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VORGESTELLT

Beat Hess – «Die Vollkaskomentalität der Gesellschaft führt in eine Sackgasse.»

Straf- & Strafprozessrecht

Lic. iur. Beat Hess ist als Rechtsanwalt bei Lauper & Partner vorwiegend im Bereich des Strafrechts tätig. Seit 1987 arbeitet er als selbständiger Rechtsanwalt in Luzern. Er ist insbesondere amtlich gewählter Verteidiger des Kantons Luzern. Wir haben ihm unsere Fragen gestellt.

Wann sind Sie das erste Mal mit dem Strafrecht in Kontakt gekommen?

Konkret? Das ist sehr lange her und es war kein prägendes Ereignis. Es war wohl während des Rechtspraktikums. Mein «Praktikantenvater» war unter anderem Richter am Kriminalgericht Luzern. Deswegen konnte ich zwar keine Straffälle bearbeiten, die an dieses Gericht gingen, aber ich war «angefixt» und bewarb mich nach dem Abschluss der Ausbildung als Amtsschreiber (heute Staatsanwaltsassistent) beim Amtsstatthalteramt Luzern. Ich bekam diese Anstellung. Und damit wurde es sehr konkret. Danach folgte ein Jahr als a.o. Amtsstatthalter und bald darauf der Gang in die Selbständigkeit, in ständiger Begleitung mit dem Strafrecht.

Was sind Ihre alltäglichen Herausforderungen?

Der Alltag. Respekt vor drohender Routine. Den Biss nicht verlieren, nicht nachlassen. Für die beschuldigte Person ist ihr Fall der wichtigste Fall. Auch als gewählter amtlicher Verteidiger darf Art. 128 StPO nicht zur Pflicht verkommen.

Welcher Themenbereich stellt derzeit die grösste Herausforderung dar?

Wenn es um die Konsequenzen für die betroffenen Menschen geht: Das Massnahmenrecht, konkret die therapeutischen stationären Massnahmen. Die Vollkaskomentalität der Gesellschaft (und der Politik: Mann/Frau will ja wiedergewählt werden) führt in eine Sackgasse.

Mit welcher Person aus dem Bereich des Strafrechts (aktuell oder historisch) würden Sie gerne für einen Tag die Rollen tauschen?

Mit Peter Noll: «Das Recht muss, will es sich bewähren, der Stachel in der Fleisch- und Fettmasse der Macht sein.»

Haben Ihre Erfahrungen mit dem Strafrecht Sie bzw. die Sicht auf Menschen verändert?

Nein, aber bestätigt: Der erste Eindruck ist immer falsch. Ausnahmen bestätigen die Regel.

Wenn Sie die Möglichkeit hätten, was würden Sie ändern (Strafnormen, Strafsystem, Prozess etc.)?

Dem wachsenden Machtmonopol der Staatsanwaltschaften müssen «Kontrollmöglichkeiten» der Verteidigung entgegengesetzt werden. Mindestens müssten die bestehenden Verteidigungsmöglichkeiten von den Gerichten konsequenter geschützt werden.

Ich verspüre zudem eine Tendenz, dass der Grundsatz «in dubio pro reo» im Rahmen der freien Beweiswürdigung – zum Beispiel mit Hilfe von «richterlichen» Aussageanalysen – ausgehöhlt wird, nicht konsequent angewendet wird, zu Gunsten eines «befriedigenden» Ergebnisses.

Linda Fischer | legalis brief StrR 22.01.2024