Livia Schmid – «Wir müssen uns eingestehen, dass Gefängnisse uns nicht zu besseren Menschen machen.»
Straf- & Strafprozessrecht

Zwischen 2014 und 2019 absolvierte Livia Schmid das Studium der Rechtswissenschaften an den Universitäten Bern und Utrecht. Im direkten Anschluss folgte das Anwaltspraktikum bei der Staatsanwaltschaft Region Bern-Mittelland sowie in einer Berner Kanzlei. Nach der Anwaltsprüfung war sie ein Jahr lang als Anwältin in einer kleinen Kanzlei tätig, bevor sie im Oktober 2023 zur NGO humanrights.ch wechselte, wo sie die Leitung der Beratungsstelle Freiheitsentzug übernahm. Im April 2024 trat Livia Schmid zudem eine Anstellung als Rechtsanwältin bei Procap Schweiz an. Derzeit ist sie in beiden Funktionen mit einem Pensum von je 50 % tätig.
Wann sind Sie das erste Mal mit dem Strafrecht und mit dem Thema Freiheitsentzug in Kontakt gekommen?
Bereits während des Bachelors konnte ich im Rahmen der Human Rights Law Clinic der Universität Bern an einem Rechtsgutachten mitwirken, das die Frage behandelte, ob die im Bezirksgefängnis Pfäffikon beanstandeten Haftbedingungen eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung im Sinne von Art. 3 EMRK darstellen. Seither lässt mich die Thematik nicht mehr los.
Was sind Ihre alltäglichen Herausforderungen?
Nach internationalen Standards und Soft-Law-Regeln, die auch für die Schweiz gelten würden, hätten Inhaftierte grundsätzlich Anspruch auf rechtliche Beratung. Dieser Anspruch wird jedoch nicht umgesetzt. Diese Lücke im Rechtssystem versuchen wir mit unserer unabhängigen Rechtsberatung zu schliessen. Dies gelingt uns einzig dank privater Spenden. Da die Mittel sehr begrenzt sind, versuchen mein Mitarbeiter und ich mit äusserst knappen Ressourcen dennoch möglichst vielen Ratsuchenden qualitativ gute Rechtsauskunft zu erteilen. Die grosse Zahl an Anfragen übersteigt unsere Kapazitäten jedoch bei Weitem.
Was sind die Möglichkeiten und Grenzen der Beratungsstelle Freiheitsentzug?
Wir bieten niederschwellige und unentgeltliche Rechtsberatung für Inhaftierte Personen und ihre Angehörigen an. Dies entweder schriftlich per Brief oder E-Mail sowie jeden Donnerstagnachmittag über unsere Telefonhotline. Unser Ziel ist es, die Ratsuchenden zunächst zu ermutigen und vor allem zu befähigen, ihre Anliegen eigenständig anzugehen. Wir erklären ihnen die rechtliche Lage, zeigen mögliche Handlungsoptionen auf und stellen bei Bedarf auch Vorlagen für Rechtsschriften zur Verfügung. Nur in Ausnahmefällen verfassen wir Rechtsschriften im Ghostwriting oder intervenieren direkt beim Gefängnis.
Doch selbst wer seine Rechte kennt, muss stets abwägen, ob eine Beschwerde sinnvoll ist. Jede Eingabe birgt das Risiko, dass das Gefängnispersonal mit subtilen oder offenen Repressionen reagiert. Selbst bei späterer Gutheissung bleibt die Realität: Inhaftierte sitzen stets am kürzeren Hebel.
Für besonders gravierende Fälle steht ein nationales Netzwerk engagierter Anwältinnen und Anwälte zur Verfügung, an das Betroffene weitervermittelt werden können. Zudem betreiben wir einen Pikettdienst mit vier Strafverteidigerinnen und Strafverteidigern, die uns abwechselnd pro bono unterstützen. Mit dieser Struktur konnten wir im vergangenen Jahr rund 260 telefonische Beratungen durchführen sowie über 1’500 Briefe und E-Mails beantworten.
Das Straf- und Massnahmenvollzugsrecht ist ein föderalistischer Flickenteppich. Viele für den Haftalltag entscheidende Regelungen finden sich erst auf Anstaltsebene in den Hausordnungen. Dadurch verfügen die Anstaltsleitungen zum Teil über einen sehr weiten Ermessensspielraum bei der Gestaltung der Haftbedingungen. Unter einer liberalen Leitung, die bereit ist, mit uns ins Gespräch zu treten, eröffnen sich hierbei aber auch Chancen für Verbesserungen: etwa zweistufige Leibesvisitationen, Ventilatoren in den Arbeitsräumen während der Sommermonate oder die Ersetzung eines Vorhangs zur Abtrennung der Toilette in Mehrbettzellen durch eine feste Wand.
Klare Grenzen setzt jedoch die Politik. Z.B. haben Personen mit strafrechtlichem Landesverweis keinen Zugang zum Arbeitsexternat. Ebenso verbleiben Verwahrte in den Haftstrukturen, obwohl sie ihre Strafe bereits verbüsst haben.
Haben Ihre Erfahrungen mit Strafrecht und Freiheitsentzug Sie bzw. Ihre Sicht auf Menschen verändert?
Diese Frage ist für mich schwierig zu beantworten. Klar ist, dass unabhängig vom Grund der Inhaftierung jede Person Anspruch auf menschenrechtskonforme Haftbedingungen hat. Um diesen Massstab konsequent hochzuhalten, habe ich gelernt, wie zentral ein respektvoller Umgang auf Augenhöhe ist. Hierzu darf nicht ausser Acht gelassen werden, dass verschiedene Faktoren dazu führen, dass jemand in den Justizvollzug gerät.
Machen Strafen Menschen besser? Machen Massnahmen Menschen besser?
Nein, wir müssen uns eingestehen, dass Gefängnisse uns nicht zu besseren Menschen machen. Die Mehrheit der Inhaftierten ist von Armut betroffen, häufig hoch verschuldet und leidet im Vergleich zur Allgemeinbevölkerung überproportional oft an Suchterkrankungen, Infektionskrankheiten sowie psychischen Störungen. Zudem verfügt mehr als die Hälfte über keinen Schweizer Pass. Auffällig ist auch der hohe Anteil an Ersatzfreiheitsstrafen. Fast die Hälfte aller Inhaftierungen sind derzeit auf die Umwandlung von nicht bezahlten Bussen oder Geldstrafen zurückzuführen.
Diese Befunde verdeutlichen, dass der Strafvollzug in erster Linie Menschen betrifft, die bereits am «Rande der Gesellschaft» stehen und für die adäquate Unterstützungsangebote fehlen. Würden diese Personen nicht inhaftiert, verbliebe lediglich jener Teil der Gefangenenpopulation, bei dem tatsächlich diskutiert werden kann, ob Freiheitsentzug zur Gewährleistung der öffentlichen Sicherheit notwendig ist.
Was sind die grössten Probleme in der schweizerischen Praxis des Straf- und Massnahmenvollzuges?
Die Schweiz weist die zweithöchste Suizidrate unter Inhaftierten in Europa auf. Ein Suizid ist für mich stets ein deutliches Alarmzeichen, dass hinter den Gefängnismauern gravierende Probleme bestehen. Hinzukommen: fehlende nationale Gesetzesharmonisierung für grundlegende menschenrechtskonforme Haftstandard, inadäquate Prüfungen der Hafterstehungsfähigkeiten, fehlender Zugang zum Recht, immer längere Haftdauer, 23-Stunden-Einschluss in Untersuchungshaft, Isolationshaft, ein intransparentes Disziplinarwesen, ungleiche Haftbedingungen für Personen mit strafrechtlichem Landesverweis, zu starker Ausbau von Zwangstherapien, kein spezifisches Setting für Verwahrte, fehlende Arbeitsmöglichkeiten mit praktischem Nutzen nach der Haft sowie zu tiefe Entlöhnungen.
Wenn Sie die Möglichkeit hätten, was würden Sie ändern?
Es braucht ein grundsätzliches Umdenken in der Strafjustiz. Soziale Herausforderungen wie Armut oder Migration lassen sich nicht durch eine Ausweitung des Strafrechts bewältigen. Die beträchtlichen finanziellen Mittel, die heute in den Justizvollzug fliessen, könnten von den Kantonen sinnvoller in präventive und unterstützende Massnahmen investiert werden.
Gleichzeitig fehlt es im bestehenden System an einer Kultur der Verantwortung. Beschuldigten wird im Strafverfahren häufig geraten, vom Aussageverweigerungsrecht Gebrauch zu machen. Dies ist prozessual nachvollziehbar, aber erschwert die Eigenverantwortung. Im Vollzug setzt sich dies fort: Da Gespräche über die Tat gegenüber Personal oder Therapeuten in den Akten landen und später bei der Frage der bedingten Entlassung negativ ausgelegt werden können, sind Inhaftierte oft besser beraten zu schweigen oder die Therapie ganz zu verweigern.
Hinzu kommt, dass ihr Alltag in nahezu allen Bereichen streng reglementiert ist – von der Tagesstruktur über die Ernährung bis zum Einkauf im Kiosk. Für jedes Fehlverhalten drohen Disziplinarmassnahmen. Das Resultat: Viele fühlen sich dem Willen des Gefängnispersonals ausgeliefert. Statt Eigenverantwortung zu fördern, entsteht eher Oppositionsverhalten und ein gesundes Selbstvertrauen schwindet.
Unter diesen Bedingungen bleibt kaum Raum für eine ernsthafte Auseinandersetzung mit der eigenen Verantwortung oder deren Folgen. Der Vollzug schafft vielmehr zusätzliche Probleme, die eine konstruktive Resozialisierung verhindern.
Was erwarten Sie von
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Strafverteidigerinnen und Strafverteidigern?
Immer wieder sehe ich, wie sehr Inhaftierte in U-Haft allein gelassen werden. Viele Anwältinnen und Anwälte unterschätzen die enorme psychische Belastung oder verfügen schlicht nicht über die nötigen zeitlichen Ressourcen. So bleiben ihre Mandantinnen und Mandanten über Monate ohne wirkliche Begleitung zurück. Die Konsequenzen sind gravierend: Das Vertrauen zerbricht – nicht nur in die Verteidigung, sondern in die Justiz insgesamt.
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Staatsanwaltschaft?
Dass sie das Verfahren fair und zügig führt, das heisst unter anderem, dass sie Untersuchungshaft weniger beantragen und aufrechterhalten würde als es heute der Fall ist. Wo bei angeordneter Untersuchungshaft keine Kollusionsgefahr besteht, sollten Besuche und Telefonate von Angehörigen sofort zugelassen werden. Für viele ist es nahezu unerträglich, nicht zu wissen, wie es der inhaftierten Person in U-Haft geht.
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Strafgerichten?
Den Verurteilten sollte die Länge der angeordneten Haftzeit möglichst verständlich erläutert werden. Die zunehmende Verhängung stationärer Massnahmen nach Art. 59 StGB ist nicht immer forensisch-psychiatrisch begründet, sondern teilweise auch das Resultat politischen, medialen und gesellschaftlichen Drucks im Sinne einer Nullrisikostrategie. Rechtsstaatlichkeit erfordert jedoch den Mut zu differenzierten und sachlichen Entscheidungen.
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Vollzugsbehörden?
Bedingte Entlassungen sollten wieder vermehrt in Betracht gezogen werden. Zudem gilt es kritisch zu prüfen, ob jedes angestrebte Verlängerungsverfahren im Massnahmenvollzug tatsächlich notwendig ist. Weiter sollte nicht allen Inhaftierten eine Fluchtgefahr unterstellt werden, denn durch diesen Generalverdacht werden sie häufig wie Objekte behandelt. Beispielsweise Gefängnisverlegungen oder externe Arzttermine werden oft erst in letzter Minute mitgeteilt, was zu unnötigem Stress und einem Gefühl des Kontrollverlustes führt.
Johannes Mosimann | legalis brief StrR 15.10.2025