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VORGESTELLT

Annette Keller – «Ich wünschte mir mehr alternative Strafmöglichkeiten zum Freiheitsentzug.»

Strafen und Massnahmen

Annette Keller wurde 1961 in Ermatingen geboren. Nach dem Besuchen eines Lehrseminars in Kreuzlingen und dem Theologie-Studium an der Universität Bern war sie ab 2000 als Betreuerin in der Frauenhaftanstalt Hindelbank tätig. Ein berufsbegleitendes Studium der Sozialen Arbeit an der Hochschule für Soziale Arbeit in Luzern folgte 2001 und führte schliesslich zur Beförderung zur Abteilungsleiterin «Vollzug» in Hindelbank sowie zur Tätigkeit als Leiterin des Sozialdienstes der Universitären Psychiatrischen Dienstes in Bern. Nebenberuflich ist sie seit 1994 internationale Wahlbeobachterin unter anderem in Südafrika, Tadschikistan, der Ukraine und Armenien. Seit 2011 ist Annette Keller Direktorin der JVA Hindelbank.

Wann sind Sie das erste Mal mit dem Strafrecht in Kontakt gekommen?

Erstmals mit dem Strafrecht – bzw. dem Missbrauch davon – bin ich in den 1980er-Jahren im Rahmen von Amnesty International in Kontakt gekommen. Als junge Lehrerin war ich Mitglied einer Regionalgruppe von AI. Dass Menschen allein aufgrund ihrer Gesinnung verurteilt und inhaftiert werden, hat mich schon damals sehr beschäftigt.

Was sind Ihre alltäglichen Herausforderungen?

Als Direktorin einer Justizvollzugsanstalt (JVA) gilt es eine Vielfalt von unterschiedlichsten Aufgaben zu überblicken und zusammen mit den Mitarbeitenden zu erfüllen. Eine JVA muss intern alles anbieten, was sich freie Menschen draussen selber organisieren: Unterkunft, Verpflegung, Gesundheitsversorgung, Arbeit, Weiterbildung, Sport, Freizeitbeschäftigung, Kontakte mit Kindern und Angehörigen. Gleichzeitig müssen Schutz und Sicherheit gegen innen und aussen gewährleistet sein. Da Hindelbank die einzige JVA für Frauen in der deutschsprachigen Schweiz ist, arbeiten wir zudem mit vielen kantonalen Behörden zusammen.

In dieser Vielfalt von Aufgaben, Anspruchsgruppen sowie Arbeitspartnerinnen und Arbeitspartnern ist es eine tägliche Herausforderung, Prioritäten zu setzen und innerhalb des sehr lebendigen Anstaltsalltags auch die strategische Weiterentwicklung konsequent zu verfolgen.

Mit welcher Person aus dem Bereich des Strafrechts (aktuell oder historisch) würden Sie gerne für einen Tag die Rollen tauschen?

Ich würde gerne einmal einen Tag auf der Opferhilfe mitarbeiten. Die Arbeit mit den Opfern von Straftaten gehört nicht zur Arbeit einer JVA. Und trotzdem spielen die Konsequenzen der Delikte und die Einsicht darin in der Arbeit mit den inhaftierten Frauen eine wichtige Rolle. Es zeigt sich übrigens auch, dass manche der Straftäterinnen selber Opfer waren, bevor sie zur Täterin wurden.

Haben Ihre Erfahrungen mit dem Strafrecht Sie bzw. die Sicht auf Menschen verändert?

Die Arbeit im Strafvollzug hat mein Menschenbild differenziert. Der Glaube an das Gute im Menschen ist aber geblieben. Ich habe noch keine Straftäterin getroffen, die nicht auch prosoziale und lebensförderliche Seiten in sich trägt. Gleichzeitig erfahren wir immer wieder, wie tief diese Seiten verschüttet und überlagert sein können und wie eklatant die Diskrepanz zwischen Wollen und Können des «Guten» sein kann. Die Arbeit im Justizvollzug hat meine Sicht für beide Seiten geschärft, für das Destruktive, aber auch für das Positive und Kostbare.

Machen Strafen Menschen zu besseren Leuten?

Ich glaube, dass Strafen eine Auswirkung darauf haben, dass Menschen gewisse Handlungen vermeiden. In diesem Sinne bin ich überzeugt von der generalpräventiven Notwendigkeit von Strafen, um die Gültigkeit von Normen zu schützen.

Ob Strafen jedoch «bessere Leute» machen? Wenn «bessere Leute» Menschen sind, die aus eigener Motivation Rücksicht nehmen auf die Bedürfnisse anderer, dann lautet die Antwort: Nein. Dafür braucht es statt Strafen das Wecken von Verständnis und Einsicht in begangenes Unrecht, für die Bedürfnisse anderer und für die Sinnhaftigkeit einer Norm. Damit dem Wollen auch das Können folgt, braucht es oft zusätzlich das Trainieren prosozialer Fertigkeiten.

Wenn Sie die Möglichkeit hätten, was würden Sie ändern (Strafnormen, Strafsystem, Prozess etc.)?

Ich wünschte mir, dass es noch mehr alternative Strafmöglichkeiten zum Freiheitsentzug geben würde. Der Freiheitsentzug greift so stark in das Leben von Menschen ein, dass es oft kaum möglich ist, den schädlichen Folgen genügend entgegenzuwirken. Dies betrifft insbesondere auch die Auswirkungen auf Kinder und Angehörige. Ich bin deshalb froh, dass das Bewusstsein für diese Mitbetroffenen wächst.

Im Freiheitsentzug selber würde ich der Wiedereingliederung noch mehr Gewicht beimessen. Eine nicht gelingende Reintegration in die Gesellschaft hat sowohl für die betroffene Person und ihr Umfeld wie für die Gesellschaft hohe Kosten zur Folge. Der Übergang vom stark reglementierten und auch beschützenden Alltag in einer Justizvollzugsanstalt zurück in die Gesellschaft wird unterschätzt. Eine längere Zeit in einem offenen Vollzugssetting mit externer Arbeit und Aktivitäten könnte diesen Übergang sicherer und erfolgreicher machen.

Simone Kaiser | legalis brief StrR 23.08.2022