Florian Jenal – «Im Prozessrecht würde ich alternative Streiterledigungsmodelle im Sinne einer ‹Restorative Justice› einführen.»
Privatklägerschaft, Straf- & Strafprozessrecht

Florian Jenal ist Gerichtsschreiber in der strafrechtlichen Abteilung des Kantonsgerichts Basel-Landschaft. Er studierte Rechtswissenschaft in Basel, absolvierte anschliessend Volontariate in der Advokatur und an Gerichten und erwarb 2018 das Anwaltspatent. Anschliessend arbeitete er in Teilzeit als Advokat und als Gerichtsschreiber und nahm im Herbst 2019 die Arbeit an seiner Dissertation auf, die er schliesslich von 2023 bis 2024 als Stipendiat des Forschungsfonds der Universität Basel abschloss.
Wann sind Sie das erste Mal mit Strafrecht in Kontakt gekommen?
An ein bestimmtes Ereignis kann ich mich nicht erinnern, aber mein erster Kontakt mit dem Strafrecht hat sicher in meiner Jugend über Kriminalromane stattgefunden. In diesen stand am Ende die Wahrheit zweifelsfrei fest und Gut und Böse konnten klar voneinander getrennt werden. Die Realität ist freilich selten so eindeutig wie die Fiktion.
Was sind Ihre alltäglichen Herausforderungen?
Meine Hauptaufgabe als Gerichtsschreiber ist es, die Entscheide des Gerichts in Schriftform zu giessen. Eine wesentliche Herausforderung besteht darin, bei der Entscheidredaktion einen Spagat zu finden zwischen einem möglichst konzisen Stil und der notwendigen Ausführlichkeit, die aufgrund der Komplexität der sich stellenden Fragen erforderlich ist.
Welche Eigenschaften sind für eine Strafverteidigerin und/oder eine Opfervertreterin Ihrer Meinung nach wichtig?
Die Verteidigung gleichermassen wie die Opfervertretung muss die Interessen ihrer Klientschaft vertreten. Worin die Interessen der Mandantschaft liegen, muss diese allerdings selbst festlegen, nachdem sie von ihrer Rechtsvertretung umfassend aufgeklärt und beraten worden ist. Diese Interessen der Klientschaft muss die Rechtsvertretung respektieren und ihr Handeln – in den Schranken des Gesetzes und der Standesregeln – danach ausrichten. Dementsprechend ist es beispielsweise unstatthaft, wenn die Verteidigung vor Gericht aufgrund einer ihrer Ansicht nach erdrückender Beweislage einen Schuldspruch beantragt, um etwa auf ein möglichst geringes Strafmass hinzuwirken, obwohl die umfänglich aufgeklärte und beratene beschuldigte Person erklärt hat, sie wolle einen Freispruch verlangen. Anschaulich hat dies das Bundesgericht in BGE 138 IV 161 dargelegt. Die Rechtsbeistandschaft muss insofern dazu in der Lage sein, der Klientschaft im Innenverhältnis Paroli zu bieten, um zu gewährleisten, dass diese ihre Entscheidung nicht vorschnell, sondern in Kenntnis sämtlicher Tat- und Rechtsfragen bewusst trifft. Gleichzeitig muss die rechtliche Vertretung aber auch akzeptieren können, wenn die Mandantschaft nach gewissenhafter Beratung und allfälligen Streitgesprächen ihre Interessen anders definiert, als es ihre Rechtsbeistandschaft tun würde.
Über welche Eigenschaften sollte ein Gerichtsschreiber verfügen?
Wer diese Tätigkeit ausüben möchte, sollte – wie es der Name schon sagt – gerne schreiben. Es braucht eine gewisse Freude daran, komplexe Fragen in strukturierter Weise zu Papier zu bringen. Zudem sollte man gerne lesen, zumal nicht selten umfangreiche Akten zu sichten sind und man auf dem neusten Stand von Lehre und Rechtsprechung bleiben sollte.
Mit welcher Person aus dem Bereich des Strafrechts (aktuell oder historisch) würden Sie gerne für einen Tag die Rollen tauschen?
Einen Rollentausch für einen Tag würde ich mir nicht wünschen. Interessant fände ich es aber, einmal einen Einblick in einen Strafprozess aus dem Rechtskreis des common law zu bekommen und dabei der Verteidigung oder der Staatsanwaltschaft über die Schulter zu schauen. Spannend fände ich es insbesondere, der Vorbereitung und Durchführung eines Kreuzverhörs beizuwohnen und zu erfahren, welche konkreten Unterschiede zu Befragungen in unserem Rechtskreis bestehen.
Haben Ihre Erfahrungen mit dem Strafrecht Sie bzw. Ihre Sicht auf Menschen verändert?
Es fand jedenfalls keine schlagartige Veränderung aufgrund eines bestimmten Ereignisses statt. Vermutlich dürfte mich die Beschäftigung mit dem Strafrecht im Laufe der Jahre aber schon beeinflusst haben. Sicher habe ich durch die Strafrechtsdogmatik gelernt, Probleme strukturiert anzugehen, und dass am Ende der Auseinandersetzung mit einer Frage oftmals verschiedene vertretbare Ergebnisse stehen. Insofern hat mir das Strafrecht auch verdeutlicht, dass es zwischen den Polen von Schwarz und Weiss eine Vielzahl an Grautönen gibt und für komplexe Fragen keine einfachen Antworten existieren. Dies bestätigt sich auch laufend im Rahmen meiner praktischen Tätigkeit. Demgegenüber glaube ich nicht, dass sich meine Sicht auf die Menschen aufgrund meiner Beschäftigung mit dem Strafrecht grundlegend gewandelt hat.
Machen Strafen Menschen zu besseren Leuten?
Wenn damit Menschen gemeint sind, die keine Straftaten begehen, habe ich Zweifel. Zumindest zeichnet die kriminologische Forschung zur spezialpräventiven Wirkung von Strafen ein eher ernüchterndes Bild. Darüber hinaus lässt sich im Sinne der (negativen) Generalprävention weder be- noch widerlegen, ob das Bestehen von Strafnormen die Bevölkerung allgemein von Straftaten abschreckt. Jedenfalls gibt es heutzutage soweit ersichtlich wohl keine mit unserer Gesellschaft vergleichbaren Gemeinschaften, die über kein Strafrecht verfügen und für eine derartige Überprüfung herangezogen werden könnten. Ob im Übrigen Menschen, die Delikte lediglich aus Furcht vor Bestrafung nicht begehen, weniger «gut» sind als jene, die aus Überzeugung nicht delinquieren, ist eine moralische Frage, die das Strafrecht nichts angeht.
Wenn Sie die Möglichkeit hätten, was würden Sie ändern (Strafnormen, Strafsystem, Prozess etc.)?
Im materiellen Strafrecht würde ich beispielsweise den Tatbestand der Beschimpfung abschaffen oder zumindest zu einer Übertretung herabstufen. Es erscheint mir nicht sachgerecht, dass eine Ohrfeige als Tätlichkeit (zu Recht) einzig mit einer Busse bestraft wird, während eine verbale Beleidigung als Vergehen geahndet wird, was zwingend einen Strafregistereintrag nach sich zieht. Im Prozessrecht würde ich alternative Streiterledigungsmodelle im Sinne einer «Restorative Justice» einführen, wie dies im Rahmen eines laufenden Gesetzgebungsverfahrens auch zurzeit vom Parlament geprüft wird. Die empirische Forschung zu «Restorative Justice» spricht deutlich dafür, dass derartige Verfahren sowohl der Tatverarbeitung durch die Opfer als auch der Verringerung des Rückfallrisikos der Täterschaften besser als das herkömmliche Strafverfahren zu dienen vermögen, sofern und soweit sich die Parteien ernsthaft auf einen solchen Prozess einlassen.
Sie haben sich in Ihrer im letzten Jahr abgeschlossenen Dissertation mit der Rolle der Privatklägerschaft befasst. Wie beurteilen Sie deren Einbettung in der aktuellen Strafprozessordnung?
Ich habe mich in meiner Dissertation auf die Strafklägerschaft konzentriert, das heisst auf die Rechte der geschädigten Person im Hinblick auf den Schuldpunkt des Strafverfahrens. Dabei habe ich mich primär auf die Rechtsmittel- und -behelfsrechte der Strafklägerschaft fokussiert. Insofern habe ich mich nicht mit sämtlichen Aspekten der Privatklägerschaft befasst. Was das Recht zur Strafklage angeht, ist es nach meinem Dafürhalten im Grundsatz richtig, der (mutmasslich) durch ein Delikt verletzten Person (auch) im Hinblick auf den Schuldpunkt gewisse Verfahrensrechte einzuräumen. Dies gilt meines Erachtens während des Vor- sowie des gerichtlichen Hauptverfahrens vor erster Instanz für sämtliche Geschädigten. Angezeigt wäre es aus meiner Sicht aber, die Berechtigung der geschädigten Person, die nicht Opfer ist, zur Führung von einzig und allein auf den Schuldpunkt gerichteten Rechtsmitteln und Rechtsbehelfen abzuschaffen. Wenn zusätzlich adhäsionsweise Zivilforderungen geltend gemacht werden, mag die Frage der Rechtsmittel- und -behelfslegitimation einfach Geschädigter im Schuldpunkt möglicherweise anders zu beurteilen sein. In meiner Dissertation bin ich dieser Frage jedoch nicht nachgegangen, weil dadurch deren Rahmen gesprengt worden wäre. Wer sich für die Einzelheiten interessiert, ist herzlich eingeladen, einen Blick in die Arbeit zu werfen. Sie sollte spätestens Ende November dieses Jahres auf der Internetseite des sui-generis Verlages als Open Access-Publikation zugänglich und zudem in gedruckter Fassung über den Buchhandel verfügbar sein. In der Dissertation finden sich übrigens auch einige Überlegungen zur vorstehend angesprochenen «Restorative Justice».
Marco Belser | legalis brief StrR 19.11.2025