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VORGESTELLT

Inês Schranz-Jardim – «Die allgemeinen Formulierung vieler Gesetze werden den individuellen Situationen in den Familiensystemen oft nicht gerecht.»

Familienrecht, Mediation

Multikulturalität ist ein zentrales Thema im Leben von Inês Schranz-Jardim. Sie ist Enkelin von italienischen, spanischen und portugiesischen Migrantinnen und Migranten, deren Vorfahren nach Brasilien ausgewandert waren. In Brasilien hat sie Betriebsökonomie studiert und für eine Staatsbank gearbeitet. Ihr Mann ist Schweizer, den sie im Jahr 1987 während eines Sprachaufenthalts in London kennenlernte. Er hatte sich entschieden mit ihr in Brasilien zu leben und hat eine schweizerische Berufstätigkeit in Verbindung mit Südamerika und vielen Reisen übernommen. Das neue Familienleben zwischen zwei Kontinenten war für die junge Familie nicht einfach. Sie wollte jedoch ihre gute Arbeitsstelle nicht aufgeben. Als die Tochter das Schulalter erreichte musste eine wichtige Entscheidung getroffen werden: Wo sollte die Tochter die Schule besuchen? Nach allen Pros- und Contras hat die Familie sich für die Schweiz entschieden.

In der Schweiz hat Inês Schranz Französisch und Deutsch gelernt und in verschiedenen sozialen Projekten gearbeitet. Nach einer Ausbildung als interkulturelle Dolmetscherin unterstützte sie Menschen in vielseitigen psychosozialen Fragen. Die für sie erfüllende Aufgabe führte zur Entscheidung, Soziale Arbeit zu studieren. Nach einem Bachelorstudium in Sozialer Arbeit an der Fachschule FHNW in Olten war sie als Beraterin in einem Frauenhaus und bei der Beratungsstelle Opferhilfe für die Kantone Aargau und Solothurn tätig. Später hat sie ein Masterstudium in Sozialer Arbeit an der Hochschule Luzern absolviert und sich auf Familienmediation spezialisiert. Frau Schranz engagiert sich für Menschen in schwierigen Lebensphasen und erlebt ihren Beruf als eine Berufung.

Welche Verbindung haben Sie zum Familienrecht?

Ich arbeite seit März 2017 bei der Fachstelle für persönliche Beratung (FpB) in Rheinfelden und bin als psychosoziale Beraterin in der Abteilung Frauenberatung tätig. Unsere Fachstelle ist im Gemeindeverband Sozialbereiche Bezirk Rheinfelden (GSBR) angegliedert. Wir beraten und begleiten Einzelpersonen, Paare und Familien in der Vielfalt der sozialen Problemstellungen, die im Verlauf der Entwicklung auftreten können. Wir stärken und unterstützen Menschen bei der Bewältigung von aktuellen Herausforderungen. Themen wie Partnerschaft und Familie, Selbstbestimmung, Konfliktlösungen, Gesundheit, Alleinerziehende Eltern und Neuorientierung gehören zu unserer täglichen Arbeit.

Die interdisziplinäre Zusammenarbeit mit dem Helfernetz wie Opferhilfe, Ärzten, Psychologen, Anwälten und dem Familiengericht ist Bestandteil des Aufgabebereichs. Das Angebot von «Persönlicher Hilfe», auch «Immaterielle Hilfe» genannt, ist im Gesetz 851.200, § 8 der Sozialhilfe und im Präventionsgesetz-SPG des Kantons Aargau verankert und ist die Leitlinie unseres freiwilligen Beratungsangebot. Die praktische Umsetzung im Kontext ressourcenorientierter Beratung zeigt Klarheit für Klientinnen und Klienten sowie für das Sozialnetz in Hinblick einer bestmöglichen Lösung. Im Jahr 2022 haben wir in der Frauenberatung ein Total von 142 Frauen und deren Kinder sowie weibliche Jugendliche beraten und begleitet.

Ein weiterer Bereich auf der Fachstelle ist die Arbeit für Behörden. Themen, die bearbeitet werden, sind Abklärungen, angeordnete Beratung, Pflegeplatzaufsicht, Unterstützung für Platzierung, Erziehungsbeistandschaft und Erziehungsaufsichten für Kinder im Auftrag des Familiengerichts.

Was sind Ihre alltäglichen Herausforderungen?

Unser vielseitiges Beratungsangebot fordert uns täglich heraus und dadurch sind meine Arbeitstage bunt gefärbt. Kein Tag ist wie der andere, diese Lebendigkeit verleiht mir Motivation und Freude an der täglichen Arbeit. Ich berate und begleite Klientinnen, welche sich in herausfordernden Lebenssituationen befinden. Die Themen reichen von Beziehung, Trennung und Scheidung, Familienkonflikte, häusliche Gewalt, Mobbing, Stalking, psychische Gewalt bis hin zum beruflichen Wiedereinstig in die Arbeitswelt und Neuorientierung. Eine der vielen Herausforderungen ist die Unterstützung bei Kriseninterventionen, bei Klärungen von Konflikten oder Entscheidungs- und Veränderungsprozessen. Diese werden sorgfältig mit Klientinnen besprochen und Ziele für Lösungsstrategien gesucht und in die Wege geleitet.

Gibt es Anekdoten aus Ihrer Tätigkeit?

Immer wieder erlebe ich Situationen, welche mich zur Selbstreflexion bringen. Ob ich diese rhetorisch als Anekdote oder als Erfahrungswerte, im Hinblick auf neue Perspektiven erzähle, lasse ich hier offen.

Drei Beispiele:

  • Eine junge Mutter sucht Hilfe für eine Eheschutzmassnahme Aufgrund weiderholter häuslicher Gewalt. Ich habe mit ihr alle nötigen Schutzmassnahmen installiert. Ihr Mann hat die Familienwohnung verlassen, und das Gericht hat die Obhut und Betreuung der Kinder geregelt. Dieser Lösungsweg war für ihren Mann nicht ertragbar und er rief mich an und sagte, ich sei für sein Unglück und auch für das Unglück seiner Kinder verantwortlich. Die Betreuungsregelung verlief nicht wie geplant, Kinder würden durch den Vater instrumentalisiert und die Mutter konnten die Trennung nicht mehr verkraften. Schliesslich, unter Einhaltung einiger Bedingungen, hat sie sich bereit erklärt ihrem Mann eine Chance zu geben. Das Paar kam für ein Mediationsgespräch. Der Mann hat sich für seine Taten gegenüber seiner Frau entschuldigt und versprochen, keine Gewalt mehr anzuwenden. Die Bedingungen wurden besprochen und schriftlich als «Vereinbarung für ein gewaltfreies Zusammenleben» verfasst und unterzeichnet. Einige Monate später kam der Frau mit der Bitte, die Trennung fortzusetzen.
  • Während mehreren Jahren habe ich eine Frau mit Kindern in einer Trennung beraten und begleitet. Trotz der Komplexität des Konfliktes, war die Frau stets dankbar und offen für neue Lösungsansätze, obwohl sie die vorgeschlagenen Lösungen häufig ablehnte. Der Kindsvater kontaktierte mich und machte mich darauf aufmerksam, dass die Kindsmutter mich und die Beratungsstelle für viele der Probleme verantwortlich machte. Die Frau erklärte mir darauf, wie frustriert und unglücklich sie mit der Situation war und dadurch sah sie keinen anderen Ausweg als mich und die Beratungsstelle gegenüber dem Kindsvater schlecht darzustellen.
  • Als ich eines Tages mit meinem Mann auf dem Weg in die Berge war, suchten wir den Restaurantwagon für einen Kaffee auf. Die Wagon-Wirtin erkannte mich und ohne ein Wort zu sagen kam sie mit einem fröhlichen Gesicht zu mir und umarmte mich fest, vor allen Gästen im Wagon. Alles ging so schnell, dass ich sie auf den ersten Blick nicht erkannte. Dann schaute sie zu meinem Mann und sagte ihm, «ich möchte euch beiden einen Kaffee spendieren. Sie sagt meinem Mann: «Dank ihrer Unterstützung hat sich mein Leben verändert und ich bin Frau Schranz unendlich dankbar».

Wenn Sie die Möglichkeit hätten, etwas am Familienrecht ändern zu können, was wäre das?

Ich erlebe immer wieder Fälle von Rechtsstreitigkeiten zwischen Eltern, in bei Gerichtsentscheiden mehr Gewicht für juristische Regelungen gegeben werden als für psychologische- und sozialpädagogische Vorschläge oder/und Interventionen.

So kommt es vor, dass über Jahre mit viel Aufwand von allen Behörden ein Kontakt zwischen einem Kind und einem Elternteil aufgebaut wird, die Eltern sind hochgradig zerstritten, dann aber von Seiten des Gerichts ein Umzug des betreuenden Elternteils mit den Kindern bewilligt wird. Wenn dann Unklarheiten bezüglich der Zuständigkeit der KESB am neuen Wohnort bestehen, kann über Monate hinweg der Kontakt des nichtbetreuenden Elternteils und dem Kind zum Erliegen kommen. Selbst wenn bereits vor dem Umzug die involvierten Sozialarbeiter und Psychologinnen davor warnten, dass der Umzug zu einem Kontaktunterbruch führen könnte und dieser gestützt auf die fragilen Verhältnisse unbedingt zu vermeiden ist.

Die aktuelle Interdisziplinäre Zusammensetzung ist eine wichtige Ausganslage. Mein Wunsch wäre, dass weitere Professionelle, wie Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter des Amts für Erwachsenen- und Kindesschutz sowie psychologische Fachpersonen das Interdisziplinarische Team zusätzlich verstärken. Diese wären ein Gewinn für Familien in Streitigkeiten und würden die Effektivität noch verbessern.

Welches wäre Ihr wichtigster Tipp in familienrechtlichen Verfahren?

Eine enge und schnelle Zusammenarbeit mit dem Helfersystem der Klientinnen und Klienten, in dem die psychosozialen Aspekte systemisch ausführlich geklärt sind, wäre eine Win-Win-Situation für Klientinnen und Klienten und für alle involvierten Professionellen.

Die Zeitachsen der Entscheidungen zu beschleunigen könnte sich für die Familien positiv auswirken. Die meisten Fälle, die zu uns kommen, beginnen mit einer Gefährdungsmeldung. Nach Erhalt einer Gefährdungsmeldung wird unsere Fachstelle beauftragt, die Situation abzuklären und dem Familiengericht Bericht zu erstatten. Für diese Abklärung kontaktieren wir die betroffenen sowie involvierten Personen aus den Familiensystemen. Da eine Abklärung bei uns schon als Intervention behandelt wird, brauchen wir drei Monate bis wir den Bericht mit Empfehlung ans Gericht schicken. Dann gibt es eine Wartezeit, bis der Gerichtsentscheid zu uns zurückkommt. Hier wäre es für die Klientinnen und Klienten wünschenswert, ohne Zeitverzug eine Entscheidung zu erhalten, damit die empfohlenen Massnahmen zeitnah ungesetzt werden können.

Wenn wir die Leute für einen Veränderungsprozess nicht gewinnen können, wird es nach längerem Warten noch schwieriger, sie für einen gütlichen Lösungsweg ins Boot zu holen.

Auf der Fachstelle haben wir in den letzten fünf Jahren eine Zunahme im Bereich «Arbeit für Behörden» festgestellt (2017: 149 Mandate, 2022: 219 Mandate). Zu beobachten war, dass die Stellenprozente bei den Familiengerichten praktisch identisch geblieben sind. Aus unserer Sicht könnte die Folge daraus sein, dass die Familiengerichte zu wenig Zeit haben, sich mit den einzelnen Fällen intensiv befassen zu können und es zu längeren Wartezeiten führt, bis ein Entscheid getroffen wird.

Was sind Ihrer Meinung nach die grössten Stärken und Schwächen im Schweizer Familienrecht?

Die Gesetze werden grundsätzlich allgemein verfasst und für den Grossteil der Bevölkerung der Schweiz sind diese auch ausreichend. Die Familiengerichte und wir kommen bei unserer Arbeit fast ausschliesslich mit den Menschen in Kontakt, bei denen die Gesetze zu allgemein formuliert wurden. Die Schwierigkeit aus unserer Sicht ist, dass die allgemeine Formulierung der individuellen Situationen in den Familiensystemen nicht gerecht wird.

Beispiele:

Gemeinsames Sorgerecht

  • Bei hochstrittigen Eltern erleben wir, dass das gemeinsame Sorgerecht zwischen den Eltern als Waffe eingesetzt wird und nicht zielführend wirkt. U.a. werden Unterschriften für Passverlängerungen oder Auslandsreisen nicht erteilt, Behandlungen können nicht wie geplant durchgeführt werden, Fotos der Kinder von der Schule dürfen nicht veröffentlicht werden. Für die Beantragung des alleinigen Sorgerechts benötigt es viele Argumente/Ereignisse, dass dieses vollzogen wird. In der Praxis hat sich gezeigt, dass die Beantragung des alleinigen Sorgerechts kaum bewilligt wird.

Besuchsrecht

  • Ebenso zeigt es sich in der Umsetzung vom Besuchsrecht. In einem Entscheid wird die Regelung festgehalten und kann in der Praxis aber nicht umgesetzt werden. Oftmals stehen Konflikte von der Paarebene im Zentrum und dies wirkt sich auf die vereinbarten/festgelegten Besuche negativ aus.

Ein anderer Aspekt ist aus meiner Sicht die Prozessführungsstrategie. Viel Gewicht auf der juristischen Ebene und wenig Beachtung für psychosoziale Strategien. Das Fallbeispiel mit Obhut beim Vater zeigt, wie nach einer langen und sorgfältigen Arbeit auf psychosozialer Ebene, ein abrupter Rückschritt durch eine juristische Entscheidung die Arbeit für die Wiederherstellung der Mutter-Kinder Beziehung unterbrochen wurde. Das geplante Ziel der alternierenden Obhut wirkt plötzlich nicht mehr realistisch und das kann langfristig zu einem Schaden im Sinn einer gesunden Mutter-Kinder Beziehungsentwicklung führen.

Welche ist Ihrer Meinung nach die grösste Herausforderung im Schweizer Familienrecht in den kommenden 10 Jahren?

Die Gesellschaft wird komplexer und wir schätzen, dass es mehr Gefährdungsmeldungen geben wird. Das Familiengericht und die KESB sollen von Konfliktfällen entlastet werden. Ein interessanter Ansatz für den Kanton Aargau als Zukunftsaussicht wäre ein Konzept in Anlegung an das Projekt der Guido-Fluri-Stiftung, welches zurzeit im Kanton Bern als Pilotprojekt läuft. Ein «Zentrum für Familien in Trennung». Eltern in der Trennungsphase sollen gemeinsam unterstützt werden, um tragbare Lösungen für die Kinder zu finden. Zu diesem Zweck können die Behörden obligatorische Beratungssitzungen, in einem gewissen Zeitraum anordnen. Ein Beratungsteam ist dafür zuständig und soll aus einem interdisziplinarischen Gremium bestehen. Der Vorteil hierbei wäre, dass gemeinsam eine Lösung für nach der Trennung gefunden werden kann, welche fruchtbarer ist, als wenn sie vom Gericht festgelegt wird.

Rosa Renftle | legalis brief FamR 17.10.2023