Christine Künzli – «Das Strafrecht hat grosse Symbolkraft, wenn es darum geht, die Stellung des Tieres in der Gesellschaft zu schwächen oder zu stärken.»

StGB AT, StGB BT, StPO

Nach ihrem Studium der Rechtswissenschaften und der Anwaltsprüfung in Bern, arbeitete Christine Künzli zunächst als Rechtsanwältin bei Burkhalter Rechtsanwälte, Bern sowie als wissenschaftliche Mitarbeiterin bei der Stiftung für das Tier im Recht (TIR). 2013 wurde sie Mitglied der Geschäftsleitung bei TIR; 2020 absolvierte sie den LL.M. in Kriminologie an der Universität Bern.

Wann sind Sie das erste Mal mit dem Strafrecht in Kontakt gekommen?

Mit dem Strafrecht bin ich das erste Mal vor über 20 Jahren im Rahmen meines Studiums der Rechtswissenschaften an der Universität Bern in Kontakt gekommen. Das Thema hat mich von Anfang an interessiert und fasziniert. Ich hatte mich überwiegend aus ethischen Gründen für das Jusstudium entschieden. Das Strafrecht erschien mir von Anfang an als ein wichtiges Instrument, um die gesellschaftliche Ordnung aufrecht zu erhalten. Zudem erachte ich das Strafrecht als entscheidendes Korrektiv, um Missständen – wie insbesondere dem Umstand, dass Tiere in unserer Gesellschaft noch immer erheblichem Leiden ausgesetzt sind – zu begegnen. Die Frage, was wir als delinquentes Verhalten bezeichnen, wie Delinquenz entsteht und wie wir als Gesellschaft mit ihr umgehen hat mich derart interessiert, dass ich 2020 die LL.M.-Ausbildung in Kriminologie an der Universität Bern abgeschlossen habe. Im Rahmen meiner Tätigkeit bei der Stiftung für das Tier im Recht (TIR) beschäftige ich mich u.a. mit den Strafnormen des Schweizer Tierschutzgesetzes und bin an der jährlichen Analyse der Schweizer Tierschutzstrafpraxis beteiligt.

Was sind Ihre alltäglichen Herausforderungen?

Bei meiner Arbeit habe ich es hauptsächlich mit der negativen Seite der Mensch-Tier-Beziehung zu tun. Zwar wurden seit den 1980er-Jahren die strafrechtlichen Schutz- und Vollzugsinstrumente zu Gunsten der Tiere in der Schweiz massiv ausgebaut. So enthält das Schweizer Tierschutzgesetz in den Artikeln 26 bis 28 eine breite Aufzählung an Umgangsformen mit Tieren, die zu Recht kriminalisiert werden. Trotzdem erfährt der rechtliche Schutzumfang des Wohlergehens und der Würde der Tiere empfindliche Beschränkungen: Obwohl zwingender Teilgehalt der Würde wird das Leben des Tieres im Schweizer Tierschutzrecht beispielsweise nicht ausdrücklich geschützt. Zudem werden zahlreiche Haltungs- Nutzungs- und Umgangsformen, die für die betroffenen Tiere mit erheblichem Leiden verbunden sind, noch immer durch das Tierschutzrecht legitimiert, wodurch das Tier in vielen Lebensbereichen zu einer reinen Ressource für menschliche Nutzungsinteressen degradiert wird. Die Relativierung des strafrechtlichen Schutzumfangs zeigt sich zudem im Umstand, dass das Tierschutzrecht nur ausgewählten Tieren schutzwürdige Interessen zugesteht und das Schutzniveau je nach Tierart sehr unterschiedlich definiert.

Nicht zuletzt führen auch der Umstand, dass das Schweizer Strafgesetzbuch Tiere noch immer als Sachen behandelt sowie die fehlende Berücksichtigung der tierlichen Interessen im Strafprozessrecht zu einer Entwertung und Verdinglichung des Tieres. Weiter belegt unsere jährliche Analyse der Schweizer Tierschutzstrafrechtspflege, dass Staatsanwaltschaften und Gerichte schweizweit dazu tendieren, die schutzwürdigen Interessen von Tieren in Tierschutzstrafverfahren – aufgrund fehlender Fachkenntnisse oder mangelnder Sensibilität – nicht ausreichend zu würdigen und dadurch tierliches Leid zu bagatellisieren. In der Wissenschaftlichen Diskussion und in der politischen Debatte wird das Tierschutz(straf-)recht zudem oftmals zu Unrecht als Luxusdebatte abgetan, die erst geführt werden sollte, wenn alle anderen Problem im Straf- bzw. Strafprozessrecht gelöst sind.

Mit welcher Person aus dem Bereich des Strafrechts (aktuell oder historisch) würden Sie gerne für einen Tag die Rollen tauschen?

Wenn mir Strafentscheide vorliegen, bei denen das Leiden und die Würde der Tiere zu wenig oder gar nicht berücksichtigt werden, würde ich jeweils gerne mit der zuständigen Staatsanwältin oder Richterin / dem zuständigen Staatsanwalt oder Richter den Platz tauschen, um den Sachverhalt erneut beurteilen zu können.

Haben Ihre Erfahrungen mit dem Strafrecht Sie bzw. die Sicht auf Menschen verändert?

Meine Sicht auf die Welt und auf die Menschen hat sich durch die intensive Beschäftigung mit Tierquälereifällen nicht grundsätzlich verändert. Mir war früh bewusst, zu welchen Taten der Mensch gegenüber Schutzbefohlenen fähig ist. Daher habe ich mich von Anfang an für die Thematik interessiert. Trotzdem hat die langjährige Beschäftigung mit strafrechtlichen und kriminologischen Fragestellungen dazu geführt, dass ich heute über eine differenziertere Sichtweise auf Täter, Opfer und delinquentes Verhalten an sich verfüge. Welche Verhaltensweisen wir als «kriminell» bezeichnen ist schliesslich eine gesellschaftliche Entscheidung, also eine Frage der Definition und des aktuellen Zeitgeists. Kriminelles Verhalten ist dadurch stets dem Wandel der Zeit unterworfen. Diese Erkenntnis relativiert das Verhältnis zur Kriminalität und trotzdem bildet das Strafrecht den ethischen Kodex ab, auf den sich die Gesellschaft geeinigt hat. Daher erachte ich das Strafrecht als einen zentralen Faktor mit grosser Symbolkraft, wenn es darum geht, die Stellung des Tieres in der Gesellschaft zu schwächen oder zu stärken.

Machen Strafen Menschen zu besseren Leuten?

Über Sinn und Zweck von Strafen lässt sich diskutieren. Eine hohe Relevanz messe ich eher der generalpräventiven als der individualpräventiven Wirkung des Strafens bei. Die Existenzberechtigung des Strafrechts als Instrument zur Aufrechterhaltung einer sozialen Ordnung ist evident. Die Kriminalisierung ethisch unerwünschten Verhaltens – wie etwa Tierquälereien – und die öffentliche Feststellung eines Unrechts ist ein zentraler sozialer Prozess, um die Gültigkeit der von einer Gesellschaft gewählten Rechtsordnung für jedermann sichtbar zu bestätigen. Das Strafrecht allein vermag die Wahrnehmung des Tieres in der Gesellschaft und im Recht zwar nicht zu ändern, aber es kann einen wichtigen Beitrag dazu leisten. Wenn wir Tiere als Teil unserer Gesellschaft anerkennen, dann sind wir es ihnen schuldig, das Strafrecht als soziales Ordnungsinstrument und das Strafverfahren als Ort der öffentlichen Unrechtsfeststellung ebenso zum Schutze ihrer Interessen zur Anwendung zu bringen.

Wenn Sie die Möglichkeit hätten, was würden Sie ändern (Strafnormen, Strafsystem, Prozess etc.)?

Um den Schutz der Tiere im Strafrecht zu stärken müssen die Kantone die für einen funktionierenden Tierschutzvollzug notwendigen personellen und finanziellen Ressourcen zur Verfügung stellen sowie auf das Tierschutzrecht spezialisierte Fachstellen bei der Polizei und Staatsanwaltschaft installieren. Zudem sollten sie den Informationsaustausch zwischen den für den Tierschutzvollzug zuständigen Behörden fördern und die dafür allenfalls notwendigen rechtlichen Grundlagen schaffen. Veterinär- und Polizeibehörden müssen festgestellte Tierschutzverstösse konsequent zur Anzeige bringen und ihre Ermittlungsarbeit sorgfältig führen. Das Tierschutz(straf-)recht muss Gegenstand der juristischen und polizeilichen Ausbildung werden. Übertretungsstrafbehörden, Staatsanwältinnen und Staatsanwälte sowie Gerichtsbehörden haben sich im Bereich des Tierschutzstrafrechts aus- und weiterzubilden. Im Rahmen ihrer Entscheidungen müssen sie die tierlichen Interessen angemessen berücksichtigen und ihre Beschlüsse hinreichend begründen. Ebenso wichtig wäre die Vertretung der tierlichen Interessen im Strafverfahren durch unabhängige Anwältinnen und Anwälte, deren Legitimation in der Strafprozessordnung festgehalten und dementsprechend für alle Kantone verbindlich ist. Die Kriminologie sollte sich verstärkt dem Tier als Opfer von strafrechtlich relevanten Handlungen widmen. Bund und Kantone haben die im Zusammenhang mit der Tierschutzdelinquenz relevanten statistischen Erhebungen zu tätigen und für mehr Transparenz im Tierschutzstrafverfahren zu sorgen. Schliesslich sind von der Politik tierfreundlichere Gesetze und der ausdrückliche Lebensschutz von Tieren zu fordern.

Sandra Schultz | legalis brief StrR 17.08.2023