Hans-Ueli Vogt – «Die Arbeit im Rahmen der Aktienrechtsrevision war das Highlight meiner bisherigen Laufbahn.»
Gesellschaftsrecht, Nachhaltigkeit, Revision
Hans-Ueli Vogt ist ordentlicher Professor für Privat- und Wirtschaftsrecht an der Universität Zürich. Er unterrichtet, publiziert und referiert primär im Bereich des Aktienrechts und der Corporate Governance und ist Mitherausgeber der Zeitschrift für Gesellschafts- und Kapitalmarktrecht sowie des Basler Kommentars zum Gesellschaftsrecht. Zudem ist er als selbstständiger Rechtsanwalt beratend und gutachterlich tätig und amtet verschiedentlich als Schiedsrichter. Von 2015 bis 2021 gehörte er dem Nationalrat und dessen Kommission für Rechtsfragen an. In dieser Funktion hat er die Revision des Aktienrechts vom 19. Juni 2020 massgebend geprägt. Im Jahr 2022 trat er als Kandidat der SVP-Fraktion für den Bundesrat an. Seit 2024 ist er Mitglied des Bankrats der Zürcher Kantonalbank (ZKB) und des Verwaltungsrats des Medienhauses SRG SSR.
Wie kam es, dass Sie sich auf Gesellschaftsrecht spezialisiert haben?
Als Student hatte ich kein besonderes Interesse am Gesellschaftsrecht. Ich interessierte mich vor allem für Staatsrecht und OR AT – wobei Gesellschaftsrecht eigentlich OR auf höherer Stufe ist; insofern bin ich mir treu geblieben. Seit seiner Einführungsvorlesung war ich ein grosser Fan von Professor Peter Forstmoser. Im Sommer 1996 ging mein Substitutenjahr zu Ende, und zufälligerweise war gerade dann eine Assistenzstelle an seinem Lehrstuhl ausgeschrieben. So kam ich in die Welt des Gesellschaftsrechts hinein.
Sie waren bis Ende 2021 Nationalrat und 2022 Kandidat für den Bundesrat. Sind Sie heute noch Politiker?
Dass ich mich aus der Politik zurückziehe, habe ich schon einmal gesagt, und es ist mir während der Kandidatur für den Bundesrat um die Ohren geflogen [lacht]. Ich würde Ihre Frage darum so beantworten, dass ich im Moment nicht politisch aktiv bin. Wer weiss, was morgen kommt.
Als Nationalrat waren Sie in die Gesetzgebung involviert. Hat sich hierdurch Ihre Sicht als Jurist auf das Recht verändert?
Die Überzeugungen, die ich schon früher hatte, haben sich noch verstärkt. Im Zentrum der Arbeit eines Rechtswissenschafters und allgemein eines Juristen – und meiner Meinung nach auch im Zentrum der juristischen Ausbildung – steht das Gesetz und damit zunächst der Gesetzestext. Denn über ihn drückt der Gesetzgeber seine Vorstellungen aus. Die Aufgabe des Juristen sehe ich darin, herauszufinden, was das Gesetz oder z.B. auch ein Vertrag bedeutet. Nur dafür haben wir eine Methode. Und weil wir eine Methode der Interpretation von Rechtstexten haben, schreibt man uns zu Recht auch eine gewisse Legitimation für das Verfassen juristischer Texte zu. Aber wir haben insbesondere keine Methode, um zu sagen, was im Gesetz wie geregelt sein sollte. Das bestimmt die Politik. Dieses Verständnis hat dazu geführt, dass meine wissenschaftliche Arbeit sich heute noch mehr als früher auf die Interpretation und Analyse des geltenden Rechts konzentriert. Als Juristen verstehen wir zwar von vielem ein bisschen und reden darum bei allerlei Dingen mit, aber dabei geht es dann vor allem um Erfahrung und um persönliche Überzeugungen.
Als Mitglied der Kommission für Rechtsfragen des Nationalrates haben Sie massgeblich an der Aktienrechtsrevision mitgewirkt. Hatten Sie auch persönliche Ziele für diese Revision?
Die Arbeit in der Rechtskommission im Rahmen der Aktienrechtsrevision und der Beratung der Konzernverantwortungsinitiative vom Herbst 2017 bis zum Sommer 2020 war einzigartig. Sie war das Highlight meiner bisherigen beruflichen und politischen Laufbahn, und ich muss fast befürchten, dass sie es bleiben könnte [lacht]. Ich hatte mich mit der Materie bereits vorher intensiv beschäftigt, auch in der Rolle als Experte für die Verwaltung und das Parlament, und hatte mir darum bereits Überlegungen zu konkreten Gesetzesvorschlägen gemacht. Andere Kommissionsmitglieder, gleich welcher politischen Ausrichtung, davon zu überzeugen zu versuchen, was eine gute aktienrechtliche Regelung sein könnte, war äusserst spannend und befriedigend. Die Zusammenarbeit in der Kommission war eine grossartige Erfahrung.
Meine Ziele in diesem Geschäft waren in erster Linie politisch. Die Revision des Aktienrechts sollte Handlungsspielräume für die Unternehmen erweitern oder neue schaffen. Der gemeine Liberale glaubt zwar, dass Freiheit bedeute, möglichst wenige Gesetze zu haben. Manchmal wird Freiheit aber erst durch Gesetze ermöglicht. Wirtschaftsfreiheit und den Schutz des Eigentums gäbe es nicht ohne Gesetzesvorschriften über Verträge und Eigentum. Das gilt auch für das Aktienrecht, beispielsweise mit Blick auf den Einsatz elektronischer Mittel im Verwaltungsrat und in der Generalversammlung. Um dort Gestaltungsspielräume zu eröffnen, muss das Gesetz festlegen, was zulässig ist und was nicht, also Rechtssicherheit schaffen. Ein zweites politisches Ziel war die Vermeidung von zu starren Vorschriften. Hier ist es der Rechtskommission des Nationalrates gelungen, verschiedene Vorschläge im bundesrätlichen Entwurf aus der Vorlage zu streichen. In der Gesetzgebung im Aktienrecht besteht eine ständige Herausforderung darin, dass die Politik vor allem die grossen Unternehmen und die Fehltritte und Vorfälle, die es bei ihnen gibt, im Blick hat und dabei die Interessen der anderen, für die flexiblere Regeln wichtig sind, aus den Augen verliert.
Bei diesen politischen Zielen war es ein Vorteil, dass fast die gesamte Aktienrechtsrevision in die Legislaturperiode 2015–2019 fiel, die oft als «Rechtsrutsch-Legislatur» bezeichnet wurde, mit einer Mehrheit von SVP und FDP im Nationalrat. Das hat wesentlich dazu beigetragen, dass die freiheitliche Ordnung im Aktienrecht beibehalten werden konnte. Nach den Wahlen im Jahr 2019, der «Klima-Wahl», kam es vor, dass Anträge, die von der Rechtskommission noch in der alten Legislaturperiode verabschiedet worden waren, aufgrund der neuen Mehrheitsverhältnisse im Nationalrat keine Mehrheit fanden. Beispielsweise wurde der Vorschlag zur Normierung von Interessenkonflikten (Art. 717a OR) von der Kommission stets abgelehnt, während das neue Parlament diesem Vorschlag dann zustimmte.
Neben den politischen Zielen war mir wichtig, dass das Gesetz sowohl technisch einwandfrei als auch sprachlich einfach und verständlich formuliert ist. Dies schliesst auch gezielt eingesetzte vage Formulierungen oder den Verzicht auf eine ausdrückliche Regelung ein. Lücken sind ein Instrument, das man beim Verfassen juristischer Texte bewusst einsetzen kann, bei Gesetzen nicht anders als bei Verträgen.
Haben Sie Ihre Ziele erreicht?
Die Zielerreichung ist für mich nach wie vor ein bisschen schwierig zu beurteilen. Zumal ich zwar einiges, aber natürlich nicht alles aus der Praxis mitbekomme. Man muss auch sagen, dass die Revision keine fundamentalen Änderungen in den Grundstrukturen der Aktiengesellschaft brachte – es war gerade ein Ziel der liberalen Kräfte im Parlament, dass diese Revision nicht zum Anlass genommen wird, Grundsätzliches zu ändern. So gesehen wurden die Ziele im Grossen und Ganzen sicher erreicht.
Wo sehen Sie aktuell den grössten Revisionsbedarf im Gesellschaftsrecht?
Es gibt verschiedene Liberalisierungsideen, die bereits vor der letzten Revision im Raum standen, jedoch aus politischen Gründen bewusst nicht eingebracht wurden, damit das Gesamtpaket ausgewogen blieb und nicht zum Gegenstand einer parteipolitischen Diskussion wurde. Insbesondere im Bereich der Eigenkapitalfinanzierung und der Ausgestaltung von Aktien und ähnlichen Instrumenten gibt es noch viele Ansätze, die man weiterverfolgen sollte. Es wäre denkbar, vieles von dem, was unter US-amerikanischen Recht praktiziert wird, auch hier umzusetzen. Dies verdeutlicht erneut, dass Regulierung notwendig ist, um Gestaltungsräume überhaupt zu schaffen.
Sie gehörten der Arbeitsgruppe von economiesuisse an, die den «Swiss Code of Best Practice for Corporate Governance» revidiert hat. Wie bewerten Sie die Entwicklung der Corporate Governance bei Schweizer Unternehmen in den letzten Jahren?
Wenn man «Corporate Governance» in einem weiten Sinn versteht und auch die Grundfrage nach dem Zweck von Unternehmertum einschliesst, dann ist die massgebliche Entwicklung der letzten Jahre die breite Umsetzung von allem, was mit ESG, nachhaltigem Unternehmertum usw. zu tun hat. Gegenüber dieser Entwicklung verblassen die – ohnehin minimalen – Entwicklungen bei der Organisation der Unternehmensspitze und beim Zusammenwirken von Verwaltungsrat und Aktionären bzw. Generalversammlung.
«ESG» bedeutet, dass Unternehmen in den Dienst bestimmter gesellschaftlicher, politisch legitimierter Ziele gestellt werden. Es geht nicht mehr nur darum, dass sie bestimmte Vorschriften einhalten müssen, sondern die Unternehmen werden zu Akteuren bei der Durchsetzung politischer Programme gemacht. Für die Governance bedeutet das zum einen, dass der Verwaltungsrat ein Stück weit aus der Pflicht und auch aus der Verantwortung genommen wird, das Unternehmensinteresse und die nötigen Massnahmen zu bestimmen. Soweit die Regulierung sagt, was «nachhaltig» ist, braucht es keinen Verwaltungsrat mehr, der das entscheidet. Die Gefahr ist gross und real, dass sich manche Unternehmen – wie in anderen regulierten Bereichen – darauf fokussieren, ausschliesslich das zu machen, was die Regulierung verlangt. Zum andern führt das «Aufladen» des Unternehmenszwecks mit gesellschaftlichen, politischen Forderungen dazu, dass Leistung und Unternehmenserfolg nicht mehr gut gemessen und Verantwortung nicht mehr klar zugewiesen werden kann; mit dem Hinweis auf «ESG» lässt sich vieles rechtfertigen. Das ist mittelfristig eine Gefahr für die verantwortungsvolle Führung von Unternehmen.
Wie nutzen Sie die Zeit, die Sie durch den Rücktritt aus dem Nationalrat gewonnen haben?
Der primäre Beweggrund für meinen Rücktritt war die Absicht, mich wieder vermehrt meiner wissenschaftlichen Arbeit zu widmen. Sie war während meiner Tätigkeit im Nationalrat zu kurz gekommen. Nun habe ich dafür wieder etwas mehr Zeit. Ich möchte meine Einsichten aufgrund der Aktienrechtsrevision, zusammen mit meiner Erfahrung aus meiner Lehr- und meiner Gutachtertätigkeit, in die wissenschaftliche Arbeit einbringen. Diesen breiten Erfahrungshintergrund haben nur wenige.
Ich bin aber auch jemand, der gern im Austausch mit anderen ist, Projekte in einem Team realisiert, sein Wissen einbringt und mit Menschen auf gleicher Stufe zusammenarbeitet – etwas, was mir die Tätigkeit an der Uni nur wenig bietet. Darum freut es mich, dass ich seit Anfang Jahr im Bankrat der ZKB und im Verwaltungsrat der SRG einen hoffentlich nützlichen Beitrag leisten kann. Beide Unternehmen stehen an der Schnittstelle zwischen Privatwirtschaft und Staat. Bei beiden Unternehmen kann ich neben meiner Expertise im Bereich des Rechts und der Corporate Governance mein Verständnis der politischen Prozesse einbringen.
Marc Hanslin | legalis brief GesR 30.05.2024