Doro Winkler – «Gerechtigkeit: Gibt es eine solche vor Gericht?»

Leib & Leben

Doro Winkler arbeitet seit mehr als 20 Jahren bei der FIZ Fachstelle Frauenhandel und Frauenmigration, leitet den Bereich Fachwissen und Advocacy und ist Mitglied der Geschäftsleitung. Zudem ist sie seit 2017 Mitglied des Experten- und Expertinnengremiums GRETA des Europarats (Group of Experts on Action against trafficking). Dieses Gremium monitoriert die 46 Länder in Europa, welche die Konvention gegen Menschenhandel ratifiziert haben und unterstützt sie bei deren Umsetzung. Doro Winkler studierte Anfang der 90-er Jahre an der Uni Zürich Ethnologie, Soziologie und Psychologie und war beruflich in verschiedenen Ländern in Lateinamerika und Afrika tätig.

Wann sind Sie das erste Mal mit dem Strafrecht in Kontakt gekommen?

Als junge Aktivistin habe ich mich gegen die Ausschaffung von kurdischen Flüchtlingen in die Türkei gewehrt, ein Anliegen, das leider bis heute Aktualität hat.

Später habe ich verschiedene Prozesse gegen Menschenhändlerinnen und Menschenhändler verfolgt, aus der Perspektive der Opfer, die von der FIZ unterstützt wurden. Dabei haben mich die sehr unterschiedlichen Lebenswelten beschäftigt, die in einem Gericht aufeinandertreffen: Das Richterinnen und Richtergremium, vorwiegend schweizerischer Herkunft, meist aus privilegierter Schicht, daneben die Opfer von Menschenhandel, die aus teilweise sehr prekären Lebensverhältnissen in Osteuropa, Afrika oder Asien kommen. Die Opfer haben sehr grossen Respekt vor dieser staatlichen Autorität, sind eingeschüchtert, wollen keine Fehler machen. Gleichzeitig sind sie vom Erlebten traumatisiert und können ihre Gefühle nicht immer kontrollieren, wenn sie getriggert werden. Deshalb ist die Begleitung durch eine Vertrauensperson so wichtig, um Opfer, die bei der Einvernahme oder vor Gericht zusammenbrechen, auffangen zu können. Oft habe ich mich gefragt, ob die Richterinnen und Richter sich vorstellen können, welche Auswirkungen die Ausbeutung und Gewalt auf ein Opfer haben. Wieviel Empathie ist nötig, wieviel Distanz auch, um gerecht zu urteilen?

Die Aussagen der Opfer sind auch nicht immer stringent, sie können Erinnerungslücken oder Widersprüche beinhalten, was meist mit dem erlebten Trauma zu tun hat. Gerade wenn das Erscheinen vor Gericht Jahre nach der Ausbeutung geschieht, können die Opfer sich an schmerzliche Erlebnisse nicht mehr gut erinnern.  

Zugleich sind nicht alle Täter einfach nur «die Bösen». Die Realität ist nicht wie im Film: Auch sie haben oft prekäre Lebenssituationen erlebt, wurden diskriminiert, haben sich aber Vorteile schaffen können, um auf die «andere Seite» der Ausbeutungskette zu gelangen.  

Was sind Ihre alltäglichen Herausforderungen?

Die Mechanismen des Menschenhandels aufzuzeigen ohne voyeuristische Bedürfnisse zu bedienen. Es wäre so einfach «Sex and Crime» zu verkaufen: Eine tragische Geschichte würden viele Medien sofort aufnehmen. Zwar möchten wir die Erfahrungen von gewaltbetroffenen Migrantinnen und Migranten, die von der FIZ unterstützt werden, sichtbar machen. Dies ist uns ein grosses Anliegen, weil viele Menschen in der Schweiz wenig darüber wissen, falsche Bilder haben und sich kaum vorstellen können, was hier geschieht. Gleichzeitig wollen wir aber keine sensationalistischen Einzelschicksale ausbreiten, auch wenn das für die Sichtbarkeit und auch die Spendenbeschaffung wohl praktisch wäre. Doch aus Respekt vor den betroffenen Opfern und weil Menschenhandel nicht nur eine individuelle Tragödie ist, sondern strukturelle Gründe hat, braucht es eine Berichterstattung, die dem gerecht wird. Das finde ich eine grosse Herausforderung: Worte zu finden, für dieses komplexe Phänomen, welche es sichtbar und vorstellbar machen, ohne zu sehr zu simplifizieren.

Zum anderen beschäftigen mich die politischen Prozesse in der Schweiz: Die FIZ nimmt die Probleme, die sich in der Beratung von Migrantinnen zeigen, auf, und arbeitet auf politische Lösungen hin, damit die Rahmenbedingungen sich verbessern. Zum Beispiel bezüglich Opferschutz oder Aufenthaltsrecht. Hier sind es teilweise jahrzehntelange Prozesse, es bewegt sich wenig. Sich nicht zermürben zu lassen sondern weiter zu kämpfen, auch wenn politische Mehrheiten es verhindern, opfergerechte Rahmenbedingungen zu schaffen, das empfinde ich immer wieder als Herausforderung.

Mit welcher Person aus dem Bereich des Strafrechts (aktuell oder historisch) würden Sie gerne für einen Tag die Rollen tauschen?

Mit einer Richterin am EGMR, wenn ein Dublin-Urteil verhandelt wird, bei dem ein Opfer von Menschenhandel sich gegen die Schweiz wehrt, weil es nicht in den Staat zurückgeführt werden will, in dem es die Ausbeutung erlebt hat. Zum Beispiel nach Italien oder Griechenland.   

Haben ihre Erfahrungen mit dem Strafrecht Sie bzw. die Sicht auf Menschen verändert?

Ja. Das Strafrecht kann sehr wichtig sein, um ein Gefühl von Gerechtigkeit herzustellen. Doch es macht die Tat nie ungeschehen. Das heisst, die Opfer müssen mit dem Erlittenen leben, und ein Leben danach aufbauen, die Traumata verarbeiten. Das ist leichter gesagt als getan.

Gleichzeitig erlebe ich die Opfer als sehr starke Menschen, die auch nicht auf dieses Opfer-sein reduziert werden wollen, sondern die vielen anderen Facetten ihrer Persönlichkeiten leben und teilen möchten.

Machen Strafen Menschen zu bessern Leuten?

Das weiss ich nicht. Wenn ich an die Erziehung unserer Kinder denke, so haben wir versucht, sie nicht zu strafen. Weil ich nicht glaube, dass dies etwas Positives bewirken kann. Gleichzeitig bin ich der Überzeugung, dass gewisse Taten bestraft werden müssen. Nicht als Abschreckung, das funktioniert nicht, aber als Signal der Gesellschaft, das es nicht in Ordnung ist, nicht geduldet wird, sondern Konsequenzen hat, sich so zu verhalten. 

Wenn Sie die Möglichkeit hätten, was würden Sie ändern (Strafnormen, Strafsystem, Prozess etc.)

Ich würde den Artikel 182 StGB anschauen, da braucht es eine Klärung: heute benennt er nur die Tathandlungen und den  Zweck der Ausbeutung, es fehlt die Nennung der Tatmittel. Das wäre ganz wichtig, damit in Strafprozessen Klarheit herrscht, dass z.B. auch die Ausnutzung besonderer Hilflosigkeit ein Mittel des Menschenhandels sein kann, und dass es nicht immer Gewalt oder körperlichen Zwang braucht.

Und ich würde mir wünschen, dass die Opferrechte gleich gewichtet werden wie die Rechte der Täter. Ich wünschte mir zudem, dass alle Menschen, die strafrechtlich tätig sind, Weiterbildungen zu den Auswirkungen von Traumata machen würden, um das Verständnis der Auswirkungen zu vergrössern.  

Die Wunschliste wird immer länger, je mehr ich darüber nachdenke. Aber diese drei Dinge sind momentan die Wichtigsten, bezüglich meines Berufs.

Simone Kaiser | legalis brief StrR 17.10.2022