahmen begrenzt werde, der durch die Verletzungsklage abgesteckt wurde. Dies sei eine weitere StĂ€rkung der Widerklage (C-256/21). Denn die AnhĂ€ngigkeit der Widerklage bleibt auch nach RĂŒcknahme der Verletzungsklage erhalten.

Der Entscheid «Monz» konkretisierte in der Rn. 55 f. den Begriff «bestimmungsgemÀsse Verwendung» im Sinne des Art. 3 Abs. 3 RL (EG) 98/71 (Geschmacksmuster-RL).

Als letzten Entscheid des EuGH als Vorlagegericht prĂ€sentierte Steinmayer «Papierfabriek Doetinchen». Dieser Entscheid sei die FortfĂŒhrung des Entscheids C-395/16, «DOCERAM». GemĂ€ss dieser Rechtsprechung sprechen alternative Geschmacksmuster, mit denen sich dieselbe Funktion erfĂŒllen lĂ€sst, nicht gegen die technische Bedingtheit der Erscheinungsmerkmale. Neu ist, dass das Gleiche gilt, wenn es sich um mehrere alternative Geschmacksmuster handelt, die der Inhaber des betreffenden Geschmacksmuster hat eintragen lassen.

5. Aktueller Stand der Gesetzgebung des Unions-Urheberrechts

Raue stellte den aktuellen Stand der Gesetzgebung des Unions-Urheberrechts vor und thematisiert die neuen Herausforderungen, vor welchen das Unions-Urheberrecht angesichts der rasanten Entwicklungen im Bereich der kĂŒnstlichen Intelligenz (KI), insbesondere generativer KI, steht. Ein zentraler Punkt in der aktuellen Gesetzgebung ist die DSM-Richtlinie (Richtlinie (EU) 2019/790), die sowohl fĂŒr nicht-kommerzielle als auch kommerzielle Forschung wichtige Schrankenregelungen einfĂŒhrt. Diese erlauben es, urheberrechtlich geschĂŒtzte Werke fĂŒr Text- und Datamining zu nutzen, welche fĂŒr die Entwicklung von KI-Modellen unerlĂ€sslich sind. Art. 4 der DSM-Richtlinie stellt klar, dass die Analyse solcher Werke durch KI-Systeme keine Urheberrechtsverletzung darstellt, solange keine dauerhafte VervielfĂ€ltigung erfolgt, es sei denn, der Rechtsinhaber hat sich dies ausdrĂŒcklich und in angemessener Weise (maschinenlesbar) vorbehalten. Art. 4 DMS-RL stellt somit den Input, d.h. das tatsĂ€chliche Training der KI frei, nicht aber den Output.

Ein weiteres Thema ist das TerritorialitÀtsprinzip des Unions-Urheberrechts, das durch ErwÀgungsgrund 60j des AI Act ausgehebelt wird. Bislang war die VervielfÀltigungshandlung dem Urheberrecht des Landes unterstellt, in dem die Handlung stattfand. ErwÀgungsgrund 60j deutet jedoch auf eine extraterritoriale Wirkung hin, die es Anbietern von General-Purpose AI-Modellen (GPAI) ermöglicht, urheberrechtlich relevante Handlungen ausserhalb der EU vorzunehmen, wÀhrend sie dennoch den EU-Vorschriften unterliegen.

Die Gesetzgebung fordert ausserdem erhöhte Transparenz von Anbietern solcher Modelle. Diese mĂŒssen detaillierte Dokumentationen ihrer Trainingsdaten öffentlich zugĂ€nglich machen, um Rechteinhabern die Möglichkeit zu geben, ihre Urheberrechte durchzusetzen. Gleichzeitig schĂŒtzt die EU die GeschĂ€ftsgeheimnisse und vertraulichen Informationen dieser Unternehmen.

Betreffend den Schutz von Urheberrecht besteht weiterer Regulierungsbedarf. Dies ist jedoch bislang aufgrund der TerritorialitĂ€t nur fĂŒr die EU möglich. DiesbezĂŒglich besteht vereinzelt auch die Sorge, dass Betreiber von AI-Modellen aus der EU vertrieben werden, wenn diese vom Urheberrecht erfasst werden.

6. Rechtsprechung der nationalen Gerichte und des EuGH zum Urheberrecht

Im letzten Teil der Tagung berichtet Dr. Timmy Pielmeier, Rechtsanwalt bei MLL Legal AG, die Rechtsprechung der nationalen Gerichte und des EuGH zum Urheberrecht. ZunĂ€chst widmete sich Pielmeier den Werkbegriffen nach unionalem und deutschem Recht. Weiter behandelte Pielmeier die BGH-Entscheide «Silberdistel», «Geburtstagszug» und «Vitrinenleuchte», indem er auf die SchutzbegrĂŒndung und den Schutzumfang einging. Zudem gelte der europĂ€ische Werkbegriff auch im Bereich der angewandten Kunst, das VerhĂ€ltnis zum Designrecht sei jedoch unklar, wie es im Entscheid «Cofemel» des EuGH verdeutlicht werde.

Pielmeier betonte sodann die unterschiedliche Betrachtung der urheberrechtlichen SchutzbegrĂŒndung anhand verschiedener Entscheide durch nationale Gerichte. Die schwedische Vorlage C-570/23, «Mio», warf verschiedene Fragen auf: Was sind die relevanten Faktoren? Erfolgt die Beurteilung prozessbezogen oder ergebnisbezogen? Was ist die Bedeutung des vorbekannten Formenschatzes und nachfolgender (Parallel-)Schöpfungen? Wie erfolgt die Beurteilung der Ähnlichkeit? Schliesslich ist die Bedeutung des Grades an OriginalitĂ€t (Wechselwirkungslehre) unklar.

Pielmeier ging auf die Pastiche ein. Anhand der BGH-Vorlage «Metall auf Metall V» zeigt er auf, dass sich im Zusammenhang mit der Pastiche verschiedene Fragen stellen. Ist die Pastiche ein Auffangtatbestand fĂŒr die kĂŒnstlerische Auseinandersetzung mit Werken, oder sind einschrĂ€nkende Kriterien, wie das Vorliegen von Humor, Stilnachahmung oder Hommage, anzuwenden? Ist die subjektive Absicht des Nutzers massgeblich oder die objektive Erkennbarkeit?

Schliesslich widmete sich Pielmeier dem Beiwerk anhand der Entscheide «Fototapete» der Landgerichte Köln und DĂŒsseldorf. Diesen Entscheiden lag folgender Sachverhalt zugrunde: Im Hintergrund von Anzeigen auf beispielsweise «airbnb» und «booking.com» waren Fototapeten ersichtlich. Das Landgericht Köln erkannte, dass ein Beiwerk vorliege, da kein Nutzungsrecht und kein unwesentliches Beiwerk i.S.d. § 57 UrhG gegeben sei. Das Landgericht DĂŒsseldorf entschied gegenteilig, indem es argumentierte, dass eine konkludente NutzungsrechtseinrĂ€umung oder eine Einwilligung vorliege. Eigentlich ginge es aber, so Pielmeier, um eine Schranken-Frage (§ 57 UrhG/Art. 5 III lit. i InfoSoc-RL).