Julia Gschwend – «Wer im Arbeitsrecht tätig ist, braucht viel Empathie, Geduld und Verständnis.»
Arbeitsrecht
Julia Gschwend ist Anwältin und seit über 15 Jahren fast ausschliesslich im Arbeitsrecht tätig. Sie ist seit 2015 als Rechtsanwältin bei REBER Rechtsanwälte tätig und seit 2018 Partnerin. Sie erwarb 2014 den LL.M. an der Northwestern University, Chicago, und ist seit 2021 Fachanwältin Arbeitsrecht SAV. Seit 2020 ist sie zudem Vizepräsidentin der Stiftung Joël Kinderspitex, Schweiz. Sie vertritt Arbeitnehmende sowie in- und ausländische Arbeitgebende (KMUs, aber auch börsenkotierte Gesellschaften) in allen Belangen des Arbeitsrechts. Sie ist zudem Mitautorin des Arbeitsrechtskommentars von Stämpfli (Stämpflis Handkommentar) sowie des Basler Kommentars ZPO.
Wo liegen im Moment Ihre Berührungspunkte mit dem Arbeitsrecht?
Als Anwältin vertrete ich nun seit beinahe 15 Jahren Arbeitnehmerinnen und -nehmer sowie Arbeitgeberinnen und -geber im privaten und öffentlichen Arbeitsrecht. Zudem bin ich Vizepräsidentin einer Kinderspitex mit rund 200 Arbeitnehmenden; auch dort stellen sich immer wieder spannende und nicht alltägliche arbeitsrechtliche Fragen.
Wann sind Sie das erste Mal mit dem Arbeitsrecht in Kontakt gekommen?
Mein erster, wohl eher oberflächlicher Berührungspunkt mit dem Arbeitsrecht war während des Studiums an der Uni Luzern – Arbeitsrecht war damals ein Wahlfach. Für die Anwaltsprüfung musste ich mich dann intensiver damit auseinandersetzen. Aber erst als Rechtsanwältin habe ich das theoretische Wissen auch in die Praxis umsetzen können, und mit der Absolvierung des Fachanwalts konnte ich nochmals tiefer in die Materie eintauchen und Lücken schliessen, wertvolle Erfahrungen sammeln und mich mit Kolleginnen und Kollegen vernetzen.
Was sind Ihre alltäglichen Herausforderungen?
Das spannende, aber auch herausfordernde am Arbeitsrecht sind die betroffenen Personen und ihre Lebensgeschichten. Wer im Arbeitsrecht tätig ist, braucht neben den juristischen Kenntnissen viel Empathie, Geduld und Verständnis. Der Job ist ein wesentlicher Teil des Lebens; der soziale Status in der Gesellschaft wird oft über den Beruf bestimmt. Ein Verlust der Stelle kann daher eine einschneidende Erfahrung sein, die zu Verunsicherung und Ängsten führt. Die rechtlichen Mittel im Arbeitsrecht sind beschränkt, oftmals empfinden Arbeitnehmende eine finanzielle Entschädigung bei einer Kündigung oder eine Abfindung bei einer geplanten Entlassung als unbefriedigenden «Ablasshandel» und fühlen sich nicht ernst genommen. Die Herausforderung in diesen Fällen besteht darin, den Klientinnen und Klienten aufzuzeigen, dass ein solcher Deal im Endeffekt vielfach vorteilhafter als ein langwieriges und risikobehaftetes Gerichtsverfahren ist, sie jedoch nicht zu einem Vergleich zu drängen und trotzdem Verständnis für die individuelle Situation zu haben. Ebenfalls herausfordernd sind Zeugnisstreitigkeiten, bei denen Selbst- und Fremdwahrnehmung oftmals stark divergieren.
Gibt es eine berichtenswerte Episode aus Ihrer Tätigkeit im Bereich Arbeitsrecht? Was macht diese so besonders?
Es kommt immer wieder vor, dass sich Klientinnen und Klienten für die Unterstützung in den schwierigen Lebensumständen bedanken, Blumen, Wein oder Karten senden; dies sind dann die schönen Seiten an meinem Beruf. Es gibt auch die anderen Situationen, die alle Anwaltskolleginnen und Anwaltskollegen ebenfalls kennen. Ein Fall, der mir jedoch in Erinnerung bleibt, ist folgender: Ich habe einen Arbeitnehmer in einer relativ überschaubaren Konstellation vertreten; es ging um Lohnausstände und eine ungerechtfertigte fristlose Kündigung. Meine Klage ans Arbeitsgericht Zürich umfasste 12 Seiten. Die Klageantwort war dann rund 290 Seiten lang, mit circa 30 Bundesordnern an Beilagen, die ein Gerichtsweibel vorbeigebracht hat. Ich war durch den schieren Umfang an Dokumenten regelrecht erschlagen. Die Gegenseite warf meinem Klienten Betrug vor. Es wurde arbeitgeberseits auch Strafanzeige erstattet, und 168 Personen wurden als Zeugen aufgeboten. Die Staatsanwaltschaft hat selektiv circa 10 von ihnen befragt; sie konnten sich an keine Details erinnern. Am Schluss taxierte auch das Arbeitsgericht Zürich die fristlose Kündigung als ungerechtfertigt.
Was sind Ihrer Meinung nach die grössten Stärken und Schwächen im Schweizer Arbeitsrecht/Arbeitsmarkt?
Das Schweizer Arbeitsrecht ist gerade im Vergleich zu anderen europäischen Ländern äusserst liberal und im Grundsatz einfach, was immer wieder Diskussionen bei deutschen Klientinnen und Klienten aufwirft, die einen stärkeren Arbeitnehmerschutz gewohnt sind.
Die Arbeitswelt hat sich inzwischen stark verändert, Homeoffice und flexibles Arbeiten ist heute ein Muss für Arbeitgebende. Die arbeitsrechtlichen Bestimmungen hinken der Lebensrealität nach; eine Flexibilisierung der Arbeitszeiten ist dringend nötig, da die heutigen gesetzlichen Grundlagen nicht mehr der Lebensrealität entsprechen und aus einer anderen Zeit stammen.
Welches wäre Ihr wichtigster Tipp an Arbeitnehmer, welches an Arbeitgeber?
Grundsätzlich können durch Kommunikation viele Probleme vermieden werden. Auf Seite der Arbeitgenden fällt mir auf, dass sie teilweise Mühe mit der Kommunikation haben, wenn eine Arbeitnehmerin oder ein Arbeitnehmer krank ist. Natürlich ist dies für Arbeitgebende mühsam und mit Mehraufwand verbunden. Die Kommunikation arbeitgeberseits wird dann von Arbeitnehmenden als Vorwurf wahrgenommen, so dass längere Krankschreibungen resultieren. Hier rate ich Arbeitgebenden, sich ruhig einmal nach dem Wohlbefinden der kranken Person zu erkunden, Genesungswünsche zu senden und allenfalls auch zu fragen, was vorzukehren ist, damit eine Rückkehr an den Arbeitsplatz erfolgen kann. Der wirtschaftliche Verlust für Arbeitgebende bei Krankschreibungen ist enorm gross. Fühlt sich ein Arbeitnehmer oder eine Arbeitnehmerin verstanden, ist die Wahrscheinlichkeit relativ gross, dass er oder sie wieder eher an den Arbeitsplatz zurückkehrt, was im Endeffekt auch für die Arbeitgeberin oder den Arbeitgeber günstiger und angenehmer ist.
Bei Arbeitnehmenden fällt mir auf, dass Kritik in Arbeitszeugnissen und Mitarbeiterbewertungen immer als negativ und unfair empfunden wird. Nur wenn wir kritikfähig sind, lernen wir dazu und können uns auch entsprechend verbessern und weiterentwickeln. Hier wäre ab und zu mehr Selbstreflexion angezeigt; und nicht jede Kritik stellt gleich ein Mobbing dar …
Wie hat sich das Arbeitsrecht / der Arbeitsmarkt in den vergangenen Jahren Ihrer Meinung nach verändert?
Der Arbeitsmarkt ist schnelllebiger geworden. Die Arbeit dient heute nicht mehr nur dem Gelderwerb, sondern ist auch Teil der Selbstverwirklichung. Die Anforderungen an eine Stelle sind demnach in verschiedener Hinsicht gestiegen, und wenn sich eine Arbeitnehmerin oder ein Arbeitnehmer bei einer Arbeitgeberin oder einem Arbeitgeber nicht weiterentwickeln kann, kommt es zu einem Stellenwechsel. Die gegenseitige Loyalität ist nicht mehr im gleichen Mass vorhanden. Geändert hat sich auch die Leistungsbewertung: Während früher direkt bewertet wurde, erfolgt heute die Bewertung vorwiegend in den MABs.
Welches ist Ihrer Meinung nach die grösste Herausforderung im Schweizer Arbeitsrecht/Arbeitsmarkt in den kommenden 10 Jahren?
Die grösste Herausforderung ist sicher die Flexibilisierung der gesetzlichen Bestimmungen und deren Anpassung an die Lebensrealität, ohne dabei den Arbeitnehmerschutz zu vernachlässigen.
Da momentan ein Arbeitnehmermarkt besteht, dürfte es für Arbeitgebende auch künftig eine Herausforderung sein, gutes Personal zu rekrutieren. Dies mussten wir bei der Kinderspitex ebenfalls erfahren; aufgrund des Fachkräftemangels muss man sich auf Arbeitgeberseite überlegen, mit welchen zusätzlichen Benefits man Personal rekrutieren kann. Der Lohn allein ist heute nicht mehr ausschlaggebend, ebenso wichtig sind z.B. die Möglichkeit zur flexiblen (Teilzeit-)Arbeit sowie Aus- und Weiterbildungsmöglichkeiten mit Unterstützung durch die Arbeitgeberin oder den Arbeitgeber. Es gibt Arbeitgebende, die bereits eine 4-Tage-Woche eingeführt haben, und grössere Unternehmen, die den Arbeitnehmenden Sportmöglichkeiten, Kinderbetreuung und weitere Benefits anbieten.
Marco Kamber | legalis brief ArbR 21.03.2024