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VORGESTELLT

Konrad Jeker – «Wie sich Menschen anmassen können, andere Menschen einzusperren, werde ich nie verstehen.»

Straf- & Strafprozessrecht

Konrad Jeker ist Rechtsanwalt und Fachanwalt SAV Strafrecht. Er praktiziert seit 25 Jahren als Strafverteidiger mit Schwerpunkt Wirtschaftsstrafrecht in der deutschsprachigen Schweiz. Er publiziert regelmässig in Fachzeitschriften und referiert an Fachhochschulen und Universitäten. Er betreibt den Blog «strafprozess.ch» und ist Mitherausgeber der Zeitschrift forumpoenale.

Wann sind Sie das erste Mal mit dem Strafrecht in Kontakt gekommen?

Mir kommen zwei Ereignisse in den Sinn.

Beim ersten hat das Strafrecht sicher nicht die Hauptrolle gespielt. In unserer Nachbarsfamilie hat der Vater seine Kinder mit einem Messer umzubringen versucht. Eines hat er getötet, ein zweites schwer verletzt, und das dritte konnte fliehen. Ich war schockiert, aber natürlich auch erleichtert darüber, dass die Polizei unseren Nachbarn sofort einsperren konnte. Er kam nie mehr auf freien Fuss und starb im Vollzug.

Beim zweiten Ereignis war ich der Täter. Ich wurde mit ca. 17 Jahren von einem Polizisten angehalten und gebüsst, weil ich mit dem Fahrrad ein Stoppsignal überfahren hatte. Ich habe mich schrecklich aufgeregt, und zwar nicht über die Busse, sondern darüber, dass der Polizist nur mich angehalten hat und nicht auch den Autofahrer, der mit mir zusammen einen halben Meter neben mir genau dasselbe getan hatte.

Was sind Ihre alltäglichen Herausforderungen?

Die grösste Herausforderung ist je länger je mehr das Zeitmanagement. Die StPO lässt uns Strafverteidigern lächerlich kurze Reaktionszeiten auf Entscheide, die meistens ohne jede Vorwarnung eintreffen und nicht erstreckbare Fristen auslösen. Einen Fristenstillstand kennt die StPO nicht, sodass Fristen auch während Ferien oder Festtagen laufen. Es gibt Strafbehörden, die Zustellungen gerne am 24. Dezember vornehmen.

Mit welcher Person aus dem Bereich des Strafrechts (aktuell oder historisch) würden Sie gerne für einen Tag die Rollen tauschen?

Eine konkrete Person fällt mir nicht ein. Ich würde gern mit einem Strafgefangenen tauschen, aber mindestens eine Woche müsste es dann schon sein. Mit einem Strafrichter würde ich nur tauschen, wenn er gerade einen Ferientag bezieht.

Haben ihre Erfahrungen mit dem Strafrecht Sie bzw. die Sicht auf Menschen verändert?

Ja. Es gibt viel mehr böse, egozentrische und oberflächliche Menschen, als ich dachte. Manchmal sitzen sie im Gerichtssaal neben mir, manchmal aber auch vor mir.

Machen Strafen Menschen zu bessern Leuten?

Das lässt sich im Einzelfall zwar nicht ausschliessen, trifft aber in aller Regel sicher nicht zu und wäre ja auch erstaunlich, zumal insbesondere Freiheitsstrafen für alle Betroffenen und für die Gesellschaft enormen Schaden anrichten. Wie sich Menschen anmassen können, andere Menschen einzusperren, werde ich nie verstehen.

Wenn Sie die Möglichkeit hätten, was würden Sie ändern (Strafnormen, Strafsystem, Prozess etc.)?

Ich würde damit beginnen, alle Strafnormen zu streichen, die ohne geschädigte Personen auskommen. Alle Gefährdungsdelikte würden ebenfalls abgeschafft.

Im Strafprozessrecht würde ich das Strafbefehlsverfahren ausdehnen, aber wie folgt abändern. Ein Strafbefehl wird nur zum Urteil, wenn er von der beschuldigten Person ausdrücklich angenommen wird. Alle anderen Fälle müssen vor ein Geschworenengericht oder werden eingestellt, wenn nach sechs Monaten noch keine Anklage erhoben wurde. Rechtsmittelinstanzen mit voller Kognition gibt es nicht. Es gibt nur noch Kassationsgerichte für die Korrektur von Verfahrensfehlern. Die absolute Höchstdauer für die vorprozessuale Haft beträgt einen Monat. Der Adhäsionsprozess wird abgeschafft.

Cinzia Fallegger-Santo | legalis brief StrR 21.05.2024